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Wissen was Weltkunst ist

– III –

Links: Otto Dix: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Fritz Steisslinger: Selbstportrait, 1916, Öl/Lwd., 41,2 x 33,7 cm, Nachlass Fritz Steisslinger, Böblingen
Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

Von Künstlern im Krieg

oder vom Sieg des Extremismus über den Humanismus in der Kunst

Otto Dix wurde 1891 in Gera geboren. Er hatte schon früh ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein – legendär sein Spruch: „Entweder ich werde berühmt oder berüchtigt.“ – Ihm ist im Laufe seiner Karriere beides gelungen.

Dix wurde im August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Ersatzreservist eingezogen, war aber erst ab Herbst 1915 an verschiedenen Fronten im Einsatz. Er bewies sich im Kampfgeschehen als überaus robust, erhielt 1915 das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde als Vizefeldwebel aus dem Krieg entlassen.

Für Dix war die Teilnahme am Krieg – wie für Max Beckmann – weniger eine patriotische Pflicht. Er verstand sie, wie er später rückblickend darlegte – vielmehr als Verpflichtung seiner Kunst gegenüber: als Herausforderung, die Welt und das Leben mit all seiner Gewalt und seinen Abgründen als Ganzes zu erleben und zu erfassen, und er versprach sich davon Impulse für die Entwicklung seiner Kunst und seiner Ausdrucksmittel. In einem späten Interview sagte er dazu:

„Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen […] Alles muß ich sehen. Alle Untiefen des Lebens muß ich selbst erleben, deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich überhaupt freiwillig gemeldet.“

Otto Dix, Gespräch mit Freunden am Bodensee, Dezember 1963, zit. n. Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1978, S. 237

Die Erfahrung des Krieges verarbeitet Dix unmittelbar in seinem Werk. Stilistisch dem Expressionismus folgend, präsentiert er sich in seinem Selbstbildnis mit Artilleriehelm als eine zeitgenössische Version des Mannes mit dem Goldhelm von Rembrandt bzw. aus dessen Umkreis. Hier wie dort dominiert ein plastisch dekorierter Helm ein darunter zurücktretendes Gesicht – hier statt des alten Mannes ein Jüngling mit skeptisch fragendem Blick, steif und unsicher in der Haltung.

Die Spannung zwischen der Zurückhaltung im Habitus und der glühenden Farbigkeit mag das Schwanken des Künstlers zwischen seinem selbstgewissem individuellen Erlebenshunger und dem Unwohlsein angesichts der Unterwerfung unter ein ihm fremdes Regiment zum Ausdruck bringen – er ist hier offensichtlich nicht allein, sondern steht in einer Reihe mit anderen Soldaten.

Dieses Selbstbildnis stammt aus der Zeit des Beginns seines Militärdienstes. Einen Eindruck davon, wie es dem Künstler mit dem Krieg ergehen sollte, erhält man, wenn man das Bild umdreht und die Rückseite anschaut:

Links: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, recto
Rechts: Selbstbildnis als Soldat, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, verso

Von blutroten Farbfetzen umschwirrt, den Helm abgeworfen, ohne Haare, den kahlen Schädel mit dem wulstigen Gesicht vorgestreckt, begegnet uns eine ungestüme und rohe Gestalt – des Menschlichen völlig entledigt, ein offenbar in die Enge getriebenes wildes Tier, schwankend zwischen Angst und Aggression – bedrängend selbst die wie ein Brandmal gesetzte riesige Signatur im Nacken des Künstlers. –

Insgesamt ein getreues und daher erschreckendes Abbild der Brutalität und Grausamkeit des Krieges – jenes von Dix benannten „entfesselten Zustands“, der offensichtlich die dünne Haut der Zivilisation vom animalischen Leib des Menschen gezogen hatte.

Mit den Worten von Siegmund Freud, der bis dahin dem Prozess der Zivilisation optimistisch gegenüber stand, damals wählte, um den Eindruck zu beschreiben: Die Menschen seien wohl doch

„nicht so tief gesunken, wie wir fürchteten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir von ihnen glaubten.“

Siegmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915.

Der Zerstörungstrieb, der im Chaos endet, ist überall am Werk. Er ist zugleich ein Signum der Epoche. Diese im eigenen Erleben vollständig zu erfassen, war das Ziel von Dix – und während seiner Kriegsjahre versuchte er unablässig eine bildnerische Sprache dafür zu finden. Etwa 600 Zeichnungen sind aus knapp drei Kriegsjahren überliefert. Darunter eine größere Zahl gemalter Deckfarbenbilder.

Oben links: Otto Dix: Sterbender Krieger, Gouache, 1915 – rechts: Leuchtkugeln, Gouache, 1917
Unten links: Schützengraben, Gouache, 1917 – rechts: Krieger mit Pfeife, Goouache, 1918

Im Überblick lassen sich nur wenige davon als Antikriegs-Bilder erkennen. Es scheint vielmehr so, als gebe sich Dix – ganz im Sinne seines Vorhabens – mit offenen Sinnen dem Erleben als solches hin – ohne Vorbehalt und Vorurteil – aber voller Spannung und Erregung – und diese schlägt sich unmittelbar in all seinen Blättern aus der Zeit nieder.

Die Ereignisse des Krieges ließen Dix auch nach dessen Ende lange nicht los. Im Jahr 1924 veröffentlicht er eine Folge von Radierungen mit dem Titel Der Krieg, in der er seine Erlebnisse noch einmal ausführlich verarbeitet:

Otto Dix: Der Sturmtrupp geht unter Gas vor, aus der Grafikfolge der Krieg, 1924

Die Blätter unterscheiden sich thematisch und formal deutlich von seinen Zeichnungen aus den Kriegsjahren. Für die Zeichnungen wählt er eher allgemeine Titel, wie Soldat, Volltreffer, Handgemenge, und konzentriert sich auf exemplarische Momente des Phänomens Krieg als solchem – er sieht im Besonderen Moment das Allgemein Charakteristische – und dies hilft ihm offensichtlich angesichts des Geschehens innere Distanz zu wahren.

In den Radierblättern hingegen springt einen das Einzelne, das Faktische an – sie sind dem individuellen Grauen im Kriegsgemenge viel näher, hier finden sich zerfetzte Leichen oder wurmzerfressene Kadaver – es scheint, als habe dieses in Dix nachgewirkt und er dafür erst nach längerer Zeit eine Ausdrucksform gewonnen.

Mit der Wahl seiner Motive und Formensprache schafft Dix das zeitgenössische Pendant zu den Radierfolgen mit Schrecken des Krieges von Jacques Callot aus dem Dreißigjährigen Krieg und den einhundert Jahre zuvor geschaffenen Desastres de la Guerra von Francisco Goya – womit über die biographische Stellung des individuellen Werkes hinaus explizit die historische und die kunsthistorische Dimension in die Folge einbezogen wird. Dix weist im Rückblick auf seine entscheidende Erkenntnis hin:

„Goya, Callot, noch früher Urs Graf, von ihnen habe ich mir Blätter in Basel zeigen lassen – das ist großartig… wie sich die Materie Mensch auf dämonische Weise verändert.“

Hans Kinkel: Vierzehn Berichte. Begegnungen mit Malern und Bildhauern, Stuttgart 1967, S. 75

Dix ist einer der wenigen Künstler, die auch noch Jahre später die elenden Folgen des Krieges für die kriegsversehrten Soldaten während der Weimarer Republik, am Anfang der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre drastisch thematisierte.

