Carl Schuch: Stillleben mit Porree, Zwiebeln und Käse, um 1885/86 Öl auf Leinwand, 64,7 x 81,2 cm, Sammlung Andreas Gerritzen
Neuer Beitrag zu Werken des Malers in einer Privatsammlung
In diesen Tagen ist im Verlag der Kunsthandlung J. P. Schneider in Frankfurt die Dokumentation einer privaten Kunstsammlung erschienen.
Unter dem Titel Leben mit Kunst – die Sammlung Andreas Gerritzen präsentiert der aufwändig gestaltete Band vollständig den Bestand der Kunstwerke und Naturalia, die der Sammler Andreas Gerritzen in den letzten 25 Jahren zusammengetragen hat. Schwerpunkte der Sammlung bilden Landschaftsmalerei und Stillleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu gehören Werke der Maler der Worpsweder Künstlerkolonie, insbesondere von Otto Modersohn, sowie der Freilichtmalerei in Frankreich, Deutschland und Italien seit der Schule von Barbizon.
Carl Schuch nimmt in der Sammlung einen besonderen Stellenwert ein. Gerritzen konnte bis jetzt neun Gemälde in seiner Sammlung vereinen, darunter fünf Landschaften, drei Stillleben und ein Interieur.
Mein Beitrag „Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument“, abgedruckt auf den Seiten 194–217, behandelt diese Gemälde ausführlich im Kontext des Gesamtwerks von Carl Schuch, das in der Malerei weit mehr sieht als ein Mittel zur Wiedergabe des Gesehenen, zur Darstellung der Welt oder der von ihr empfangenen Sinnenreize und Empfindungen. Schuch geht es um eine nahezu systematische Erkundung der Möglichkeiten der Neuschöpfung und Gestaltung der Welt als Malerei, generiert allein aus den ihr eigenen Mitteln.
Dazu seien hier beispielhaft ein eine Selbstäußerung von Carl Schuch und ein Abschnitt aus dem Beitrag zitiert:
Ich lebe jetzt nur noch in Vorbereitung für Landschaft, studiere und probiere meine neue Palette, die die farbigste ist, die denkbar. Aber um solches Roß zu reiten, muß man festsitzen und es kennen. Ich werde heuer viele kleine Farbenskizzen malen und meine Palette anwenden lernen. Die Landschaft hat den großen Vorteil, daß uns das peinliche Ausführen, das beim Stilleben so wichtig ist, nicht hindert, besonders bei großen Bildern, die halb vollendet aussehen.
Das einzig Auszuführende ist mir in der Landschaft die Farbe […].
Meine guten paar Arbeiten sind auch wie zufällig entstanden und ich habe erst später begriffen warum. Wenn meine großen Stilleben, die noch weit zum Fertigsein haben – nie fertig würden, ich wäre ihnen doch sehr verpflichtet. Ich habe durch sie viel gelernt. Hoffentlich mit den neuen Aufgaben, die die Natur mir nach einjähriger Enthaltsamkeit stellt, finde ich neue Resultate oder wenigstens löse ich die alten oft versuchten Aufgaben. Das Interieur von Birken zum Beispiel, die Eichen ohne sie schwarz zu malen, graue Luft ohne kalkig und farblos nüchtern zu werden, Sonnenschein ohne Buntheit und grelle Dissonanzen usw. Ich sehne mich nach solchen farbigen Rechenexempeln und denke immer an Landschaft.
Brief vom 30. März 1880, zit. nach Karl Hagemeister: Karl Schuch. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 104–106.
Stillleben als Experimentierfeld
In den Wintermonaten der Pariser Jahre 1882 bis 1894 weilte Schuch in der Stadt und setzte sein malerisches Forschen fort – in der theoretischen Reflexion wie in der Praxis. Er notierte und analysierte Farbsysteme und die Zusammensetzungen der Paletten von alten Meistern wie Tizian (um 1488/90–1576) und Rembrandt bis zu den bereits genannten älteren und jüngeren Zeitgenossen. Ihm ging es um die Erweiterung seiner Kenntnis der malerischen Mittel. Denkend und malend studierte er unablässig die Anwendung der Farbe im Bild, stets in Verbindung mit dem Licht und dem Aspekt der bildnerischen Komposition, in der sie zur Geltung kommen sollte. In Notizheften hielt er seine Überlegungen dazu fest.
Wie in Venedig führte Schuch seine malerischen Experimente in Paris im Stillleben weiter. Die Ambitionen im Hinblick auf das große Format und die gegenständliche Fülle, die ihn in Venedig angetrieben hatten, gab Schuch hier auf zugunsten schlichterer Kompositionen. Er arbeitete nun mit motivischen Reihen zum Erkunden des malerischen Potenzials einer gewählten Konstellation an Objekten im Raum und ihrer Erscheinung in Farbe und Licht. In seinen Notizheften vermerkte er akribisch die jeweils verwendeten Pigmente und die Farbzusammenstellungen auf der Palette. Diese systematisch verändernd untersuchte er in Kompositionen mit denselben Motiven die Wirkungen der Farbgebung, der Töne und des Lichts im Sinne eines malerischen Erkenntnisstrebens. Mit den Augen und dem Pinsel in der Hand forschend und experimentierend praktizierte Schuch Malerei als Erkenntnisinstrument.
Leben mit Kunst – die Sammlung Andreas Gerritzen
Gebundene Luxusausgabe, 440 Seiten mit über 200 Farbabbildungen und einem detaillierten Werkverzeichnis. Frankfurt am Main: Verlag J. P. Schneider 2023. – Preis € 120,-
Über Werden und Wandlung künstlerischer Reputation – I –
Zu den spannendsten Fragen im Hinblick auf die Etablierung, Durchsetzung, Wahrnehmung, Deutung und Würdigung großer Kunst gehört die Frage, wie sich künstlerischer Ruf etabliert, festigt und behauptet oder wieder vergeht.
