Immer wieder und insbesondere seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts wird mit besonderem Nachdruck in verschiedensten Darstellungen zu Qualitäten großer Kunst die Auffassung vertreten, alle große Kunst sei einfach, alle große Kunst strebe zur Vereinfachung usw. in ähnlichen Formulierungen.
Aber weder die Verbreitung dieser Behauptung noch ihre Wiederholung trägt dazu bei, sie zu bestätigen und zu bewahrheiten. Sie bleibt falsch, ist zu kurz gedacht und gefasst und grob simplifizierend – was sonst – allerdings damit der Behauptung selbst höchst angemessen.
Darin aber offenbart sie auch schon in These und Formulierung ihre ideologische Grundlage und Ausrichtung. Sie dient zugleich in allen Fällen, in denen sie mir schriftlich und mündlich begegnet ist, als legitimatorisches Instrument der jeweiligen Argumentation.
Da es so viele Künstler und Künstlerinnen, Autoren und Autorinnen sind, die sich ästhetisch, historisch, theoretisch oder philosophisch in dieser Weise äußern – darunter auch zahlreiche von mir außerordentlich geschätzte – kann hier durchaus von einem Gemeinplatz der zeitgenössischen Ästhetik und Kunsttheorie gesprochen werden.
Auch diese Tage ist sie mir wieder im persönlichen Gespräch zu Ohren gekommen – und daher ein Anlass gegeben, ihr wenigstens einige korrigierende Anmerkungen entgegenzustellen, wobei die bloße Nennung all der offensichtlichen Fakten im Folgenden schon Argument genug sein müsste, diese Behauptung zum Verstummen zu bringen. Dies sind für den Moment die folgenden:
Ja, es gibt großartige einfache Kunst – genannt sei etwa die früher Hochkulturen, die archaische Kunst in Griechenland oder die der Romanik in Europa. Doch diese beruht – wie wir etwa von Anthropologie, Soziologie oder Religionswissenschaften lernen können – auf einer komplexen Basis und bezieht diese in ihre Gestaltung und Motivik ein.
Wenn diese These stimmen würde, dann wäre der größte Teil der europäischen Kunst, Literatur, Philosophie etc. von minderer Qualität, da Komplexität eines der wesentlichen Charakteristika und eine der grundlegenden Tendenzen der gesamten europäischen Kunst- und Kulturgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildet.
Nach dieser These wären etwa die gotischen Kathedralen oder sämtliche Barockkirchen mit ihren überbordenden Dekoren und Innenausstattungen ebenso keine große Kunst wie die Werke von Dürer und Michelangelo, von Rubens und Rembrandt, von Gentileschi und Kauffmann, bis zu Duchamp und Theaster Gates, zu Oppenheim und Kwade etc. etc.
Was in gleicher Weise für Werke in anderen künstlerischen Feldern – Literatur, Theater, Musik usw. – gilt, von denen hier nicht die Rede ist.
Lassen wir den Blick über den Horizont der Kunst hinaus schweifen, zeigt sich vor allem eins:
In der Entwicklung der Menschheit vollzieht sich nichts anderes als ein steter Zuwachs an Komplexität. Dasselbe gilt für die wesentlichen Handlungsfelder der Menschen in ihren Zivilisationen, in den Prozessen der Herausbildung und Ausdifferenzierung von Politik, Kultur, Wissenschaft etc. – insgesamt und in jedem einzelnen lassen sich die zunehmend komplexen Eigenschaften belegen und nachvollziehen.
Im Bereich der Kultur und Kunst besteht eine wesentliche Leistung damit darin, dieser Komplexität „gewachsen“ zu sein, sie in der Sache, in den Materialien und Verfahren sowie in ihren Ausdrucksformen zu erfassen, zu bewältigen, zu gestalten und zu reflektieren.
Dazu gehört auch – und damit sind wir wieder bei der reduktionistischen Grundthese – den Fokus auf spezifische Strukturen zu legen, auf einzelne Gesetzlichkeiten, auf Teilaspekte des Ganzen usw., also sich aus der Komplexität etwas auszugucken, was für sich genommen, ausschließlich betrachte und in ein besonderes Licht gestellt wird.
Generell gilt, auch für die komplexesten Kunstwerke, Schriften (seien sie philosophisch, wissenschaftlich, theoretisch, literarisch etc.), dass Reduktion von Komplexität zur Überführung in ein Werk notwendig ist. Komplexitätsreduktion ist als grundlegendes Prinzip jedes künstlerischen Ausdrucks tatsächlich unabdingbar, da ohne diese gar keine Darstellung bzw. Gestaltung der Welt möglich wäre.
Jede Kunstform reduziert bzw. abstrahiert notwendigerweise die tatsächlich gegebene Komplexität der realen Welt und in ihr möglichen Manifestationen menschlicher Gestaltungsfähigkeit. Ohne Komplexitätsreduktion keine Darstellung und Deutung der Welt, das gilt genauso für jede philosophische Reflexion, jede wissenschaftliche Disziplin usw.
Eine radikale Auswahl aus dieser Fülle und Reduktion ihrer Darstellung stellt mithin eine von vielen Möglichkeiten im Umgang mit der komplexen Vielfalt der Wirklichkeit mit all ihren Zusammenhängen, Kontingenzen und Widersprüchen dar.
Was also all diesem Reden von der Einfachheit und den Behauptungen von ihrer grandiosen Überlegenheit fehlt, ist ein Bewusstsein und die Wertschätzung dafür, welche Wirklichkeit und Bedeutung Komplexität als solche hat – als Grundlage unserer Existenz und Lebensweise ebenso wie als Wirkungseffekt unseres menschlichen Handelns, als Gattung wie als Individuum.
Gerade in Zeiten, in denen die Vorstellung um sich greift, alles ließe sich für alle bis zu einem ideellen Nullpunkt vereinfachen und damit wäre auch die Forderung an alle in einem Feld Tätigen legitim, diesen Vereinfachungsprinzipien zu folgen, braucht es den deutlichen Hinweis auf den mit offenen Augen unübersehbaren Umstand, dass es sich bei dieser Vorstellung um eine Illusion handelt.
Diese Feststellung wiederum bleibt völlig unberührt von dem anderen Umstand, dass sich in vielen Feldern (v.a. Verwaltung, Bürokratie, Politik, Recht) Strukturen und Ausdrucksweisen herausgebildet haben, die einer Reduktion leicht zugänglich wären, dringend bedürften.
Aber für die Felder von Kultur und Wissenschaft braucht es ein Plädoyer für die Komplexität. Denn sie zu erleben, zu erfahren und zu erkennen heißt, die Welt und sämtliche ihrer Manifestationen anzuerkennen und anzunehmen – gerade in ihrer Vielfalt und Offenheit, ihren Uneindeutigkeiten und Widersprüchen.
All die schillernden Ambivalenzen, mit denen wir unablässig konfrontiert sind und zu denen wir jeweils ein eigenes Verhältnis und einen persönlichen Umgang finden müssen, stellen keine individuellen Probleme einzelner dar. Sie sind die Resultate universeller generativer Prinzipien. Sie ergeben sich unablässig und unausweichlich aus dem schöpferischen Wirken der Komplexität.
Sie bringt die unendliche Fülle der Welt zum Leuchten.