Links: Otto Dix: Prager Straße, 1920, Öl/Lwd., 101 x 81 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Otto Dix: Der Streichholzhändler, 1920, 141,5 x 166 cm, Staatsgalerie Stuttgart

Mit der Radierfolge Der Krieg und den versehrten Kriegsveteranen wird Dix zu dem Antikriegskünstler, als der er in der Folgezeit wahrgenommen wurde, der er aber in seinen Zeichnungen aus Kriegstagen noch längst nicht war.

Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen…

Interview mit Otto Dix, „Über Kunst, Religion und Krieg“, Dezember 1963

Dix gilt heute als bedeutendster Künstler zum Thema des Ersten Weltkriegs, was sowohl die Menge der Werke als auch ihre Themen und Ausdrucksmittel betrifft. Ein immenses Werk, unmittelbar, drastisch, erschreckend, grausam – ganz so wie der Krieg selbst für die Teilnehmer war.

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Er schuf eine extreme Kunst für ein extremes Zeitalter. In beiden scheiterte die Humanität bzw. sie wurde zur Strecke gebracht. Dass er diesen Umstand so rücksichts- und schonungslos in immer neuen Variationen ausbreitet, sieht Dix selbst als sein besonderes Verdienst und gilt als herausragendes Charakteristikum seiner Kunst und macht daher in der Tat seinen historischen Rang aus.

Eine völlig andere Haltung in diesen Dingen nimmt der im selben Jahr 1891 wie Dix geborene Fritz Steisslinger mit seinem Denken und seinem Werk ein. (Ausführliche Informationen zu Leben und Werk finden sich auf www.fritz-steisslinger.de.)

Steisslinger hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Er kehrte dazu eigens aus Venedig zurück, wo er bis dahin lebte und wirkte. Er diente als Artillerist, Beobachter, Melder und Batterieführer, 1915 an der Ostfront, ab 1916 Westfront und wurde mehrmals schwer verwundet – erfuhr nach anfänglichem Optimismus die Grauen des Krieges, dieser sei:

„schrecklich […], blutig, grausam“, aber: „Am meisten ist er doch erbärmlich. Und darum eben grausig, grausig […] ein einziger Friedhof, scheußliche Katakombe. Eine Wollust des Ekels.“

Fritz Steisslinger ist – soweit bekannt – der einzige Künstler, von dem nachweislich Ölbilder aus den Quartieren und Unterständen vor Ort erhalten sind. Es handelt sich um kleine Ölstudien und Skizzen.

Links: Fritz Steisslinger: Zwei Soldaten am Ausgang eines Unterstands, um 1916/17, Öl/Lwd., 26,5 x 14,5 cm
Mitte: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl /Lwd., 10,3 x 10,4 cm
und: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl/Lwd., 15 x 12 cm
Rechts: Fritz Steisslinger malt im Unterstand umringt von Kameraden, 1916, Fotografie

Über das Malen im Krieg sinniert Steisslinger in seinem Tagebuch am 5. März 1916:

„Den Tag war’s ruhig. Ich habe eine Skizze vom Unterstand gemacht, Bausch und Möbius als dekorierende Kanoniere.“

Fritz Steisslinger: Kriegstagebuch, Nachlassverwaltung Fritz Steisslinger, Böblingen

und zwei Wochen später:

„Heut Früh ein Portrait des Hauptmanns angefangen. Untermalt in einer Stunde“ und kommentiert weiter: „Gemalt, wie das klingt! Wie mitten im Frieden. Ziemlich weit bin ich gekommen und morgen früh komme ich in die Feuerstellung und der Hauptmann.“

Ebenda

Als er einige Tage später fertig ist, schreibt er:

„Portrait fertiggemacht. Danach sind sie drum herumgetanzt. Grossartig – Tadellos!“

Ebenda

In solchen privaten Äußerungen dokumentiert sich der Irrsinn dieses Krieges – aber kaum in Steisslingers Bildern – denn: das Bemerkenswerte an seinen Ölskizzen ist, dass sie keine Kampfhandlungen zeigen und keine dramatischen Ereignisse. Er malt v. a. die Kameraden und ihren Alltag beim Harren im Unterstand. Allenfalls ein „Soldat auf der Lauer“ verweist unmittelbar auf Kriegsereignisse oder einige Skizzen mit Bränden und Zerstörungen in Dörfern als Folgen des Krieges:

Oben v.l.: Fritz Steisslinger: Ruinen, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12 x 9,2 cm – Brandherd zwischen Häusern, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12,5 x 10,6 cm – Zerstörte Häuser im Dorf, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 10,4 x 15,4 cm
Unten: Zwei Soldaten am Unterstand, um 1916, Öl/Lwd./Pappe, 13 x 24,3 cm

Ansonsten gibt es noch eine Tusche-Zeichnung zum Neujahr 1918:

Fritz Steisslinger: Ich wünsche Dir nur im Neuen Jahr, es sei nicht schlimmer als das alte war, 1917, Tusche, 9,5 x 14,4 cm

Das ist alles, ansonsten nichts vom Schrecken und Sterben im Krieg – wie es uns drastisch Dix oder Beckmann vorführen. Diese gibt es auch bei ihm, aber nur in seinem privat gebliebenen Tagebuch! Solche Schilderungen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt – warum, das begründet er in einem Brief an seinen Sohn Hans im Zweiten Weltkrieg, in dem der Vater und seine drei Söhne, von denen er zwei verlieren sollte, dienten:

„… Wir sind zwei Kriegsgenerationen schlechthin.
Wenn ich mir in Erinnerung zurückrufe meine eigenen Bedrängnisse während des letzten Krieges (1914–1918), so kommt es mir vor, als erlebte ich nach Deinem Bericht alles nochmals.

Dabei habe ich auch in diesem Krieg wieder etwas mitgetan und viel Kampf und Elend in jeder Form erlebt. Fast 8 Jahre war ich Front- oder Kriegssoldat. […]
Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten. Ich habe es ein ganzes Leben lang niemals in seiner ganzen Nacktheit von mir gegeben – – – selbst dann nicht, wenn damit ein gewisser Eindruck zu meinen Gunsten hätte erzielt werden können.
Wie in meiner Malerei […] habe ich in jeder Hinsicht und vor allem in der als Mann, möglichst immer das gesagt und getan, was für die von mir geschützte oder gar geliebte Umwelt gerade noch erträglich sein konnte. Was unter dem Strich lag, hat mich nie interessiert.“

Brief an den Sohn Hans, 19. September 1943

Steisslinger war zwar jederzeit kompromisslos in seiner künstlerischen Haltung gewesen, doch den Zynismus der Welt im Bild zu spiegeln, ihn gar zu überzeichnen und übersteigern, wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz es getan haben, und die Abgründe des menschlichen Seins vorzuführen, das war ihm fremd.

Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten.

