Was für eine Aussicht, welch ein grandioser Blick vom Hang über die Ruine des antiken Theaters in Taormina nach Süden hinauf zum schneebedeckten Gipfel des Ätna. Dieses Panorama führt exemplarisch die ganze Schönheit der Insel Sizilien vor Augen – und es ist daher zu der „Postkartenikone“ der Insel schlechthin geworden. Und nicht nur das:
Die Zusammenschau dieser beiden Motive erzählt ebenso von der Gestaltungsmacht des Menschen wie von den Gewalten der Natur, denen der Mensch letztlich wieder ausgeliefert ist. Der Mensch greift in die Natur ein, formt sie nach seinen Bedürfnissen um und baut sich nach seinen Vorstellungen seine eigene Welt, sowohl im übertragenen Sinn als auch wörtlich in Bezug auf die Architektur. Doch wie massiv auch immer seine Eingriffe in die Natur sind, so solide seine Bauten konstruiert sein mögen, sie sind sämtlich der Vergänglichkeit geweiht – wovon die Relikte des Theaters im Vordergrund sprechen.
Im Hintergrund ruht reglos still im Sonnenlicht der Ätna – ein ungewöhnliches Bild, denn – wie sonst an seiner Rauchfahne zu sehen ist – im Vulkan rumort es nach wie vor. (Hier der aktuelle Blick auf den Ätna und hier der Blick auf den Kraterrand.) Er hat mit seinen Ausbrüchen weit mehr als der Zahn der Zeit den Menschen im Osten Siziliens zugesetzt – und mit und neben ihm die zahlreichen Erdbeben, die die Insel immer wieder erschüttern, wie erst vor einigen Wochen (hier Genaueres). Dieses ging glimpflich ab – wieviele Naturkatastrophen zerstörten Menschenleben und ganze Ortschaften.
Eine davon ist die Ortschaft Gibellina am westlichen Ende der Insel. Sie wurde am 15. Januar 1968, heute vor 53 Jahren, von einem Erdbeben dem Boden gleich gemacht. Die Menschen verließen den Ort und bauten sich einige Kilometer entfernt als Gibellina Nuova einen neuen – einen ganz ungewöhnlichen, indem hier der zeitgenössischen Architektur und Kunst eine tragende Funktion für die Neugestaltung des Gemeinwesen eingerichtet wurde. Dazu gehört auch die Aufführung der Orestie des Aischylos auf der Piazza des alten, zerstörten Gibellina.
Auf Sizilien kommen seit jeher nicht nur die von Menschen erfundenen Dramen in den von ihnen gebauten Theatern zur Aufführung. Die Naturgewalten bescheren ihm wieder und wieder ihre eigenen existenzbedrohenden und verheerenden Tragödien.
Dieser besondere Zusammenhang zwischen den dramatischen Werken der Menschen und dem dramatischen Wirken der Natur, das dem Leben auf Sizilien einen spezifisch theatralischen Charakter verleiht, offenbart sich im Zuge der Lektüre des Buches Theater in Sizilien, das im letzten Jahr im Jonas-Verlag erschienen ist. Es wurde verfasst von Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht, einem Trio, das damit zum wiederholten Mal seine anhaltende Leidenschaft und Expertise in Sachen Italien und Theater in eine gemeinsame Publikation münden lässt. Im selben Verlag haben sie schon Teatro: eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, veröffentlicht.
In ihrem neuen Buch entfalten sie in fünf großen Kapiteln das Panorama des sizilianischen Theaters in all seinen Facetten über einen Zeitraum von 2500 Jahren, von der Antike bis zur Gegenwart. Sie beschreiben die Architektur und ihre Baugeschichte, fügen sie in die kultur- und kunsthistorischen Kontexte ein, erläutern die Funktionen der Theaterkultur in ihrem jeweiligen kultischen, religiösen oder politischen Kontext.
Dazu gehört auch, dass sie neben dem Schauspiel im gebauten Theaterraum das ganze Spektrum theatralischer Aufführungspraxis vorstellen – Festinszenierungen, Wegetheater – teilweise mit ephemeren Theaterbauten an Straßen und Plätzen – oder dauerhaft eingerichtete Privattheater in Palästen und Villen des Adels, die großen Opernhäuser sowie Volksbühnen und schließlich das Genre des Puppentheaters, das als „Inbegriff der populären Kunst und Kultur der Insel“ gilt und in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen worden ist (hier der Eintrag).
Das Buch bietet eine Fülle an erhellenden Beobachtungen, Erkenntnissen und Einsichten. So soll nach Platon und Aristoteles die Komödie in Sizilien erfunden worden sein. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass das Theater schon früh mehr war als ein Ort fiktiver Bühnenwerke. Schon in der Antike war „das Theater zu einer eigenen durch und durch politischen Kunstform geworden. Mit der Darstellung von Stoffen des Mythos wurden gesellschaftliche Prozesse und Konflikte auf der Bühne verhandelt.“ (S. 14)
Die Theaterbühne war zugleich ein Ort politischen Handelns, ein Forum für Gesetzgebung und Rechtsprechung und Schauplatz für die Ausübung politischer Gewalt – und dies auch im wörtlichen Sinn. In römischer Zeit wurden in Theatern Folterungen und Hinrichtungen einzelner oder von Menschenmengen zur Schau gestellt.
