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Travestien und Tragödien

Titel der Erstausgabe von Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Eine Gesellschaftsbiografie, 1937

Über Siegfried und Elisabeth Kracauer

– III –
Diktatur der Ekstase und des Terrors

Zu den beiden vorhergehenden Teilen geht es hier: 
I – Die Massen und die Einzelnen
II – Vom Olymp zur Operette

Das Leben unter einer Diktatur als Operette – Es gibt in meinen Augen keine bessere Darstellung und Analyse des Geists der Epoche im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs als die von Siegfried Kracauer in seinem Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Eine Gesellschaftsbiografie.

Es ist ein Buch, in dem die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse äußerst lebendig schildert und analysiert. Dieses Buch war für meine Magisterarbeit ebenso wichtig wie für meine Doktorarbeit mit dem Titel Heldendarsteller. Die Legende vom modernen Künstler, in der neben Gustave Courbet ebenfalls Manet die zentrale Gestalt ist.

In einem Zitat zusammengefasst zeigt Kracauer, dass die Operette sich durchsetzte,

„weil die diktierte Gesellschaft selbst operettenhaft war. Diese Musik spiegelte die kaiserliche Ära, ihren Popanz, ihre Frivolität und ihre Dekadenz. Andererseits beteiligte sie sich auch an der inneren Zersetzung des Regimes; sie half, es zu sprengen.“

Jörg Später: Siegfried Kracauer. Eine Biographie. Frankfurt: Suhrkamp 2016, S. 328

Konzentriert auf Frankreich und das Zweite Kaiserreich war mir ein zentraler Aspekt an Kracauers Buch vollständig entgangen, als ich es für meine wissenschaftlichen Arbeiten heranzog: der Bezug zu seiner Gegenwart, die Verbindung vom französischen Zweiten Kaiserreich zum deutschen Dritten Reich – aus dem der Jude Kracauer mit seiner ebenfalls jüdischen Frau Elisabeth fliehen musste.

Er ging mit ihr nach Frankreich, nach Paris. Dort ging es ihnen ziemlich schlecht, sie kämpften um ihr ökonomisches Überleben – und gleichzeitig versuchten Sie ihre Arbeit fortzusetzen. Zu dieser Arbeit gehörte sein Buch über die Operettenhaftigkeit des Zweiten Kaiserreichs, die ihm als Analogie zur Analyse des Dritten Reiches diente. Wo Louis Napoleon steht ist Hitler gemeint:

„Freud und Glanz, so lautete auch die Devise Louis Napoleons. In ihrem Dienst übte er zunächst einen maßlosen Terror gegen alle diejenigen aus, die den Glanz und die Freude hätten trüben können. Zehntausende von Sozialisten, Republikanern und Mitglieder geheimer Gesellschaften wurden nach dem Staatsstreich auf höchst summarische Weise verhaftet und wie gemeine Verbrecher deportiert oder in die Verbannung geschickt. […]“

Siegfried Kracauer: Jaques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt: Insel 1980, S. 129

Nach der Gewinnung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen galt es

„den Taumel zu verewigen, die Nation so in Atem zu halten, dass sie gar nicht zur Besinnung gelangen konnte.“

Die Beherrschten wiederum

begehrten danach, von der Wirklichkeit erlöst zu werden, […]. Louis Napoleon hatte das unwahrscheinliche Glück, an eine Gesellschaft zu geraten, die einer Phantasmagorie nachjagte.“

Siegfried Kracauer: Jaques Offenbach und das Paris seiner Zeit, 134 ff. Zit. n. Jörg Später, S. 326-327

Die Zusammenhänge mit der Entstehung des Buches im Exil in Paris, das denn auch nicht in Deutschland, sondern in Amsterdam verlegt worden ist, gingen mir erst auf, als ich aufgrund der Begegnung mit den Werken von Hanns Ludwig Katz in der Kunsthalle Emden mich mit dieser Beziehung und mit ihrer Situation in der nationalsozialistischen Diktatur befasste.