Fritz Steisslinger

Für Dix ist so etwas eine spießbürgerliche Hemmung, für Steisslinger ein Gebot der Humanität. Ein größerer Gegensatz in den Haltungen lässt sich kaum denken. Die Kunstgeschichtsschreibung ist in ihrem Urteil Dix gefolgt und hat sich bis heute mit ihm auf die Seite der extremen Entblößung extremer Gewalt geschlagen – die Diskretion, wie sie Fritz Steisslinger mit seiner Haltung und seinen Werken verkörpert, steht auf verlorenem Posten. Ein Umstand, über den sich nachzudenken lohnt.

— Fortsetzung folgt —

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Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– II –

Links: Gabriele Münter: Selbstbildnis, 1935
Rechts: Maria Caspar-Filser: Die Malerfamilie, 1939 (Ausschnitt)
Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich

Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

oder vom Glück das richtige Opfer zur rechten Zeit im richtigen Umfeld zu sein sowie vom Schaden offensichtlich bürgerlicher Verhältnisse und der falschen Religion für Künstler der Avantgarde

Zwischen den beiden Weltkriegen war Maria Caspar-Filser (1878–1968) die berühmteste lebende deutsche Malerin. Die in Riedlingen im Landkreis Biberach geborene und seit 1907 in München lebende Maria Caspar-Filser zählte 1913 als einzige Frau zu den Gründungs-Mitgliedern der Münchener Neuen Secession und wurde 1925 als erste deutsche Malerin überhaupt zur Professorin ernannt – damit stand sie neben Käthe Kollwitz, die bisher als einzige Bildhauerin den Titel erhalten hatte. Es folgte die Zeit ihrer höchsten Anerkennung, mit internationalen Ausstellungen, mehreren Beteiligungen an der Biennale in Venedig.

Dann kam der Bruch durch die nationalsozialistische Verfemung, die schon 1928 einsetzte und von der sich ihre Rezeption bis heute nicht befreit hat. Stattdessen wird heute immer, wenn von großen deutschen Malerinnen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, an erster Stelle Gabriele Münter (1877–1962) genannt – wie kam es dazu und ist das berechtigt?

Zwar war Gabriele Münter vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Beteiligung an den Ausstellungen des Blauem Reiters ebenfalls mitten im Geschehen und ihr malerisches Werk der Zeit teilt in der Reduktion gegenständlicher Formen sowie dem Einsatz summarischer Farbflächen wesentliche Aspekte der Kunst dieser avantgardistischen Bewegung, doch sowohl im Hinblick auf die künstlerische Eigenständigkeit als auch im Hinblick auf die Rezeption und die Position im zeitgenössischen Kunstleben nimmt sie keine zu Maria Caspar-Filser vergleichbare Position ein.

Zu den bemerkenswerten Besonderheiten von Caspar-Filsers Werk gehören ihre Schilderungen von Szenen aus dem Krieg schon kurz nach dessen Ausbruch.

Links: Maria Caspar-Filser: Abfahrt der Freiwilligen, 1914
Rechts: Maria Caspar-Filser: Marsch durch ein brennendes Dorf, 1914

Maria Caspar-Filser beteiligte sich — einmal mehr als einzige Frau — an der Gestaltung von Mappenwerken zum Ersten Weltkrieg, deren Verkauf der Behandlung von verwundeten Soldaten und Kriegsversehrten zugute kommen sollten. Sie sind zum einen aufgrund ihrer weiblichen Autorschaft von besonderem Interesse, zum anderen aber allein wegen ihrer Motivwahl und künstlerischen Ausführung. Caspar-Filser stellt hier anonyme Menschenmassen in eine sie dominierende Umwelt – in Motiv und Gestaltung wirken diese Darstellungen aktuell und modern.

Von besonderer Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft ist das Gemälde:

Maria Caspar-Filser: Das Schlachtfeld, 1914, Öl/Lwd., 34 x 48 cm

In Duktus und Dramatik erinnert es an Ludwig Meidners Apokalyptische Visionen von 1913. Mit seiner expressiven Steigerung des Geschehens ist es ein herausragendes Bild einer Künstlerin der Zeit. Nach dem Schlachten bleibt die geschundene und getötete Kreatur in der Natur zurück. Dieses Gemälde steht in gewisser Weise in ihrem Werk wie auch in ihrem künstlerischen Umfeld absolut singulär da. Es fängt die Unmittelbarkeit der Ereignisse ein – ohne dass sie selbst vor Ort war und das Kriegserlebnis geteilt hätte.

In den hier von Caspar-Filser gezeigten Werken manifestiert sich jener Dreischritt der Kriegserfahrung, der die dramatische Entwicklung der öffentlichen Stimmung charakterisiert:
1. Umjubelter Aufbruch
2. Konfrontation mit der unerwarteten Realität
3. Desillusionierung und Schrecken

Bei Münter findet sich praktisch nichts zum Thema, allenfalls können solche Darstellungen wie die hier eingefügte Klage als Reflex dieses dramatischen und epochalen Ereignisses gesehen werden.

Gabriele Münter: Klage, 1915, Öl/Lwd., 69,4 x 48,7 cm, Privatbesitz

Vergleicht man die Landschaftsgemälde der folgenden Jahrzehnte lässt sich die malerische Überlegenheit und tiefgehendere Reife in der Gestaltung Caspar-Filsers allenthalben erkennen.

Das gilt für die Zwanziger Jahre ebenso…

Links: Maria Caspar-Filser: Sestriere, 1925 / Rechts: Gabriele Münter: Blauer See, 1925

…wie in den Jahren der Unterdrückung:

Links: Maria Caspar-Filser: Septembermond, 1935
Rechts: Gabriele Münter: Olympiastraße, 1936

…oder die Nachkriegszeit, in der sich beide nicht mehr wesentlich verändern. Für die Stillleben beider ließen sich die Vergleiche fortsetzen. Wer nicht mit dem Vorurteil, dass Naivität und Kindlichkeit grundlegende Qualitäten avantgardistischer Malerei die Werke betrachtet, wird klar erkennen, wer hier die bessere Malerin ist.

Warum aber nun hat Caspar-Filser nach dem Krieg nicht mehr die gleiche Würdigung erfahren wie Münter und die anderen Expressionisten? Dazu lassen sich mindestens folgende Gründe anführen:

Erstens wegen ihrer ästhetischen Individualität, die sich keiner Richtung oder Gruppentendenz einordnen lässt.

Mit den historischen Bewegungen des Expressionismus in Deutschland hat ihre Malerei nur wenig gemein. Sie teilt weder den absoluten diesseitigen Subjektivismus des nördlichen Expressionismus, insbesondere der Brücke-Maler, noch die transzendental-esoterische Vergeistigung einiger Expressionisten des Blauen Reiters wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc. Bei ihr findet sich weder etwas vom Pathos des Menschlichen der einen, noch vom Pathos des Geistigen der anderen.

Ihre Kunst ist überhaupt vollkommen frei von jedem Pathos (worin sie sich von der ihres Mannes unterscheidet). Alles ist verankert im sinnlichen Erlebnis der sichtbaren, gegebenen und als solcher wahrgenommenen Gegenstandswelt. Ideologie sowie jegliche Parteinahme ästhetischer oder kunstpolitischer Art sind ihr vollkommen fremd.