Also: Beruht die Größe, die von Kunstkritik und Kunstgeschichte Künstlern und Künstlerinnen zugeschrieben oder vorenthalten wird, grundsätzlich mehr auf wohlbegründeten Kriterien als auf unbewussten Reflexen? Oder dreht gar mitunter Fortuna am Rad der Reputation?
Die Methode, mit der ich dieser Frage nachgehe, besteht im Folgenden größtenteils in der Gegenüberstellung exemplarischer Karrieren von Künstlern bzw. Künstlergruppierungen, die Auswahl dieser wiederum hat sich aus meiner eigenen Museums- und Forschungstätigkeit in den zehn Jahren meiner Tätigkeit als Leiter des Kunstmuseums Hohenkarpfen ergeben – einem Regionalmuseum, das sich der Aufarbeitung der südwestdeutschen Kunst widmet.
Die meisten der dort von mir ausgestellten Künstler habe ich vor meiner Arbeit dort nicht gekannt und sie werden sowohl von den Verantwortlichen in den Staatlichen Museen (Staatsgalerie Stuttgart, Kunsthalle Karlsruhe) als auch von den Kollegen in den Städtischen Museen und Landkreisen selbst zumeist nur als regionale Größen gesehen – selbst dann, wenn diese Künstlerinnen und Künstler einst national und international als bedeutend anerkannt waren.
In vielen Fällen sind diese Urteile sicher nachvollziehbar, doch mir stellten sich mit der Zeit immer mehr Fragen zu den Begründungen und Argumenten dieser Urteile, um so mehr, als mir auch die Begründungen und Urteile für die Hochschätzung anderer, heute angesehener Künstler zunehmend fragwürdig – im wörtlichen Sinne – erscheint.
Sie scheinen mir oft – wie häufig noch die Beurteilungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts vor ca. 40 Jahren – weniger historisch im Sinne einer Geschichtsschreibung, die versucht zu verstehen, was in einer Zeit virulent ist, was Geltung, Bedeutung oder Wirkung gehabt hat, als vielmehr ideologisch, und zwar in dem Sinne, dass sie sich im Widerstreit der zeitgenössischen Auseinandersetzungen auf eine Seite schlägt und deren Argumente zu scheinbar objektiven Maßstäben der Kunstgeschichte macht.
Darüber hinaus werden die Ursachen für diese Parteinahme oft nicht im ausreichenden Maß reflektiert, so wird vollkommen verkannt, wie sehr in vielen Fällen die Rezeption von historischen Umständen, die auch vollkommen anders hätten sein können, bestimmt wird.
Um diesen Gedankengang anschaulich zu machen, beginne ich mit einem Fall, der in den letzten Jahren für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat und stelle diesen in einen größeren Zusammenhang.
Expressionismus und das Dritte Reich – oder vom Glück des Unglücks
„Der Führer ist groß u. edel in seinen Bestrebungen u. ein genialer Tatenmensch.“ — „Den Nationalsozialismus verehre ich als die besondere und jüngste Staatsform, die Arbeit ist zur Ehre erhoben. Und ich habe den Glauben, dass unser großer deutscher Führer Adolf Hitler nur für das Recht und Wohl des deutschen Volkes lebt und wirkt und auch, dass er in ernsten Sachen von Grund auf die Wahrheit wissen will, [… ich bin] stets und immer im In- und Ausland für die große deutsche nationalsozialistische Sache mit vollster Ueberzeugung eingetreten. Ich habe den Eindruck, dass meine um 1910 geführten Kulturkämpfe gegen die herrschende Ueberfremdung in allem Künstlerischen und gegen die alles beherrschende jüdische Macht, jetzt nur noch wenigen bekannt sein möge.“[1]
Adolf Ziegler: Die vier Elemente, vor 1937, Öl/Leinwand, 180 × 300 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne
Emil Nolde: MaskenStillleben III, 1911, Öl/Leinwand, 74 x 78 cm, The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri.
Nun die Frage: Von welchem der beiden Künstler, deren Werke hier zu sehen sind, stammen diese Sätze? Zur Klärung dieser Frage zitiere ich weiter:
„Es wird gesagt, dass meine Kunst von Juden gefördert und gekauft worden ist. Auch das ist falsch. Einzelne versprengte Bilder sind in den späteren Jahren durch den Kunsthandel zu Juden gekommen, im Allgemeinen jedoch bekämpfen sie mich. Die Reinheit und das ursprüngliche Deutsche in meiner Kunst haben sie bespöttelt und nie gewollt. Meine wesentlichen Bilder sind alle in deutschem Besitz, von Deutschen gekauft, die durchaus nicht fremdländisch angekränkelt, sondern bewusst Deutsche sind.“ [2]
Emil Nolde trat schon 1934 der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig bei, die ein Jahr später mit anderen NS-Organisationen der Region die NSDAP Nordschleswig mitbegründeten. Er blieb bis zum Ende des Krieges in der Partei und berief sich immer wieder auf seine Mitgliedschaft. Aus den Jahren 1933 bis 1945 gibt es zahlreiche Dokumente, die belegen, dass Nolde und seine Frau sich für die Ideologie und Politik der Nationalsozialisten begeisterten und die „Machtergreifung“ begrüßten. Nolde hatte lange gehofft, dass die Nationalsozialisten den Expressionismus zur „nordischen“ Staatskunst erklären und dass sie ihn, Nolde, aufs Podest heben würden. Grund dies zu hoffen, hatte er:
In den ersten Jahren des Dritten Reiches gab es heftige Auseinandersetzungen um den Expressionismus als Deutscher Kunst. Es gab ebenso viele und gewichtige Befürworter wie Gegner. Kreise um Goebbels, den späteren Kulturminister Bernhard Rust und Reichsjugendführer Baldur von Schirach versuchten, die Kunstpolitik des Regimes für den Expressionismus zu gewinnen.
