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Travestien und Tragödien

Elisabeth Kracauer, geb. Ehrenreich, und Siegfried Kracauer, 1920er Jahre

Über Siegfried und Elisabeth Kracauer

– I –
Die Massen und die Einzelnen

Vor 80 Jahren, am 25. April 1941, erreichten Siegfried und Elisabeth Kracauer New York. Es war der verheißungsvolle Moment der Aussicht auf ein neues Leben nach Jahren der Flucht, des Exils und der Angst vor der Verfolgung und der Vernichtung durch die nationalsozialistische Dikatur. Anlass genug, an das Wirken beider zu erinnern.

Siegfried Kracauer, 1889 in Frankfurt am Main geboren und 1966 in New York gestorben, war in der Weimarer Republik einer der führenden Intellektuellen Deutschlands und aufgrund seiner Tätigkeit als Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung eine Stimme mit Gewicht im Konzert der öffentlichen Meinung über Kultur und Gesellschaft.

Kracauer hat sich sehr früh neu entstandenen und entstehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Phänomenen angenommen, die von der etablierten Philosophie oder Kulturkritik eher herablassend betrachtet wurden.

So verfasste er über das Phänomen der völlig neuen Erwerbsbereiche der Angestellten das erste und heute noch maßgebliche Buch, in dem er die Eigenarten der neuen Berufsgruppe, zu denen Bürokräfte, Sekretärinnen, Telefonistinnen, Verkäuferinnen – also insbesondere Frauen! – gehörten, zu beschreiben versuchte. (Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurter Societäts-Druckerei, Frankfurt am Main 1930)

„Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenerscheinungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“

Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, 1927

Er befasste sich ausführlich mit dem Kino als dem adäquaten Bildmedium der Gegenwart, das aber wie andere massentaugliche Kulturbereiche von seinen Freunden und Kollegen skeptisch gesehen wurde – Theodor W. Adorno und Max Horkheimer prägten dafür den Begriff der „Kulturindustrie“. Kracauer hingegen war davon zugleich fasziniert, gab sich diesen Vergnügungen gerne hin, hatte aber zugleich genug Distanz und wissenschaftliche Neugier, genau wie bei der Betrachtung von Offenbachs Operette (oder wie Manet in seinen Gemälden), um ihre Grundlagen und Funktionsweisen in seinen Schriften kritisch zu analysieren.

Exemplarisch dafür sind seine Schriften der zwanziger Jahre, darunter zum Beispiel die Studien Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in der das Verhältnis der oben erwähnten Angestellten zum neuen Massenmedium gezogen wird, und Das Ornament der Masse aus dem Jahr 1927, in der er die Aufführungen der damals überaus beliebten Tanztruppe der Tiller Girls zum Ausgangspunkt allgemeiner Überlegungen zur Gesellschaft seiner Zeit macht.

Die Tiller Girls in der Revue „Wien lacht wieder“, 1926

Kracauer analysiert die Ästhetik ihrer Darbietungen und erkennt darin symptomatische Tendenzen im aktuellen gesellschaftlichen Zeitgeschehen. Er gelangt mit seinen Überlegungen zu seinerzeit aktuellen und heute noch gültigen Schlussfolgerungen.

„Auf dem Gebiet der Körperkultur, die auch die illustrierten Zeitungen bedeckt, ist in der Stille ein Geschmackswandel vor sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind. Während sie sich in den Revuen zu Figuren verdichten, ereignen sich auf australischem und indischem Boden, von Amerika zu schweigen, in immer demselben dichtgefüllten Stadion Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit. […] Ein Blick […] belehrt, daß die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. […]

Träger der Ornamente ist die Masse. […] Das Ornament ist sich Selbstzweck. […] Die Massenbewegung der Girls […] steht im Leeren, ein Liniensystem, das nichts Erotisches mehr meint, sondern allenfalls den Ort des Erotischen bezeichnet.“

Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, 1927

Dieses Massenornament, so Kracauer weiter, sei rational zu betrachten und stünde in seiner mechanischen Präzision im Einklang mit der kapitalistischen Produktionsgesellschaft, die in gleicher Weise von Massen in Massen für Massen maschinell immer gleich produzieren lässt.

Karl Hofer: Tiller Girls, 1923/1927, Öl auf Leinwand, 110,1 x 88,6 cm, Kunsthalle Emden
(c) VG Bild-Kunst, Bonn

In der Kunsthalle Emden befindet sich das bemerkenswerte Gemälde Tiller Girls von Karl Hofer.

Im Unterschied zu Kracauer nimmt Hofer in seinem Bild nicht die gesamte Truppe von Tänzerinnen in den Blick. Er geht näher heran, fokussiert sich auf zwei von ihnen und nimmt sie damit als Einzelpersonen aus der Masse heraus. Er präsentiert ein Doppelportrait aus der scheinbar unendlichen Reihe der Tänzerinnen.

Doch wird in ihrer Erscheinung und ihrem Auftreten keinerlei Individualität oder Persönlichkeit anschaulich. Im Gegenteil: in der parallelen Ausrichtung ihrer Körper und Köpfe findet sich die von Kracauer beschriebene mechanische Reihung des gesamten Ensembles aufgenommen. Die auf Ähnlichkeit geschminkten, maskenhaften Gesichter und die grauweißlich kalkige Tünche, die als Hautton die beiden Körper einfasst, treiben den Tänzerinnen jede Lebendigkeit aus.

Aller innerer Regungen und subjektiver Ausdrucksfähigkeit beraubt machen sie den Anschein von allem Menschlichen mechanischer Figuren, die programmierte Funktionen erfüllen. Hofer führt mit malerischen Mitteln vor Augen, was Kracauer in Worten beschrieben hat.

Siegfried Kracauers Analyse der Choreographien der Tiller Girls war in geradezu beängstigender Weise hellsichtig, wenn er schreibt:

„Die Girleinheiten trainieren vielmehr, um eine Unzahl paralleler Striche zu erzeugen, und die Ertüchtigung breitester Menschenmassen wäre zur Gewinnung eines Musters von ungeahnten Dimensionen erwünscht.“

Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, 1927

Beim Lesen dieser Worte ziehen einem heute im Geiste schon die Massenszenen aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens und die Bataillone der Wehrmacht auf. Sie gehören zu den prägenden Bildern der nationalsozialistischen Diktatur – hier war die „Ertüchtigung breitester Menschenmassen“ in „ungeahnten Dimensionen“ nun Wirklichkeit geworden. Ein System war Wirklichkeit geworden, das aus dem Leben ungezählter einzelner Menschen grausame Tragödien machte, darunter Siegfried Kracauer und seine Frau Elisabeth, die dem Schlimmsten gerade noch entkommen konnten

Zu den beiden folgenden Teilen geht es hier:
II – Vom Olymp zur Operette
III – Diktatur der Ekstase und des Terrors