Damit ist der zweite der Faktoren berührt, die der Rezeption des Werkes von Caspar-Filser nach dem Zweiten Weltkrieg in der Breite entgegenstanden, wie sie anderen Vertretern ihrer Generation zuteil wurde. Denn nach dem Krieg wurden zunächst und mit besonderer Vehemenz die programmatisch enger definierten Gruppierungen und Tendenzen der Moderne und Avantgarde sowie die einzelnen Künstler, die diesen angehörten, rehabilitiert und gewürdigt. Das waren die Künstlervereinigung Brücke, die Künstler aus dem Kreis des Blauen Reiters oder die Vertreter des Bauhauses.

Künstler, die solchen Gruppierungen angehörten, erfuhren allein aufgrund dieser Zugehörigkeit höhere Aufmerksamkeit und Würdigung als Künstler derselben Generation, die keiner dieser Gruppierungen angehörten. Für die Münchner Kunstgeschichte scheint dieses Rezeptionsverhalten besonders ausgeprägt, da sich sowohl im universitären wie auch im Museumsbetrieb eine extreme Fokussierung auf das Wirken Kandinskys und des Blauen Reiters als quasi eigentlicher und einziger legitimer Vertretung einer progressiven Münchner Moderne durchgesetzt hat, obwohl sich gerade hier allerlei unterschiedliche Künstlergruppen und -vereinigungen gründeten, die sich auch in einer lebendigen und durchauskomplexen Auseinandersetzung miteinander befanden.

Drittens ist im Zusammenhang mit den Avantgarde-Bewegungen richtig festzustellen: Maria Caspar-Filser war auf den ersten Blick sicher keine Revolutionärin der Malerei. Ihr Werk entwickelte sich vielmehr in organischer Weise, was von zeitgenössischen Kritikern seit ihren Anfängen immer wieder betont wurde.

Doch ist dies im Rückblick allerdings ein Moment, das ihrer Rezeption als bedeutender Künstlerin des 20. Jahrhunderts schadet, da der kunsthistorische Blick weitgehend auf das unmittelbar offensichtliche bzw. behauptete Neue und Revolutionäre, auf die Risse und Brüche in den Werken der Künstler oder auf die Konflikte und Kämpfe der Künstler und Kunstrichtungen mit dem etablierten Kunstbetrieb, mit der Geschichte, der Politik und ihren Institutionen gerichtet ist. Davon lässt sich tatsächlich so wenig bei Caspar-Filser finden, dass sie durch das Raster dieses Blickes hindurchfällt.

Viertens widersetzt sich auch ihre Werkgestalt den noch heute gültigen ästhetischen Ideologien der wesentlichen Avantgardegruppen. Dazu sei zuerst im Vergleich mit den Künstlern des Expressionismus – hier geschehen mit Gabriele Münter – auf ihren Umgang mit Farbe verwiesen:

Exemplarisch für das gängige kunsthistorische Verständnis ist die Feststellung im Vorwort zur großen Retrospektive des Werks von Gabriele Münter 1992 in München, in dem es heißt: „…die Intensität des Blicks, die Fähigkeit zur Vereinfachung des real Gesehenen, die Arbeit allein aus Umrisslinien und flächenhafter Farbe bildeten entscheidende Elemente [ihres] Neubeginns.“

Ersteres ist eine Unterstellung, die besser zu Caspar-Filser passen würde, der Rest der Aussage gilt für einen Großteil der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, denn Vereinfachung, Umriss, flächenhafte Farbe – diese Eigenschaften finden sich in der Tat bei den Expressionisten der Brücke, des Blauen Reiters, im Bauhaus und bei de Stijl. Zu ergänzen wäre nur, dass flächenhafte Farbe zumeist auch die Tendenz zur reinen Farbe meint, zur Bevorzugung der Primär- und Sekundärfarben in der Theorie und ihrer systematischen Anwendung in der Praxis.

Allen genannten Tendenzen widersetzt sich die Malerei Caspar-Filsers. Genauer: Sie strebt kontradiktorisch in die entgegengesetzte Richtung: Zwar mag sie im Einzelnen auch Gegenstände vereinfachen, doch es ist gerade die Komplexität ihrer sinnlich-realen Erscheinung, der sich die Malerei Caspar-Filsers zuwendet.

Dazu gehört auch, dass sie den Umriss vermeidet. Er vereinheitlicht die Erscheinung der unterschiedlichsten Gegenstände formal und weist ihnen eindeutige Begrenzungen zu. Dieses Vorgehen ist Caspar-Filser vollkommen fremd. Nicht allein, dass solche Konturen einer beobachtenden Weltwahrnehmung und aus ihr entspringenden Darstellung widersprechen, sie unterwerfen die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und überbordenden Fülle einem ihr fremden Regulativ und berauben sie so ihrer Freiheit. Gleiches gilt für die Anwendung farbiger Flächen und die Theorie reiner Farben.

Mit den Farbtheorien der Avantgarde – insbesondere Kandinskys und Ittens – setzt sich eine Hierarchisierung der Farben durch, in der gemischte Farben, Nuancierungen, Schattierungen, Brechungen usw. gegenüber den reinen Farben abgewertet werden. Für Caspar-Filser existieren solche Hierarchien nicht. Sie setzt auf den Reichtum des gesamten Spektrums farbiger Gestaltung, inklusive aller gebrochenen und schmutzigen Farben.

Fünftens fehlte ihr nicht nur die richtige Künstlergruppe, sie hatte auch den falschen Partner und führte mit ihm ein für die künstlerische Reputation offensichtlich ungeeignetes Leben: Sie war mit Karl Caspar, den sie seit ihrer Kindheit kannte und zur Malerei brachte, früh verheiratet und blieb es das gemeinsame Leben lang – und sie führten ein geregeltes Leben, das bürgerlichen Vorstellungen entsprach. Ganz schlecht im Hinblick auf die Bildung attraktivitässteigernder künstlerischer Legendenbildung…

– dagegen Münter: optimal! Sie kommt mit ihrem Kunstlehrer Kandinsky zusammen, lebt mit ihm in wilder Ehe ein richtiges Künstlerleben à la Bohème, wird dann schnöde von ihm verlassen und kommt über den Verlust lange nicht hinweg. In ihrem Leid widmet sie sich ihrem Werk für das sie einige Anerkennung erhält. Am Ende zeigt sie sich großzügig und stiftet ihre und seine Werke dem städtischen Museum Lenbachhaus, das so mit einem Schlag zum Zentrum der Kunst des Blauen Reiters wird – und darauf folgt

sechstens: dass mit ihrer Stiftung an das Lenbachhaus seit den fünfziger Jahren für dieses ein vitales Interesse an ihrem Werk bestand, dessen Bedeutung es in der Folgezeit mit Ausstellungen und Publikationen massiv propagierte. So ist denn zu beobachten, dass ihr Name ungefähr ab den Neunziger Jahren in die großen Überblickskunstgeschichten Einzug hält. Ihr heutiger Ruf verdankt sich vor allem diesem Umstand.

Auf der anderen Seite lässt sich resümieren, dass der künstlerische Rang und die kunsthistorische Rezeption Caspar-Filsers in keinem Verhältnis zu ihrem derzeitigen Bekanntheitsgrad unter deutschen Kunsthistorikern und der kunstinteressierten Öffentlichkeit stehen. Seit dem Krieg ist die Kenntnis ihrer Werke auf den süddeutschen Raum beschränkt geblieben.