Im Dezember 1933 schrieb Joseph Goebbels in einem in der deutschen Tagespresse veröffentlichten Glückwunschtelegramm „namens der deutschen Künstlerschaft“ an den norwegischen Maler Edvard Munch, daß dieser als der „kraftvolle, eigenwillige Geisterbe nordischer Natur“ geschätzt werde und sein Werk „nordischgermanischer Erde entsprossen“ sei.[3]
Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise äußerte im März 1933: „…daß Nolde und Barlach nicht nur die besten und am meisten norddeutsch-bodenständigen, sondern zugleich auch im revolutionären Sturm ihres gefühlsbetonten intellektfremden Schaffens diejenigen Meister sind, die mit geistigen Waffen in der gleichen Richtung längst vorgestoßen sind, in der jetzt auf politischem Gebiet die jungen deutschen Führer ihr Ziel erkennen“.[4]
Die führenden Kader des Nationalsozialistischen Studentenbundes sahen Heckel, Nolde, Rohlfs, Schmidt-Rotluff, Barlach, Kolbe und Lehmbruck als – Zitat: „die Vorläufer der Kunst, die der Nationalsozialismus in ihrem Geist fortsetzen wolle“.
Ende Oktober 1933 wurde die Zeitschrift „Kunst der Nation“ ins Leben gerufen, mit der erklärten Absicht, „avantgardistische Kunst und nationalsozialistische Politik zueinander ins Verhältnis zu setzen, beide gar als Ausdruck des gleichen Strebens in verschiedenen Gebieten zu deuten“. — „In philosophischer Hinsicht bildete Nietzsche, in künstlerischer der Expressionismus, in politischer der Nationalsozialismus den Bezugspunkt ihres Denkens.“[5]
Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Doch schließlich kam es anders, weil sich die Fraktion von Hitlers Blut-und-Boden-Ideologe Alfred Rosenberg durchsetzen konnte, vor allem aber das „größte Kunstgenie aller Zeiten“: Hitler persönlich beendete nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, bei denen er sich noch liberal geben wollte, die Debatte, indem er den Expressionismus als degeneriert ablehnte. Goebbels ließ daraufhin auch jene Nolde-Werke abhängen, die bis dahin seine Privatwohnung geschmückt hatten.
Und so wars nichts für den Expressionismus und auch Nolde wird, zu seinem Entsetzen, von den Nationalsozialisten nicht erhört. Im Jahr 1937 werden mehr als tausend seiner Werke aus deutschen Museen konfisziert, knapp fünfzig davon in München auf der Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Nolde, der ungeheuer erfolgreich in der Weimarer Republik gewesen war, verkauft trotzdem weiter, gut sogar. Als er 1940 mehr als 52.000 Reichsmark einnimmt, wird er aus der Reichskammer der Bildenden Künste ausgeschlossen – erst möchte man sagen, das ist anderen viel früher geschehen. Die Zurückweisung traf Nolde hart. Erst nach dem Krieg wurde zu seinem Glück, was bis 1945 sein Unglück war.
Und damit kommen wir zum Punkt: Was wäre gewesen, wenn sich die Pro-Expressionismus-Fraktion im Dritten Reich durchgesetzt hätte, wenn sie Hitler überzeugt hätten?
1) Wie hätten sich expressionistische Künstler jüdischen Künstlern gegenüber verhalten – Nolde z.B. hat immerhin versucht seinen Künstlerkollegen Max Pechstein als „Juden“ zu denunzieren.[6] –oder konservativen Abweichlern wie dem heute als „Reichsschamhaarmaler“ apostrophierten Adolf Ziegler gegenüber? Und wie würden wir heute über diese urteilen, wenn sie statt der Expressionisten wegen ihres kaum deutsch zu nennenden klassizistischen Gehabes angegriffen worden wären?
Nolde ist der – der inzwischen bekannteste und berüchtigste (dazu Anmerkung unten) – Extremfall unter den schließlich verfemten Malern, aber auch Ernst Ludwig Kirchner hebt in Schreiben an deutsche Kunstfunktionäre Mitte der dreißiger Jahre das Deutsche an seiner Kunst heraus, und er distanziert sich in dem Moment vom Expressionismus, als klar wird, dass dieser im Regime nicht mehr zu halten sein wird.[7]
2) Wie würden wir heute über den Expressionismus sprechen, wenn er schließlich nicht verfemt, sondern tatsächlich vom Regime als deutsche Staatskunst propagiert worden wäre, wie Nolde es sich wünschte?
Nun, wir wissen, dass das Gegenteil eintrat – und dass der Expressionismus nach dem Krieg nicht nur rehabilitiert wurde, sondern tatsächlich und ausgerechnet als der DEUTSCHE Beitrag zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts aufs Schild gehoben wurde und mit ihm das gute Gefühl auch auf der richtigen Seite zu stehen und für Gerechtigkeit zu sorgen.
Doch wie gerecht gings nach dem Krieg tatsächlich zu? Nicht nur in Verwaltung und Justiz setzten Nazi-Chargen ihre Karrieren fort, auch zahlreiche regimetreue Künstler erfreuten sich nach dem Krieg einer ungebrochenen Laufbahn. Viele aber, die behindert, verfemt und verfolgt worden waren, waren nicht mehr in der Lage, weiterzumachen oder wurden nicht in derselben Weise rehabilitiert wie die heute berühmten Expressionisten der Brücke und des Blauen Reiters – wovon zum Beispiel das Künstlerehepaar Maria Caspar-Filser und Karl Caspar betroffen ist, sie noch weit mehr als er, was im Folgenden gezeigt wird.