Doch nach den Römern war für lange Zeit Schluss mit Lustspiel wie Tragödie: „Schließlich bedeutete das Ende des Römischen Reiches auch das Ende des antiken Theaters, das als Sakralbau immer mit den antiken Kulten verbunden war. Vandalen, Goten, Christen und Muslime wollten kein Theater.“ (S. 24)
Erst die Jesuiten erkannten das enorme Potenzial von Imagination, Inszenierung und Illusionismus als überwältigende Mittel zur Formung menschlichen Bewusstseins und setzten diese in ihrem Feldzug gegen die reformatorische Sinnenfeindlichkeit programmatisch ein als Instrumente zur Festigung und Vertiefung des katholischen Glaubens. In den Ausführungen darüber wird einmal mehr die immense medienhistorische Bedeutung des Jesuitenordens deutlich.
Im Barock blühte die Theaterkultur in all ihren Ausdrucksformen. In engem Zusammenhang mit der Herausbildung der Oper als neuem, zeitgenössischem Musikdrama entwickelte sich mit dem „Teatro all’Italiana“ ein spezifischer Bautyp, der maßgeblich für den gesamten europäischen Theaterbau werden sollte – bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts.
Es setzte ein über zwei Jahrhunderte anhaltender Boom ein. Neue Theater und Opern wurden gegründet und zahlreiche Bauten dafür errichtet. Damit wurde der nötige Resonanzraum geschaffen zwischen der Darbietung innigster Leidenschaften auf der Bühne und dem gesteigerten Enthusiasmus, der allerorten für sie entbrannt war. Das Musiktheater gewann zudem besondere Bedeutung als Ausdrucksform politischer Selbstbestimmung Siziliens und seines Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Bei der Lektüre wird deutlich: In den Schicksalen der einzelnen Theater und ihrer Bauten spielten sich ganz eigene Dramen ab, die manche Beteiligte aus ganz anderen Gründen zum Schaudern gebracht haben dürften.
Kaum ein Theater, das finanziell nicht auf höchst brüchigem Fundament errichtet wurde. Bei vielen Theatern sollte es mehrere Jahrzehnte dauern bis zur Fertigstellung oder zumindest Einweihung und ersten Aufführung. Kaum eines, das während seines Betriebs wirtschaftlich nicht ins Schlingern kam oder gar Schiffbruch erlitt – auch angesichts der Konkurrenz. Erst die der anderen Theater, dann der des Kinos, dessen Ausbreitung der herausragenden gesellschaftliche Stellung der Theaterkultur und damit ihrer Blütezeit das Ende bereitete. Zahlreiche Theater wurden zu Kinos umgebaut.
Das Kino war nicht nur als Darstellungsmedium Ausdruck einer neuen Epoche, sondern auch sozial. Daran wird deutlich, dass das „Teatro all’Italiana“ obsolet geworden war. Denn seine Architektur und innere Infrastruktur – etwa die Wegführung, die die herrschende Klasse von den anderen Besuchern trennte, und die Ränge – teilte die Menschen nach Zugehörigkeiten zu sozialen Schichten auf. Es war nicht wirklich ein Ort gesellschaftlicher Zusammenkunft, sondern ein Ort sozialer Trennung.
Generell spiegelt die Geschichte der Theaterbauten auch das historische Schicksal Siziliens. So geht in Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Einstellung des Spielbetriebs vieler Theater und der Verfall der Bauten mit dem Niedergang Siziliens einher. Im selben Maß zeugen die zahlreichen Restaurierungen und Wiederbelebungen seit den 1990er Jahren vom neuen politischen und gesellschaftlichen Aufbruch, der in dieser Zeit die Insel ergriffen hatte und verstärkt auch zeitgenössischen Theaterformen die Bühne bereitete.
Mit diesen endet die beeindruckende Vorstellung des Theaters in Sizilien in diesem Buch, das aufgrund der Auflistungen der zugehörigen Theaterbauten in den einzelnen Kapiteln und des abschließenden, thematisch gegliederten Literaturverzeichnisses handbuchartigen Charakter erhält. Schließlich bereitet es auch mit der Bebilderung – darunter besonders die extra für den Band angefertigten von Roberto Sigismondi und Christian Stein – beim Blättern und Lesen ästhetisches Vergnügen.
Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: Theater in Sizilien, Marburg: Jonas 2020, 240 Seiten, mit 333 Abbildungen, ISBN 9783894455781, 28,00 €
Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: Teatro: eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, Marburg: Jonas 1991, erw. und akt. Aufl. 2001, 240 Seiten, mit 330 Abbildungen, ISBN 978-3-89445-288-9, 25 €