Hier, insbesondere in den heimischen Regionen Oberschwabens und der schwäbischen Alb, erfährt sie kontinuierliche Würdigung – aber nun als schwäbische, als eine für die Region bedeutende Künstlerin. Dass sie dies ist, steht außer Frage. Doch es bleibt die Frage, ob ihr künstlerischer und kunsthistorischer Rang darauf beschränkt bleiben darf und kann.

Die Antwort auf diese Frage kann in Anbetracht ihrer bedeutenden Rolle in der deutschen Malerei vor der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer spezifischen malerischen und ästhetischen Qualitäten nur eine sein, nämlich ein klares und vernehmliches: Nein.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 3: Von Künstlern im Krieg

Bildnachweise:
© VG Bild Kunst, Bonn, und Archiv Haus Caspar-Filser, Brannenburg für die Werke von Maria Caspar-Filser, 2023
© VG Bild Kunst, Bonn, und Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, 2023

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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument

Carl Schuch Stillleben
Carl Schuch: Stillleben mit Porree, Zwiebeln und Käse, um 1885/86
Öl auf Leinwand, 64,7 x 81,2 cm, Sammlung Andreas Gerritzen

Neuer Beitrag zu Werken des Malers in einer Privatsammlung

In diesen Tagen ist im Verlag der Kunsthandlung J. P. Schneider in Frankfurt die Dokumentation einer privaten Kunstsammlung erschienen.

Unter dem Titel Leben mit Kunst – die Sammlung Andreas Gerritzen präsentiert der aufwändig gestaltete Band vollständig den Bestand der Kunstwerke und Naturalia, die der Sammler Andreas Gerritzen in den letzten 25 Jahren zusammengetragen hat. Schwerpunkte der Sammlung bilden Landschaftsmalerei und Stillleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu gehören Werke der Maler der Worpsweder Künstlerkolonie, insbesondere von Otto Modersohn, sowie der Freilichtmalerei in Frankreich, Deutschland und Italien seit der Schule von Barbizon.

Carl Schuch nimmt in der Sammlung einen besonderen Stellenwert ein. Gerritzen konnte bis jetzt neun Gemälde in seiner Sammlung vereinen, darunter fünf Landschaften, drei Stillleben und ein Interieur.

Mein Beitrag „Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument“, abgedruckt auf den Seiten 194–217, behandelt diese Gemälde ausführlich im Kontext des Gesamtwerks von Carl Schuch, das in der Malerei weit mehr sieht als ein Mittel zur Wiedergabe des Gesehenen, zur Darstellung der Welt oder der von ihr empfangenen Sinnenreize und Empfindungen. Schuch geht es um eine nahezu systematische Erkundung der Möglichkeiten der Neuschöpfung und Gestaltung der Welt als Malerei, generiert allein aus den ihr eigenen Mitteln.

Dazu seien hier beispielhaft ein eine Selbstäußerung von Carl Schuch und ein Abschnitt aus dem Beitrag zitiert:

Ich lebe jetzt nur noch in Vorbereitung für Landschaft, studiere und probiere meine neue Palette, die die farbigste ist, die denkbar. Aber um solches Roß zu reiten, muß man festsitzen und es kennen. Ich werde heuer viele kleine Farbenskizzen malen und meine Palette anwenden lernen. Die Landschaft hat den großen Vorteil, daß uns das peinliche Ausführen, das beim Stilleben so wichtig ist, nicht hindert, besonders bei großen Bildern, die halb vollendet aussehen.

Das einzig Auszuführende ist mir in der Landschaft die Farbe […].

Meine guten paar Arbeiten sind auch wie zufällig entstanden und ich habe erst später begriffen warum. Wenn meine großen Stilleben, die noch weit zum Fertigsein haben – nie fertig würden, ich wäre ihnen doch sehr verpflichtet. Ich habe durch sie viel gelernt. Hoffentlich mit den neuen Aufgaben, die die Natur mir nach einjähriger Enthaltsamkeit stellt, finde ich neue Resultate oder wenigstens löse ich die alten oft versuchten Aufgaben. Das Interieur von Birken zum Beispiel, die Eichen ohne sie schwarz zu malen, graue Luft ohne kalkig und farblos nüchtern zu werden, Sonnenschein ohne Buntheit und grelle Dissonanzen usw. Ich sehne mich nach solchen farbigen Rechenexempeln und denke immer an Landschaft.

Brief vom 30. März 1880, zit. nach Karl Hagemeister: Karl Schuch. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 104–106.

Stillleben als Experimentierfeld

In den Wintermonaten der Pariser Jahre 1882 bis 1894 weilte Schuch in der Stadt und setzte sein malerisches Forschen fort – in der theoretischen Reflexion wie in der Praxis. Er notierte und analysierte Farbsysteme und die Zusammensetzungen der Paletten von alten Meistern wie Tizian (um 1488/90–1576) und Rembrandt bis zu den bereits genannten älteren und jüngeren Zeitgenossen. Ihm ging es um die Erweiterung seiner Kenntnis der malerischen Mittel. Denkend und malend studierte er unablässig die Anwendung der Farbe im Bild, stets in Verbindung mit dem Licht und dem Aspekt der bildnerischen Komposition, in der sie zur Geltung kommen sollte. In Notizheften hielt er seine Überlegungen dazu fest.

Wie in Venedig führte Schuch seine malerischen Experimente in Paris im Stillleben weiter. Die Ambitionen im Hinblick auf das große Format und die gegenständliche Fülle, die ihn in Venedig angetrieben hatten, gab Schuch hier auf zugunsten schlichterer Kompositionen. Er arbeitete nun mit motivischen Reihen zum Erkunden des malerischen Potenzials einer gewählten Konstellation an Objekten im Raum und ihrer Erscheinung in Farbe und Licht. In seinen Notizheften vermerkte er akribisch die jeweils verwendeten Pigmente und die Farbzusammenstellungen auf der Palette. Diese systematisch verändernd untersuchte er in Kompositionen mit denselben Motiven die Wirkungen der Farbgebung, der Töne und des Lichts im Sinne eines malerischen Erkenntnisstrebens. Mit den Augen und dem Pinsel in der Hand forschend und experimentierend praktizierte Schuch Malerei als Erkenntnisinstrument.

Cover Buch Leben mit Kunst. Die Sammlung Andreas Gerritzen
Verlag J. P. Schneider Frankfurt am Main
Leben mit Kunst –
die Sammlung
Andreas Gerritzen

Gebundene Luxusausgabe, 440 Seiten mit über 200 Farbabbildungen und einem detaillierten Werkverzeichnis. Frankfurt am Main: Verlag J. P. Schneider 2023. – Preis € 120,-

Einblicke ins Buch gibt es auf der Seite des Verlags.

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Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– I –

Die aktuelle TOP 20 Global Artists der Website Artfacts – zur vollständigen Liste der TOP 100 geht es hier: https://artfacts.net/lists/global_top_100_artists

Über Werden und Wandlung künstlerischer Reputation

Zu den spannendsten Fragen im Hinblick auf die Etablierung, Durchsetzung, Wahrnehmung, Deutung und Würdigung großer Kunst gehört die Frage, wie sich künstlerischer Ruf etabliert, festigt und behauptet oder wieder vergeht.

Also: Beruht die Größe, die von Kunstkritik und Kunstgeschichte Künstlern und Künstlerinnen zugeschrieben oder vorenthalten wird, grundsätzlich mehr auf wohlbegründeten Kriterien als auf unbewussten Reflexen? Oder dreht gar mitunter Fortuna am Rad der Reputation?