— Fortsetzung folgt —
Hinweis:
Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich mit einigen Varianten mehrfach zwischen 2011 und 2016 gehalten habe. Für diese Publikation im Blog ist er nur unwesentlich überarbeitet worden, und das obwohl — nein gerade weil — in mehreren Fällen, die hier beispielhaft vorgestellt werden, einige Bewegung in die Bewertung gekommen ist. Gerade darin zeigt sich die Aktualität der hier geäußerten Überlegungen.
Das betrifft insbesondere Emil Nolde, dessen Gesinnung aufgrund der Ausstellungen und Publikationen seit 2013 nun wirklich allen massiv vor Augen geführt wurde. Sie war zwar auch schon zuvor weitestgehend bekannt und belegt, was aber bis dahin in der öffentlichen Debatte noch nicht genug durchgedrungen war.
Die Zusammenfassung der neueren Forschungsergebnisse dazu auf der Seite der Nolde-Stiftung, Seebüll: https://www.nolde-stiftung.de/der-kuenstler-im-nationalsozialismus/
Auch in den Fällen der deutschen Malerstars der letzten Jahrzehnte, allen voran Georg Baselitz, Gerhard Richter oder Anselm Kiefer, die von mir zum Ende meiner Überlegungen exemplarisch für die Frage nach künftigen Wandlungen der Reputation herangezogen werden, zeichnen sich im Zuge aktueller gesellschaftlicher Tendenzen Neubewertungen ab. Beispielhaft hierfür diese Ausstellungskritiken:
Elena Korowin in Monopol: https://www.monopol-magazin.de/richter-kiefer-polke-baselitz-stuttgart
Hanno Rauterberg in der ZEIT: https://www.zeit.de/2019/17/die-jungen-jahre-der-alten-meister-kuenstler-ausstellung
[1] Emil Nolde, Brief an an den norwegischen Kunsthistoriker Henrik Grevenor in Oslo, November 1933, zit.n. Stefan Koldehoff: „Noldes Bekenntnis“, in ZEIT, 42, 10. Oktober 2013, online: http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus.
[2] Emil Nolde, Brief an Joseph Goebbels, 6.12.1938, zit. n. Koldehoff, wie Anm. 1.
[3] Joseph Goebbels: Glückwunschtelegramm an Edvard Munch zum 70. Geburtstag, zit. n. Christoph Zuschlag: „Entartete Kunst“: Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland. Worms: Werner 1995 (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N.F., 21), S. 45.
[4] Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Schleswig-Holsteinische Graphik“ im Behnhaus, 26.03.1933. Zit. n. Zuschlag wie Anm. 3, S. 45.
[5] Stefan Germer: „Kunst der Nation. Zu einem Versuch, die Avantgarde zu nationalisieren“, in: Bazon Brock und Achim Preiß (Hrsg): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 28.
[6] Bernhard Fulda und Aya Soika: Max Pechstein: The Rise and Fall of Expressionism, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 302.
[7] von Bülow: „Der Fall Kirchner. Provenienz und Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene“, in: Uwe Fleckner (Hrsg.): Das verfemte Meisterwerk. Berlin: Akademie-Verlag 2009 (Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“), S, 548–549.
Sixtinische Kapelle, Vatikan, Rom, mit Wand- und Deckenmalereien sowie Ausstattung unterschiedlicher Künstler, darunter Botticelli und Michelangelo Foto: Wikimedia Commons
Immer wieder und insbesondere seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts wird mit besonderem Nachdruck in verschiedensten Darstellungen zu Qualitäten großer Kunst die Auffassung vertreten, alle große Kunst sei einfach, alle große Kunst strebe zur Vereinfachung usw. in ähnlichen Formulierungen.
Aber weder die Verbreitung dieser Behauptung noch ihre Wiederholung trägt dazu bei, sie zu bestätigen und zu bewahrheiten. Sie bleibt falsch, ist zu kurz gedacht und gefasst und grob simplifizierend – was sonst – allerdings damit der Behauptung selbst höchst angemessen.
Darin aber offenbart sie auch schon in These und Formulierung ihre ideologische Grundlage und Ausrichtung. Sie dient zugleich in allen Fällen, in denen sie mir schriftlich und mündlich begegnet ist, als legitimatorisches Instrument der jeweiligen Argumentation.
Da es so viele Künstler und Künstlerinnen, Autoren und Autorinnen sind, die sich ästhetisch, historisch, theoretisch oder philosophisch in dieser Weise äußern – darunter auch zahlreiche von mir außerordentlich geschätzte – kann hier durchaus von einem Gemeinplatz der zeitgenössischen Ästhetik und Kunsttheorie gesprochen werden.
Auch diese Tage ist sie mir wieder im persönlichen Gespräch zu Ohren gekommen – und daher ein Anlass gegeben, ihr wenigstens einige korrigierende Anmerkungen entgegenzustellen, wobei die bloße Nennung all der offensichtlichen Fakten im Folgenden schon Argument genug sein müsste, diese Behauptung zum Verstummen zu bringen. Dies sind für den Moment die folgenden:
Ja, es gibt großartige einfache Kunst – genannt sei etwa die früher Hochkulturen, die archaische Kunst in Griechenland oder die der Romanik in Europa. Doch diese beruht – wie wir etwa von Anthropologie, Soziologie oder Religionswissenschaften lernen können – auf einer komplexen Basis und bezieht diese in ihre Gestaltung und Motivik ein.
Wenn diese These stimmen würde, dann wäre der größte Teil der europäischen Kunst, Literatur, Philosophie etc. von minderer Qualität, da Komplexität eines der wesentlichen Charakteristika und eine der grundlegenden Tendenzen der gesamten europäischen Kunst- und Kulturgeschichte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bildet.
Nach dieser These wären etwa die gotischen Kathedralen oder sämtliche Barockkirchen mit ihren überbordenden Dekoren und Innenausstattungen ebenso keine große Kunst wie die Werke von Dürer und Michelangelo, von Rubens und Rembrandt, von Gentileschi und Kauffmann, bis zu Duchamp und Theaster Gates, zu Oppenheim und Kwade etc. etc.