Hanns Ludwig Katz: Bildnis Elisabeth Kracauer-Ehrenreich,
1935, Gemälde, 130 x 95 cm, Kunsthalle Emden
Abbildung: Ausstellungskatalog Hanns Ludwig Katz, Jüdisches Museum Frankfurt und Kunsthalle Emden, hrsg. v. Jüdschen Museum Frankfurt, Köln: Wienand 1992, S. 177

Wie in einem Brennpunkt bündelt das von Katz im Jahr 1935 gemalte Bildnis von Elisabeth Kracauer, seiner Schwägerin, das Beziehungsgeflecht und die existenzielle Lage aller betroffenen Personen – Elisabeth und Siegfried, Hanns Ludwig und Franziska. Katz malte dieses Bild, nachdem er das im Exil lebende Ehepaar Kracauer in Paris besucht hatte. Elisabeth sitzt zwischen Tisch und Fenster eingeklemmt an den rechten Rand des Bildes gerückt, das Gesicht grau verschattet, mit leerem Blick.

Der Blick aus dem Zimmer geht auf die Kirche Saint Sulpice. Die Farben leuchten giftig vor dem nächtlichen Dunkel. Die Pfeife auf dem Tisch verweist auf ihren Mann Siegfried Kracauer. Katz lebte zu diesem Zeitpunkt noch in Frankfurt, brach aber noch im selben Jahr, im Oktober 1936 nach Südafrika auf, mit seiner zweiten Frau Ruth, die er kurz zuvor geheiratet hatte. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1940.

Zu dieser Zeit hielten sich Kracauers immer noch in Paris auf – dieser Umstand war für ihn, Siegfried, eine Qual, die er ohne seine Frau Elisabeth nicht ausgehalten hätte. Was sie in diesem Alptraum des Exils in Paris aufrecht hielt, war der einzige Hoffnungsschimmer, den sie noch hatten, die Ausreise aus Frankreich mit dem Ziel Amerika. Unter zermürbendem Hin und Her mit den Behörden mussten sie lange warten, bis sie Aussicht auf eine Ausreise bekamen.

Schließlich erhielten sie im Lauf des Februars 1941 die notwendigen Bewilligungen für die Passage in die USA. Dies war die Rettung, wie für viele andere auch, quasi im letzten Augenblick, kurz danach kamen keine Emigranten mehr aus Frankreich heraus. Siegfried und Elisabeth Kracauer hatten überlebt und nahmen Kurs auf ein neues Leben. Die beiden begingen den Tag der Ankunft in New York, den 25. April 1941, von da an jedes Jahr als ihren privaten Feiertag.

Die immense Bedeutung von Elisabeth für Leben und Werk von Siegfried Kracauer kann nicht genug betont werden. Es scheint nach allem, was über Siegfried und Elisabeth Kracauer aus den Jahren in Paris überliefert ist, nicht nur außer Frage, dass sie es war, die beiden überhaupt das Überleben im Pariser Exil ermöglicht hat.

Ganz abgesehen davon, dass sie fließend französisch sprach, einen Großteil des Lebensunterhalts erwirtschaftete, brauchte er sie als seelischen Rückhalt in den schwierigen Zeiten und seit Beginn ihrer Beziehung für die Arbeit. Sie war von Anfang an seine engste Mitarbeiterin, fachlich und intellektuell auf Augenhöhe, recherchierte, redigierte sie für ihn und vieles mehr. Nach seinem Tod 1966 betreute sie seinen Nachlass und sorgte für die Herausgabe seiner Werke.

Das klassische Rollenbild, dem sie sich bei aller Selbstständigkeit fügte, prägte die private Beziehung, doch für sein Denken und sein Werk war sie sowohl zu Lebzeiten als auch nach seinem Tod von nicht zu überschätzender Bedeutung. (Siehe dazu die Würdigung von Maria Zinfert: »Wenn man eine solche Frau hat, lässt sich auch in Berlin leben.« Lili Kracauer. Eine biographische Skizze.)