Die Methode, mit der ich dieser Frage nachgehe, besteht im Folgenden größtenteils in der Gegenüberstellung exemplarischer Karrieren von Künstlern bzw. Künstlergruppierungen, die Auswahl dieser wiederum hat sich aus meiner eigenen Museums- und Forschungstätigkeit in den zehn Jahren meiner Tätigkeit als Leiter des Kunstmuseums Hohenkarpfen ergeben – einem Regionalmuseum, das sich der Aufarbeitung der südwestdeutschen Kunst widmet.

Die meisten der dort von mir ausgestellten Künstler habe ich vor meiner Arbeit dort nicht gekannt und sie werden sowohl von den Verantwortlichen in den Staatlichen Museen (Staatsgalerie Stuttgart, Kunsthalle Karlsruhe) als auch von den Kollegen in den Städtischen Museen und Landkreisen selbst zumeist nur als regionale Größen gesehen – selbst dann, wenn diese Künstlerinnen und Künstler einst national und international als bedeutend anerkannt waren.

In vielen Fällen sind diese Urteile sicher nachvollziehbar, doch mir stellten sich mit der Zeit immer mehr Fragen zu den Begründungen und Argumenten dieser Urteile, um so mehr, als mir auch die Begründungen und Urteile für die Hochschätzung anderer, heute angesehener Künstler zunehmend fragwürdig – im wörtlichen Sinne – erscheint.

Sie scheinen mir oft – wie häufig noch die Beurteilungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts vor ca. 40 Jahren – weniger historisch im Sinne einer Geschichtsschreibung, die versucht zu verstehen, was in einer Zeit virulent ist, was Geltung, Bedeutung oder Wirkung gehabt hat, als vielmehr ideologisch, und zwar in dem Sinne, dass sie sich im Widerstreit der zeitgenössischen Auseinandersetzungen auf eine Seite schlägt und deren Argumente zu scheinbar objektiven Maßstäben der Kunstgeschichte macht.

Darüber hinaus werden die Ursachen für diese Parteinahme oft nicht im ausreichenden Maß reflektiert, so wird vollkommen verkannt, wie sehr in vielen Fällen die Rezeption von historischen Umständen, die auch vollkommen anders hätten sein können, bestimmt wird.

Um diesen Gedankengang anschaulich zu machen, beginne ich mit einem Fall, der in den letzten Jahren für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat und stelle diesen in einen größeren Zusammenhang.

Expressionismus und das Dritte Reich – oder vom Glück des Unglücks

„Der Führer ist groß u. edel in seinen Bestrebungen u. ein genialer Tatenmensch.“ — „Den Nationalsozialismus verehre ich als die besondere und jüngste Staatsform, die Arbeit ist zur Ehre erhoben. Und ich habe den Glauben, dass unser großer deutscher Führer Adolf Hitler nur für das Recht und Wohl des deutschen Volkes lebt und wirkt und auch, dass er in ernsten Sachen von Grund auf die Wahrheit wissen will, [… ich bin] stets und immer im In- und Ausland für die große deutsche nationalsozialistische Sache mit vollster Ueberzeugung eingetreten. Ich habe den Eindruck, dass meine um 1910 geführten Kulturkämpfe gegen die herrschende Ueberfremdung in allem Künstlerischen und gegen die alles beherrschende jüdische Macht, jetzt nur noch wenigen bekannt sein möge.“[1]

Adolf Ziegler: Die vier Elemente, vor 1937, Öl/Leinwand, 180 × 300 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne
Emil Nolde: Masken Stillleben III, 1911,
Öl/Leinwand, 74 x 78 cm, The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri.

Nun die Frage: Von welchem der beiden Künstler, deren Werke hier zu sehen sind, stammen diese Sätze? Zur Klärung dieser Frage zitiere ich weiter:

„Es wird gesagt, dass meine Kunst von Juden gefördert und gekauft worden ist. Auch das ist falsch. Einzelne versprengte Bilder sind in den späteren Jahren durch den Kunsthandel zu Juden gekommen, im Allgemeinen jedoch bekämpfen sie mich. Die Reinheit und das ursprüngliche Deutsche in meiner Kunst haben sie bespöttelt und nie gewollt. Meine wesentlichen Bilder sind alle in deutschem Besitz, von Deutschen gekauft, die durchaus nicht fremdländisch angekränkelt, sondern bewusst Deutsche sind.“ [2]

Emil Nolde trat schon 1934 der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig bei, die ein Jahr später mit anderen NS-Organisationen der Region die NSDAP Nordschleswig mitbegründeten. Er blieb bis zum Ende des Krieges in der Partei und berief sich immer wieder auf seine Mitgliedschaft. Aus den Jahren 1933 bis 1945 gibt es zahlreiche Dokumente, die belegen, dass Nolde und seine Frau sich für die Ideologie und Politik der Nationalsozialisten begeisterten und die „Machtergreifung“ begrüßten. Nolde hatte lange gehofft, dass die Nationalsozialisten den Expressionismus zur „nordischen“ Staatskunst erklären und dass sie ihn, Nolde, aufs Podest heben würden. Grund dies zu hoffen, hatte er:

In den ersten Jahren des Dritten Reiches gab es heftige Auseinandersetzungen um den Expressionismus als Deutscher Kunst. Es gab ebenso viele und gewichtige Befürworter wie Gegner. Kreise um Goebbels, den späteren Kulturminister Bernhard Rust und Reichsjugendführer Baldur von Schirach versuchten, die Kunstpolitik des Regimes für den Expressionismus zu gewinnen.

Im Dezember 1933 schrieb Joseph Goebbels in einem in der deutschen Tagespresse veröffentlichten Glückwunschtelegramm „namens der deutschen Künstlerschaft“ an den norwegischen Maler Edvard Munch, daß dieser als der „kraftvolle, eigenwillige Geisterbe nordischer Natur“ geschätzt werde und sein Werk „nordischgermanischer Erde entsprossen“ sei.[3]

Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise äußerte im März 1933: „…daß Nolde und Barlach nicht nur die besten und am meisten norddeutsch-bodenständigen, sondern zugleich auch im revolutionären Sturm ihres gefühlsbetonten intellektfremden Schaffens diejenigen Meister sind, die mit geistigen Waffen in der gleichen Richtung längst vorgestoßen sind, in der jetzt auf politischem Gebiet die jungen deutschen Führer ihr Ziel erkennen“.[4]

Die führenden Kader des Nationalsozialistischen Studentenbundes sahen Heckel, Nolde, Rohlfs, Schmidt-Rotluff, Barlach, Kolbe und Lehmbruck als – Zitat: „die Vorläufer der Kunst, die der Nationalsozialismus in ihrem Geist fortsetzen wolle“.