Was in gleicher Weise für Werke in anderen künstlerischen Feldern – Literatur, Theater, Musik usw. – gilt, von denen hier nicht die Rede ist. Lassen wir den Blick über den Horizont der Kunst hinaus schweifen, zeigt sich vor allem eins:
In der Entwicklung der Menschheit vollzieht sich nichts anderes als ein steter Zuwachs an Komplexität. Dasselbe gilt für die wesentlichen Handlungsfelder der Menschen in ihren Zivilisationen, in den Prozessen der Herausbildung und Ausdifferenzierung von Politik, Kultur, Wissenschaft etc. – insgesamt und in jedem einzelnen lassen sich die zunehmend komplexen Eigenschaften belegen und nachvollziehen.
Im Bereich der Kultur und Kunst besteht eine wesentliche Leistung damit darin, dieser Komplexität „gewachsen“ zu sein, sie in der Sache, in den Materialien und Verfahren sowie in ihren Ausdrucksformen zu erfassen, zu bewältigen, zu gestalten und zu reflektieren.
Dazu gehört auch – und damit sind wir wieder bei der reduktionistischen Grundthese – den Fokus auf spezifische Strukturen zu legen, auf einzelne Gesetzlichkeiten, auf Teilaspekte des Ganzen usw., also sich aus der Komplexität etwas auszugucken, was für sich genommen, ausschließlich betrachte und in ein besonderes Licht gestellt wird.
Generell gilt, auch für die komplexesten Kunstwerke, Schriften (seien sie philosophisch, wissenschaftlich, theoretisch, literarisch etc.), dass Reduktion von Komplexität zur Überführung in ein Werk notwendig ist. Komplexitätsreduktion ist als grundlegendes Prinzip jedes künstlerischen Ausdrucks tatsächlich unabdingbar, da ohne diese gar keine Darstellung bzw. Gestaltung der Welt möglich wäre.
Jede Kunstform reduziert bzw. abstrahiert notwendigerweise die tatsächlich gegebene Komplexität der realen Welt und in ihr möglichen Manifestationen menschlicher Gestaltungsfähigkeit. Ohne Komplexitätsreduktion keine Darstellung und Deutung der Welt, das gilt genauso für jede philosophische Reflexion, jede wissenschaftliche Disziplin usw.
Eine radikale Auswahl aus dieser Fülle und Reduktion ihrer Darstellung stellt mithin eine von vielen Möglichkeiten im Umgang mit der komplexen Vielfalt der Wirklichkeit mit all ihren Zusammenhängen, Kontingenzen und Widersprüchen dar.
Was also all diesem Reden von der Einfachheit und den Behauptungen von ihrer grandiosen Überlegenheit fehlt, ist ein Bewusstsein und die Wertschätzung dafür, welche Wirklichkeit und Bedeutung Komplexität als solche hat – als Grundlage unserer Existenz und Lebensweise ebenso wie als Wirkungseffekt unseres menschlichen Handelns, als Gattung wie als Individuum.
Gerade in Zeiten, in denen die Vorstellung um sich greift, alles ließe sich für alle bis zu einem ideellen Nullpunkt vereinfachen und damit wäre auch die Forderung an alle in einem Feld Tätigen legitim, diesen Vereinfachungsprinzipien zu folgen, braucht es den deutlichen Hinweis auf den mit offenen Augen unübersehbaren Umstand, dass es sich bei dieser Vorstellung um eine Illusion handelt.
Diese Feststellung wiederum bleibt völlig unberührt von dem anderen Umstand, dass sich in vielen Feldern (v.a. Verwaltung, Bürokratie, Politik, Recht) Strukturen und Ausdrucksweisen herausgebildet haben, die einer Reduktion leicht zugänglich wären, dringend bedürften.
Aber für die Felder von Kultur und Wissenschaft braucht es ein Plädoyer für die Komplexität. Denn sie zu erleben, zu erfahren und zu erkennen heißt, die Welt und sämtliche ihrer Manifestationen anzuerkennen und anzunehmen – gerade in ihrer Vielfalt und Offenheit, ihren Uneindeutigkeiten und Widersprüchen.
All die schillernden Ambivalenzen, mit denen wir unablässig konfrontiert sind und zu denen wir jeweils ein eigenes Verhältnis und einen persönlichen Umgang finden müssen, stellen keine individuellen Probleme einzelner dar. Sie sind die Resultate universeller generativer Prinzipien. Sie ergeben sich unablässig und unausweichlich aus dem schöpferischen Wirken der Komplexität.
Sie bringt die unendliche Fülle der Welt zum Leuchten.
Gedanken beim ersten Blättern in Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne
Mit diesem Text beginnt – so hoffe ich – eine neue Reihe von Betrachtungen, die sich – sofern sich das Vorgehen als sinnvoll erweist und daraus gehaltvolle und substanzielle Einsichten gewonnen werden können – in ähnlicher Weise auch anderen Kunstwerken, Bildformen, kunst- und kulturhistorischen Publikationen, Reflexionen zur Ästhetik und Poetik, und so weiter und so fort, widmen sollen und derart einen eigenen Raum zum gedanklichen Experimentieren eröffnen.
Die Eigenart dieser einführenden Betrachtung besteht zunächst darin, dass sie sich offen zu einer Art Halbwissen bekennt, die jeder und jedem im eigenen Bereich anspruchsvoll und professionellen Tätigen vertraut ist und üblicherweise nicht öffentlich ausgestellt wird – was meist auch weder nötig noch sinnvoll ist.
Umso weniger, so scheint es, wenn sich jemand vornimmt, darüber zu schreiben. Denn in diesem Fall besteht die Möglichkeit, sich die fehlende Kompetenz, die einem selbst noch nicht bekannten relevanten Kenntnisse zum Thema und seinen einzelnen Objekten und Motiven anzueignen, bevor der Text darüber erdacht, geschrieben, formuliert, redigiert und schließlich publiziert wird.
