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Travestien und Tragödien

Plakat zur Operette Orpheus in der Unterwelt
von Jacques Offenbach:, 1858

Über Siegfried und Elisabeth Kracauer

– II –
Vom Olymp zur Operette

Zum vorhergehenden Teil geht es hier:
I – Die Massen und die Einzelnen

Im Jahr 1925 heiratete Siegfried Kracauer die 1893 in Strasbourg geborene Elisabeth Ehrenreich. Sie war studierte Musikerin, hatte zudem Kunstgeschichte studiert und war als Lehrerin und Bibliothekarin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig. In diesem Umfeld lernte sie Siegfried Kracauer kennen.

Elisabeth hatte eine ältere Schwester, der sie eng verbunden war. Sie hieß Franziska und war ebenfalls Musikerin. Sie war seit 1920 mit dem Malere Hanns Ludwig Katz verheiratet. Katz und Kracauer waren also Schwager.

Franziska Katz, geb. Ehrenreich,
und Hanns Ludwig Katz, um 1930

Hanns Ludwig Katz wurde in eine sehr angesehene jüdische Familie 1892 in Karlsruhe geboren. Ab 1912 studierte er gleichzeitig Architektur, Kunstgeschichte und Malerei zunächst in Karlsruhe, dann in München. Schon 1918 stellte der Berliner Galerist Paul Cassirer zum ersten Mal Werke von ihm aus. Nach dem ersten Weltkrieg begeisterte er sich für die revolutionären Ideen in Kunst und Gesellschaft.

Er schuf ein bemerkenswertes Werk, dem die ganz große Anerkennung verwehrt geblieben ist und von dem nur weniges in die großen Museumssammlungen Eingang gefunden hat. Dass die Kunsthalle Emden heute den größten musealen Bestand an Werken dieses nicht sehr bekannten Malers hat, gehört zu den großen Leistungen des Instinkt-Sammlers Henri Nannen und zu den großen Entdeckungen für alle, die das Haus besuchen.

Eine aktuelle Würdigung von Hanns Ludwig Katz findet sich Auf der Internetseite des AsKI-Projektes TSURIKRUFN.

Hanns Ludwig Katz: Miss Mary, 1926, Gemälde, 150 x 94 cm, Kunsthalle Emden
Abbildung: : Ausstellungskatalog Hanns Ludwig Katz, Jüdisches Museum Frankfurt und Kunsthalle Emden, hrsg. v. Jüdschen Museum Frankfurt, Köln: Wienand 1992, S. 137

Nach expressiven Anfängen nähert Katz sich dem Stil der Neuen Sachlichkeit. Seine Kompositionen reichert er mit kunsthistorischen Verweisen und symbolischen Motiven an – wie in Miss Mary, wo wir im Unterschied zu den Tiller Girls von Karl Hofer eine ihrer Selbst bewusste moderne Frau sehen, die aber im traditionellen Rollenschema vom Mann bewundert und begehrt wird. Die Katze, dient hier, wie in anderen Bildern des Malers als seine Signatur.

Diese Konstellation – weiblicher Akt in Gesellschaft eines bekleideten Mannes (mitunter auch mehrerer Männer) – hat eine lange kunsthistorische Tradition, ja darüber hinaus kulturgeschichtliche, so etwa in der antiken Mythologie. Die Konstellation gehört zu den Motivkreisen, die im Kontext der aktuellen Debatten um Geschlechterrollen besondere kritische Aufmerksamkeit zukommt.

Im Gemälde von Katz verleihen das Moment der Verkleidung und der amüsiert spöttische Ausdruck der Personen der eigenartigen Szenerie den Charakter einer Travestie. Motivisch wie kompositorisch lassen sich insbesondere Bezüge zu Gemälden von Edouard Manet erkennen, etwa der 1878 gemalten Nana, die sich heute in der Hamburger Kunsthalle befindet oder dem Déjeuner sur l’herbe von 1863, dessen Titel meist mit Das Frühstück im Grünen ins Deutsche übersetzt wird.

Edouard Manet: Le Déjeuner sur l‘herbe, 1863, Gemälde, 208 x 264 cm, Paris, Musée d‘Orsay

Manet selbst hat sich wiederum für die Komposition dieses Gemäldes bei Raffael bedient, eine Szene mit dem Urteil des Paris – also eine Szene aus der antiken Mythologie mit Personal aus der Götterwelt. Die nach Raffaels Komposition von Marcantonio Raimondi gefertigte Grafik gehört aus verschiedenen Gründen zu den bekanntesten der Kunstgeschichte. Nicht zuletzt weil Teile daraus immer wieder aufgegriffen, kopiert, zitiert und variiert wurden.

Unter diesen ragt Manets Déjeuner als berühmteste und noch mehr der am meisten berüchtigte Übernahme der Figurengruppe im rechten Teil des Bildes von Raffael heraus.

Dieses Gemälde hat wie einige andere von Manet, besonders die Olympia aus demselben Jahr, die ebenfalls ein berühmtes kunsthistorisches Vorbild zitiert: Tizians Venus, heftige Reaktionen ausgelöst, es wurde als skandalös empfunden – wobei der Skandal kurz gesagt darin bestand, einer Gesellschaft schlicht öffentlich vor Augen zu führen, was in ihr mehr oder weniger verborgen alltäglich geschieht, also ihre inneren Strukturen offen zu legen.

Das Verfahren, das Manet im Frühstück im Freien anwendet, bezeichnet man mit dem Begriff der Travestie: Ein Thema aus einem kulturell gehobenen Kontext – die Welt der Götter, der Religion, des Wahren, Guten und Schönen – wird auf die Ebene des Alltäglichen und Banalen heruntergeholt, hier: das Leben junger Menschen im Paris seiner Zeit; Stutzer, vielleicht Studenten, die sich mit – allem Anschein nach – leichten Mädchen die Zeit im Bois de Boulogne vertreiben.

Über solche und ähnliche Zitate im Werk Manets habe ich meine Magisterarbeit Mitte der neunziger Jahre geschrieben. Dabei spielte das Moment der Travestie eine herausragende Rolle – und dies nicht nur für mich und Manet, sondern für die Kultur und die Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich überhaupt.

Wie eng der Zusammenhang zwischen den politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Zeit und insbesondere den theatralischen Künsten war, führen so lebhaft und anschaulich wie nichts anderes die Operetten von Jacques Offenbach vor, der sich ebenfalls der Travestierung der Götterwelt zur Spiegelung der aktuellen Verhältnisse bediente.

Zu diesem Verfahren griff er schon in seiner ersten Operette Orpheus in der Unterwelt, aus dem Jahr 1858, mit der sein kometenhafter Aufstieg begann. Mit ihr begründete er zugleich ein neues Genre des Musiktheaters, die „Offenbachiade“, eine Sonderform der Operette, die hinter dem scheinbar harmlosen Treiben auf der Bühne – das in der ekstatischen Ausgelassenheit des Cancan auf die Spitze getrieben wird – die Abgründe der zeitgenössischen Gesellschaft aufscheinen lässt.

Offenbach schreibt dem pariser Leben den Rhythmus vor. Die Operette ist der ironische Unterton einer dauernden Herrschaft des Kapitals.

Walter Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1983, Bd. 1, S. 52

Siegfried Kracauer wiederum dient die Schilderung des Lebens, der Werke und der Zeit von Jacques Offenbach zur Spiegelung der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse seiner eigenen Zeit.

Zum abschließenden Teil geht es hier:
III – Diktatur der Ekstase und des Terrors