Ende Oktober 1933 wurde die Zeitschrift „Kunst der Nation“ ins Leben gerufen, mit der erklärten Absicht, „avantgardistische Kunst und nationalsozialistische Politik zueinander ins Verhältnis zu setzen, beide gar als Ausdruck des gleichen Strebens in verschiedenen Gebieten zu deuten“. — „In philosophischer Hinsicht bildete Nietzsche, in künstlerischer der Expressionismus, in politischer der Nationalsozialismus den Bezugspunkt ihres Denkens.“[5]

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Doch schließlich kam es anders, weil sich die Fraktion von Hitlers Blut-und-Boden-Ideologe Alfred Rosenberg durchsetzen konnte, vor allem aber das „größte Kunstgenie aller Zeiten“: Hitler persönlich beendete nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, bei denen er sich noch liberal geben wollte, die Debatte, indem er den Expressionismus als degeneriert ablehnte. Goebbels ließ daraufhin auch jene Nolde-Werke abhängen, die bis dahin seine Privatwohnung geschmückt hatten.

Und so wars nichts für den Expressionismus und auch Nolde wird, zu seinem Entsetzen, von den Nationalsozialisten nicht erhört. Im Jahr 1937 werden mehr als tausend seiner Werke aus deutschen Museen konfisziert, knapp fünfzig davon in München auf der Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Nolde, der ungeheuer erfolgreich in der Weimarer Republik gewesen war, verkauft trotzdem weiter, gut sogar. Als er 1940 mehr als 52.000 Reichsmark einnimmt, wird er aus der Reichskammer der Bildenden Künste ausgeschlossen – erst möchte man sagen, das ist anderen viel früher geschehen. Die Zurückweisung traf Nolde hart. Erst nach dem Krieg wurde zu seinem Glück, was bis 1945 sein Unglück war.

Und damit kommen wir zum Punkt: Was wäre gewesen, wenn sich die Pro-Expressionismus-Fraktion im Dritten Reich durchgesetzt hätte, wenn sie Hitler überzeugt hätten?

1) Wie hätten sich expressionistische Künstler jüdischen Künstlern gegenüber verhalten – Nolde z.B. hat immerhin versucht seinen Künstlerkollegen Max Pechstein als „Juden“ zu denunzieren.[6] –oder konservativen Abweichlern wie dem heute als „Reichsschamhaarmaler“ apostrophierten Adolf Ziegler gegenüber? Und wie würden wir heute über diese urteilen, wenn sie statt der Expressionisten wegen ihres kaum deutsch zu nennenden klassizistischen Gehabes angegriffen worden wären?

Nolde ist der – der inzwischen bekannteste und berüchtigste (dazu Anmerkung unten) – Extremfall unter den schließlich verfemten Malern, aber auch Ernst Ludwig Kirchner hebt in Schreiben an deutsche Kunstfunktionäre Mitte der dreißiger Jahre das Deutsche an seiner Kunst heraus, und er distanziert sich in dem Moment vom Expressionismus, als klar wird, dass dieser im Regime nicht mehr zu halten sein wird.[7]

2) Wie würden wir heute über den Expressionismus sprechen, wenn er schließlich nicht verfemt, sondern tatsächlich vom Regime als deutsche Staatskunst propagiert worden wäre, wie Nolde es sich wünschte?

Nun, wir wissen, dass das Gegenteil eintrat – und dass der Expressionismus nach dem Krieg nicht nur rehabilitiert wurde, sondern tatsächlich und ausgerechnet als der DEUTSCHE Beitrag zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts aufs Schild gehoben wurde und mit ihm das gute Gefühl auch auf der richtigen Seite zu stehen und für Gerechtigkeit zu sorgen.

Doch wie gerecht gings nach dem Krieg tatsächlich zu? Nicht nur in Verwaltung und Justiz setzten Nazi-Chargen ihre Karrieren fort, auch zahlreiche regimetreue Künstler erfreuten sich nach dem Krieg einer ungebrochenen Laufbahn. Viele aber, die behindert, verfemt und verfolgt worden waren, waren nicht mehr in der Lage, weiterzumachen oder wurden nicht in derselben Weise rehabilitiert wie die heute berühmten Expressionisten der Brücke und des Blauen Reiters – wovon zum Beispiel das Künstlerehepaar Maria Caspar-Filser und Karl Caspar betroffen ist, sie noch weit mehr als er, was im Folgenden gezeigt wird.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter
Hinweis: 
Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich mit einigen Varianten mehrfach zwischen 2011 und 2016 gehalten habe. Für diese Publikation im Blog ist er nur unwesentlich überarbeitet worden, und das obwohl — nein gerade weil — in mehreren Fällen, die hier beispielhaft vorgestellt werden, einige Bewegung in die Bewertung gekommen ist. Gerade darin zeigt sich die Aktualität der hier geäußerten Überlegungen. 
Das betrifft insbesondere Emil Nolde, dessen Gesinnung aufgrund der Ausstellungen und Publikationen seit 2013 nun wirklich allen massiv vor Augen geführt wurde. Sie war zwar auch schon zuvor weitestgehend bekannt und belegt, was aber bis dahin in der öffentlichen Debatte noch nicht genug durchgedrungen war. 
Die Zusammenfassung der neueren Forschungsergebnisse dazu auf der Seite der Nolde-Stiftung, Seebüll: https://www.nolde-stiftung.de/der-kuenstler-im-nationalsozialismus/

Auch in den Fällen der deutschen Malerstars der letzten Jahrzehnte, allen voran Georg Baselitz, Gerhard Richter oder Anselm Kiefer, die von mir zum Ende meiner Überlegungen exemplarisch für die Frage nach künftigen Wandlungen der Reputation herangezogen werden, zeichnen sich im Zuge aktueller gesellschaftlicher Tendenzen Neubewertungen ab. Beispielhaft hierfür diese Ausstellungskritiken: 
Elena Korowin in Monopol: https://www.monopol-magazin.de/richter-kiefer-polke-baselitz-stuttgart
Hanno Rauterberg in der ZEIT: https://www.zeit.de/2019/17/die-jungen-jahre-der-alten-meister-kuenstler-ausstellung 


[1] Emil Nolde, Brief an an den norwegischen Kunsthistoriker Henrik Grevenor in Oslo, November 1933, zit.n. Stefan Koldehoff: „Noldes Bekenntnis“, in ZEIT, 42, 10. Oktober 2013, online: http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus.

[2] Emil Nolde, Brief an Joseph Goebbels, 6.12.1938, zit. n. Koldehoff, wie Anm. 1.

[3] Joseph Goebbels: Glückwunschtelegramm an Edvard Munch zum 70. Geburtstag, zit. n. Christoph Zuschlag: „Entartete Kunst“: Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland. Worms: Werner 1995 (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N.F., 21), S. 45.

[4] Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Schleswig-Holsteinische Graphik“ im Behnhaus, 26.03.1933. Zit. n. Zuschlag wie Anm. 3, S. 45.

[5] Stefan Germer: „Kunst der Nation. Zu einem Versuch, die Avantgarde zu nationalisieren“, in: Bazon Brock und Achim Preiß (Hrsg): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 28.

[6] Bernhard Fulda und Aya Soika: Max Pechstein: The Rise and Fall of Expressionism, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 302.

[7] Amelie von Bülow: „Der Fall Kirchner. Provenienz und Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene“, in: Uwe Fleckner (Hrsg.): Das verfemte Meisterwerk. Berlin: Akademie-Verlag 2009 (Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“), S, 548–549.