Es handelt sich dabei um nichts anderes als um wissenschaftliches Vorgehen, mithin um das, was jemand wie ich, der Kunstgeschichte studiert hat und seit Jahren professionell betreibt, verinnerlicht hat und als völlig selbstverständlich für sich selbst als Grundlage der eigenen Arbeit und öffentlichen Beiträge voraussetzt.
Dennoch kann es aus höchst unterschiedlichen Motivationen, Gründen und Zielsetzungen auch einmal sinnvoll und geboten sein, dies übliche Vorgehen auszusetzen und sich ohne weitere Vorbereitungen – die ja immer auch Absicherungen sind – einem Gegenstand zu widmen und ohne Zaudern und Sorge das anderen gegenüber zu äußern, was einem auf Grundlage seiner bisherigen Kenntnisse, Erfahrungen und Überlegungen in den Sinn kommt und soweit als sagbar erachtet wird, dass die inneren Überprüfungen im Hinblick auf Plausibilität, Gehalt und eigenem Anspruch, also Qualität, standhält.
Im schlimmsten Fall offenbart sich ein zuvor unvermuteter Umfang genereller Unkenntnis oder Gedankenlosigkeit des Autors, die kaum zu substanziellen Einsichten jenseits bisher bekannter führen wird. Im besten Fall ist das Verfahren geeignet, tatsächlich unvermutete und eigenartige Sichtweisen hervorzubringen, die wiederum neue Einsichten und Erkenntnisse ermöglichen – und dies eben aus dem Zusammenspiel von erstens, dem vorhandenen allgemeinen Wissensfundament in dem betrachteten Feld, zweitens der eingestandenen Unkenntnis der konkreten Fakten und Eigenarten des jeweils betrachteten Objekts und schließlich der individuellen Sichtweise von mir als Betrachter und Autor.
Anlass für all diese Überlegungen und Auslöser für das gewählte Vorgehen, ist der Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg. Er ist für mich besonders geeignet als Einstieg in diese Überlegungen und gedanklichen Experimente.
Die Betrachtungen darüber beginnen mit dem nächsten Beitrag.
Schrift – als lesbares Zeugnis der Welt und als gestalterisches bildnerisches Element – gehört zu den markanten Gestaltungsmitteln in Beckmanns Malerei, stellt Petra Kipphoff in ihrem Essay fest: „Immer wieder tauchen auf den Bildern von Max Beckmann Buchstaben, Wortfetzen, einzelne Wörter, Zeilen, Noten oder ganze Schriftseiten auf, die auf ein Buch, eine Institution, eine Zeitung, ein Hotel, eine Champagnermarke hinweisen.“ (S. 10)
Ausgiebig schildert sie Beckmanns Gebrauch des Wortes in seinen bildnerischen Werken und erläutert, wie sehr insbesondere diese Schriftelemente zur Verankerung des Geschehens in der „Realität des zeitgenössischen Alltags“ (S. 13) eingesetzt werden.
Zur Sichtbarkeit der Welt gehört für den Maler auch immer schon die Lesbarkeit der Welt, sowohl im übertragenen Sinn als auch im Wörtlichen. Der Maler Beckmann schildert als genauer Beobachter die sichtbare Welt und zu dieser gehört auch die Wirklichkeit des Wortes und dessen Materialisierung in den diversen Textmedien. Sehen und Lesen gehen befruchtend und bereichernd ineinander und bilden gleichermaßen Quellen und Motive in seiner Malerei.
Der Maler als Leser
Wie seine Bilder sind Beckmanns Texte voller literarischer Anspielungen und Verweise. In ihnen offenbart er sich als intensiver Vielleser. „In der Biographie keines anderen Künstlers gibt es wohl so zahlreiche und kontinuierliche Hinweise auf eine so vielfältige Lektüre.“ (S.27)
„So ist es, meine Seele ist vollständig verseucht durch Lesen. Sie hat ihre Keuschheit verloren.“
Max Beckmann: Frühe Tagebücher, Eintrag vom 15. oder 16. April 1904
Seine persönliche Bibliothek, die er selbst im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, umfasste in den letzten Jahren etwa 600 Bücher. Ihre Zusammenstellung gibt seine Interessen und literarischen Neigungen klar zu erkennen. Neben literarischen Werken finden sich hier Publikationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten, Natur- und Geisteswissenschaften sowie insbesondere der Philosophie und der Theosophie.
Seinem im bildnerischen Werk allgegenwärtigen und von Kipphoff gleich zu Beginn ihres Essays herausgestellten „Hang zum Drama“ entsprechend, finden sich hier die großen Epen und Dramen der antiken Literatur, darunter Homer, Aischylos, Sophokles, ebenso wie die Stücke von William Shakespeare. Tatsächlich hat er daraus zahlreiche unmittelbare Anregungen für Themen und Motive und seinen Gemälden gefunden, insbesondere für seine großen Triptychen.
Wie für seine Altersgenossen spielten für Beckmann die philosophischen Schriften Schopenhauers und Nietzsches eine wichtige Rolle – die er allerdings mit merklicher Distanz und zeitweiliger Ironie aufnimmt und entsprechend ausgiebig kommentiert – sowie die damals wirkungsmächtigen theosophischen Schriften der Okkultistin Helena Blavatsky, denen sich Beckmann ausgiebig widmete, allerdings – und das ist das Erstaunliche, wie Kipphoff zu Recht hervorhebt – ohne dass diese Lektüren Eingang in sein Schreiben gefunden hätten oder in irgendeiner Weise nachweisbar in seine Bildwelt eingedrungen wären.