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Glosse Kunstgeschichte

Lob der Komplexität

Sixtinische Kapelle, Vatikan, Rom, mit Wand- und Deckenmalereien sowie Ausstattung unterschiedlicher Künstler, darunter Botticelli und Michelangelo
Foto: Wikimedia Commons

Immer wieder und insbesondere seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts wird mit besonderem Nachdruck in verschiedensten Darstellungen zu Qualitäten großer Kunst die Auffassung vertreten, alle große Kunst sei einfach, alle große Kunst strebe zur Vereinfachung usw. in ähnlichen Formulierungen.

Aber weder die Verbreitung dieser Behauptung noch ihre Wiederholung trägt dazu bei, sie zu bestätigen und zu bewahrheiten. Sie bleibt falsch, ist zu kurz gedacht und gefasst und grob simplifizierend – was sonst – allerdings damit der Behauptung selbst höchst angemessen.

Darin aber offenbart sie auch schon in These und Formulierung ihre ideologische Grundlage und Ausrichtung. Sie dient zugleich in allen Fällen, in denen sie mir schriftlich und mündlich begegnet ist, als legitimatorisches Instrument der jeweiligen Argumentation.

Da es so viele Künstler und Künstlerinnen, Autoren und Autorinnen sind, die sich ästhetisch, historisch, theoretisch oder philosophisch in dieser Weise äußern – darunter auch zahlreiche von mir außerordentlich geschätzte – kann hier durchaus von einem Gemeinplatz der zeitgenössischen Ästhetik und Kunsttheorie gesprochen werden.

Auch diese Tage ist sie mir wieder im persönlichen Gespräch zu Ohren gekommen – und daher ein Anlass gegeben, ihr wenigstens einige korrigierende Anmerkungen entgegenzustellen, wobei die bloße Nennung all der offensichtlichen Fakten im Folgenden schon Argument genug sein müsste, diese Behauptung zum Verstummen zu bringen. Dies sind für den Moment die folgenden:

Ja, es gibt großartige einfache Kunst – genannt sei etwa die früher Hochkulturen, die archaische Kunst in Griechenland oder die der Romanik in Europa. Doch diese beruht – wie wir etwa von Anthropologie, Soziologie oder Religionswissenschaften lernen können – auf einer komplexen Basis und bezieht diese in ihre Gestaltung und Motivik ein.

Wenn diese These stimmen würde, dann wäre der größte Teil der europäischen Kunst, Literatur, Philosophie etc. von minderer Qualität, da Komplexität eines der wesentlichen Charakteristika und eine der grundlegenden Tendenzen der gesamten europäischen Kunst- und Kulturgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildet.

Nach dieser These wären etwa die gotischen Kathedralen oder sämtliche Barockkirchen mit ihren überbordenden Dekoren und Innenausstattungen ebenso keine große Kunst wie die Werke von Dürer und Michelangelo, von Rubens und Rembrandt, von Gentileschi und Kauffmann, bis zu Duchamp und Theaster Gates, zu Oppenheim und Kwade etc. etc.

Was in gleicher Weise für Werke in anderen künstlerischen Feldern – Literatur, Theater, Musik usw. – gilt, von denen hier nicht die Rede ist.
Lassen wir den Blick über den Horizont der Kunst hinaus schweifen, zeigt sich vor allem eins:

In der Entwicklung der Menschheit vollzieht sich nichts anderes als ein steter Zuwachs an Komplexität. Dasselbe gilt für die wesentlichen Handlungsfelder der Menschen in ihren Zivilisationen, in den Prozessen der Herausbildung und Ausdifferenzierung von Politik, Kultur, Wissenschaft etc. – insgesamt und in jedem einzelnen lassen sich die zunehmend komplexen Eigenschaften belegen und nachvollziehen.

Im Bereich der Kultur und Kunst besteht eine wesentliche Leistung damit darin, dieser Komplexität „gewachsen“ zu sein, sie in der Sache, in den Materialien und Verfahren sowie in ihren Ausdrucksformen zu erfassen, zu bewältigen, zu gestalten und zu reflektieren.

Dazu gehört auch – und damit sind wir wieder bei der reduktionistischen Grundthese – den Fokus auf spezifische Strukturen zu legen, auf einzelne Gesetzlichkeiten, auf Teilaspekte des Ganzen usw., also sich aus der Komplexität etwas auszugucken, was für sich genommen, ausschließlich betrachte und in ein besonderes Licht gestellt wird.

Generell gilt, auch für die komplexesten Kunstwerke, Schriften (seien sie philosophisch, wissenschaftlich, theoretisch, literarisch etc.), dass Reduktion von Komplexität zur Überführung in ein Werk notwendig ist. Komplexitätsreduktion ist als grundlegendes Prinzip jedes künstlerischen Ausdrucks tatsächlich unabdingbar, da ohne diese gar keine Darstellung bzw. Gestaltung der Welt möglich wäre.

Jede Kunstform reduziert bzw. abstrahiert notwendigerweise die tatsächlich gegebene Komplexität der realen Welt und in ihr möglichen Manifestationen menschlicher Gestaltungsfähigkeit. Ohne Komplexitätsreduktion keine Darstellung und Deutung der Welt, das gilt genauso für jede philosophische Reflexion, jede wissenschaftliche Disziplin usw.

Eine radikale Auswahl aus dieser Fülle und Reduktion ihrer Darstellung stellt mithin eine von vielen Möglichkeiten im Umgang mit der komplexen Vielfalt der Wirklichkeit mit all ihren Zusammenhängen, Kontingenzen und Widersprüchen dar.

Was also all diesem Reden von der Einfachheit und den Behauptungen von ihrer grandiosen Überlegenheit fehlt, ist ein Bewusstsein und die Wertschätzung dafür, welche Wirklichkeit und Bedeutung Komplexität als solche hat – als Grundlage unserer Existenz und Lebensweise ebenso wie als Wirkungseffekt unseres menschlichen Handelns, als Gattung wie als Individuum.

Gerade in Zeiten, in denen die Vorstellung um sich greift, alles ließe sich für alle bis zu einem ideellen Nullpunkt vereinfachen und damit wäre auch die Forderung an alle in einem Feld Tätigen legitim, diesen Vereinfachungsprinzipien zu folgen, braucht es den deutlichen Hinweis auf den mit offenen Augen unübersehbaren Umstand, dass es sich bei dieser Vorstellung um eine Illusion handelt.

Diese Feststellung wiederum bleibt völlig unberührt von dem anderen Umstand, dass sich in vielen Feldern (v.a. Verwaltung, Bürokratie, Politik, Recht) Strukturen und Ausdrucksweisen herausgebildet haben, die einer Reduktion leicht zugänglich wären, dringend bedürften.

Aber für die Felder von Kultur und Wissenschaft braucht es ein Plädoyer für die Komplexität. Denn sie zu erleben, zu erfahren und zu erkennen heißt, die Welt und sämtliche ihrer Manifestationen anzuerkennen und anzunehmen – gerade in ihrer Vielfalt und Offenheit, ihren Uneindeutigkeiten und Widersprüchen.

All die schillernden Ambivalenzen, mit denen wir unablässig konfrontiert sind und zu denen wir jeweils ein eigenes Verhältnis und einen persönlichen Umgang finden müssen, stellen keine individuellen Probleme einzelner dar. Sie sind die Resultate universeller generativer Prinzipien. Sie ergeben sich unablässig und unausweichlich aus dem schöpferischen Wirken der Komplexität.

Sie bringt die unendliche Fülle der Welt zum Leuchten.