Im Bund mit Titanen
Unter den literarischen Autoren bilden die Werke von Jean Paul mit 21 Titeln den größten Bestand in Beckmanns Bibliothek. Diese Vorliebe konstatiert Kipphoff mit einiger Verblüffung: „…aus der eigenen Zeit gefallen scheint er mit seiner Leidenschaft für Jean Paul…“ (S. 37)
Auf Jean Paul nimmt Beckmann im Unterschied zu Blavatsky in seinen Tagebüchern und Briefen häufig Bezug, und er verschafft dessen Themen und Motiven auch Auftritte in seinem bildnerischen Werk. So platziert Beckmann dessen großes Romanepos Titan auffällig in seinem Strandbild Badekabine (grün) von 1928. In anderen Werken finden sich in Bildaufbau, Themen und Motiven zahlreiche Anspielungen zu Jean Paul, besonders deutlich im Schauspieler-Triptychon, das Beckmann 1941–1942 im Amsterdamer Exil gemalt hat.
Beckmanns Vorliebe für Jean Paul steht exemplarisch für sein gesamtes literarisches Interesse. Er begeistert sich für Werke, in denen die Protagonisten für das Erreichen ihrer Ambitionen äußerliche Hindernisse überwinden und innerlich mit sich selbst ringen müssen. Werke, die sich durch Vielstimmigkeit ihrer Figuren ebenso auszeichnen wie durch ihre jeweils eigene Mischung von Humor und Heiterkeit, von Absurditäten und Abgründen. Werke, in denen genaue Beobachtung und überbordende Fantasie zu gleichem Recht kommen.
Wie in der Kunst sucht er hier in großen Epen, Dramen und Romanen das Schauspiel des Lebens zu fassen. Und dementsprechend liebt er Romane, die all dies vereinigen, wie die von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, von Fjodor Dostojewski und Gustave Flaubert, von Joseph Conrad und Thomas Wolfe. Allesamt Autoren, denen selbst eine prometheische Vermessenheit, ein geradezu titanisches Streben nach Größe eigen ist.
Die literarischen Vorlieben Beckmanns lassen sich in einem Satz von Kipphoff zusammenfassen: „Auch in den wörtlichen Bildern hat Beckmann eine Vorliebe für das Grandiose, dazu noch das Phantastische.“ (S. 68)
Dieser Satz stimmt genauso für seine Lektüren wie für seine eigene Art zu schreiben, die Kipphoff mit diesen Worten charakterisiert. Immer wieder steigen neben nüchternen Schilderungen und schlichten Beobachtungen bewegte Bilder auf, lebhaft erzählt, dramatische Szenen mit phantastischen Motiven, mal poetisch, mal drastisch, mal grotesk. In seinen Tagebücher und Briefe findet sich eine Fülle solcher Szenen.
Krasse Dramen
Das gilt auch für seine literarischen Dichtungen. In den zwanziger Jahren schrieb er das Schauspiel Das Hotel und die Komödie Ebbi, für Kipphoff „zwei krasse kleine Dramen“, in denen er sich den Abgründen der Gesellschaft zwischen Luxus und Elend, Vergnügen und Verbrechen annimmt, also genau jenen Themen, die auch sein bildnerisches Werk beherrschen.
„Ich liebe das Erhabene und das Lächerliche. Das Normale und das Groteske. Jede Form des Lebens, denn meine Sehnsucht ist, etwas Lebendiges zu machen.“
Max Beckmann in seinem Beitrag zur Umfrage „Das neue Programm“ der Zeitschrift Kunst und Künstler, Nr. 12, 1914, zit.n. Kipphoff, S. 47
Wobei Kipphoff zum Schluss kommt, dass Beckmanns Darstellungen in Bildern denen im Text überlegen sind, dass „der Künstler dieses Kräftemessen mit dem Autor gewinnt.“ (S. 70) Außerdem bleibe in allem Literarischen und auf alles Literarische der Blick des Malers beherrschend. Genauso wie in der Wahrnehmung der Dramen des Lebens. Kipphoff zeigt, wie Beckmann „im Text immer auch als Maler reagiert“. (S. 75)
Artist und Schauspieler
Der Maler wiederum agiert durchgehend als Dramatiker. Die Welt ist für Max Beckmann eine Bühne, auf der das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird. Seine Sehnsucht etwas Lebendiges zu machen realisiert der Maler Max Beckmann als Autor von Bühnenstücken in Bildern. Hier vollzieht sich das menschliche Schicksal als Rollenspiel, mal als Tragödie, mal als Komödie, mal als Farce, mal als Zirkusnummer in der Manege.
Der Künstler Beckmann versteht sich dabei nicht als Regisseur oder Zirkusdirektor, der hinter der Bühne das Regime führt, er sieht sich selbst als Figur in diesem Spiel. Als Artist oder Schauspieler seiner selbst tritt er in seinen zahlreichen Selbstbildnissen in seinem Werk auf. Allein oder im Ensemble spielt er in wechselnden Kulissen die unterschiedlichsten Rollen in den kleinen und großen Dramen des Lebens. Kipphoffs eindringlicher Essay vermittelt das Bild eines Künstlers, dessen gesamtes Weltverständnis theatralisch ist und der seinen Ausdruck dafür gleichermaßen in sprachlichen wie in bildnerischen Gestaltungsformen sucht.
Das Mysterium des Raums
Wobei für Beckmann das Bild dem Text gegenüber einen entscheidenden Vorzug hat: Theater und Zirkus, Bühne und Manege werden in ihm nicht nur metaphorisch zu evoziert. Das Bild macht sie in ihrer Eigenschaft als real existierende Räume anschaulich, in denen das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird. Damit kommt hier die Dimension ins Spiel, die für Beckmanns Welt- und Kunstverständnis fundamental ist: der Raum.
„Zeit ist eine Erfindung der Menschen, Raum ist der Palast der Götter.“
Max Beckmann: Drei Briefe an eine Malerin, 1948, zit. n. Kipphoff, S. 113
Der Raum ist für ihn die unfassbare Realität, der jede Erscheinung, jedes Erleben zugrunde liegt: „Raum, dessen wesentliche Bedeutung identisch ist mit Individualität, oder das, was die Menschen Gott nennen. Denn im Anfang war der Raum, diese unheimliche und nicht auszudenkende Allgewalt.“ Dieses Mysterium des Raumes sinnlich erlebbar und begreifbar zu machen, darin besteht für Beckmann das besondere Vermögen des Bildes.
Berufung und Bekenntnis
Für Max Beckmann besteht die große Herausforderung und der Auftrag des bildenden Künstlers wiederum darin, diese Wirklichkeit des Raumes als Lebenswelt in den verschiedenen Bildmedien – Malerei, Zeichnung, Graphik – zu erfassen und darzustellen.
Die Darlegung seiner Raumauffassung und der daraus resultierenden künstlerischen Notwendigkeiten bildet eine der zentralen Passagen seines 1948 gehaltenen Vortrags Drei Briefe an eine Malerin. Wie in diesem Vortrag hat Max Beckmann sich seit seinen künstlerischen Anfängen immer wieder öffentlich zu Fragen der Kunst allgemein geäußert, zu ihrer Rolle und der des Künstlers in der Gesellschaft Stellung bezogen und über seine Malerei und sich selbst Auskunft gegeben – mal aus eigenem Antrieb, mal weil er darum gebeten wurde. Seine persönlichen künstlerischen Ansichten hat er von Beginn an mit Nachdruck öffentlich gemacht.
Auf diese programmatischen Selbstäußerungen Beckmann geht Kipphoff entsprechend in mehreren Kapiteln ausführlich ein. Dabei macht sie auch deutlich, dass er bei aller Selbstbefragung im Persönlichen in der Darlegung seiner künstlerischen Überzeugungen weder Zögern noch Zweifel kennt: „Was Beckmann programmatisch schreibt und vorschreibt, ist so rigide wie autoritär.“ (S. 55) – Das lässt sich allerdings von ziemlich allen avantgardistischen Künstlern und ihren Manifesten sägen lässt. Hier fügen sich Beckmanns Bekenntnisse und programmatische Texte vollständig in den Kontext der zahllosen künstlerischen Manifeste der Zeit.
„Max Beckmann war immer ein dezidierter Einzelgänger mit einer deutlich artikulierten Meinung.“
Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber, S. 19
Völlig richtig verweist sie zunächst darauf, dass Max Beckmann in seinen frühen Jahren „in totaler Gegnerschaft zu fast allen Künstlern“ stand, die den überkommenen Realismus ablehnten und – unter dem Banner der Abstraktion – die Kunst von ihren bisherigen Traditionen, Formen und letztlich der sichtbaren gegenständlichen Welt als Grundlage loslösen wollten. (S. 42)
Die Abstraktion im Sinne ungegenständlicher Kunst blieb ihm stets fremd, da für ihn der Mensch und sein Schicksal im Zentrum alles Strebens und Wirkens stand, weil dazu unverzichtbar auch der Raum gehörte, in dem sich alles Menschliche ereignet, und weil für ihn im Sichtbaren sich das Mysterium des Unsichtbaren offenbart.
Realität, Lebendigkeit, Raum, Individualität, Seele – das sind die Schlagwörter, die sich als Leitmotive durch seine schriftlichen Stellungnahmen ziehen. Wie bei Beckmann aus dem Eintauchen in diese Dimensionen der Existenz und des Menschlichen für ihn schließlich – durchaus in paradoxer Weise – die Transzendenz hervorgeht, die dem Kunstwerk erst Gültigkeit und Dauer verleiht, schildert Kipphoff in ihrem Essay eingehend.
„Ferne Zukunft? Gegenwart will ich, was sonst.“
Max Beckmann: Randbemerkung zu Friedrich Nietzsche: Zarathustra, zit. n. Kipphoff, S. 34
Wirken mit Worten
Angesichts des von Kipphoff geschilderten Umfangs und der Bedeutung der Schriften von Max wäre es sehr verwunderlich, wenn sie – wie es in der Ankündigung der Publikation heißt – , bisher kaum Beachtung gefunden hätten.
Im Gegenteil: Beckmann selbst hat zahlreiche Schriften schon zu Lebzeiten veröffentlichen lassen. Der größte Teil seiner überlieferten schriftlichen Äußerungen ist postum sukzessive publiziert worden. Zudem sind einige Dokumente und Schriften wiederholt in Ausstellungskatalogen abgedruckt oder ausgiebig zitiert worden. Vor allem aus Anlass des 100. Geburtstags von Max Beckmann im Jahr 1984 wurden Bücher mit seinen Schriften erstmals veröffentlich oder neu aufgelegt.
Sowohl aus der Darstellung wie aus den herangezogenen Quellen wird in Kipphoffs Buch ersichtlich, dass Beckmanns schriftliche Zeugnisse seit jeher fester Bestandteil der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit ihm und der Würdigung und Interpretation seines künstlerischen Werkes gewesen sind. Wie mit seinen bildnerischen Werken hat Max Beckmann mit seinen Schriften und öffentlichen Reden anhaltende Resonanz gefunden.
Mit ihrem Buch hat Petra Kipphoff als Erste die Schriften Max Beckmanns in den Fokus gerückt und sie in ihrer besonderen Eigenart gewürdigt. In ihrem feinsinnigen Essay führt Kipphoff nachdrücklich vor Augen, wie essentiell für Beckmann das Schreiben und das Gestalten in Worten waren, als Instrumente der Selbstverständigung und als schöpferische Ausdrucksmittel.
Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber. Springe: zu Klampen 2021 128 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86674-805-7 Preis 20,- € Hardcover, 15,99 € E-Book Link zur Verlagsseite