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Betrachtungen zum „Bilderatlas Mnemosyne“

Aby Warburg: Bilderatlas MNEMOSYNE. The Original. Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil. Berlin: Hatje-Cantz 2020

Erste Betrachtung

Das Buch

Einen solchen Folianten wie diese Ausgabe des Bilderatlas Mnemosyne in die Hand zu nehmen, ist schon an sich jedes Mal ein eigenes Erlebnis. Allein schon die Größe (66 x 46,8 cm) und das Gewicht (6,245 kg) des Buches zu spüren, die Sinnlichkeit seiner Gestaltung zu fühlen und zu sehen – die Oberfläche des Einbands, die Leinenstruktur und das Relief der tiefgedruckten Schrift. Der Korpus und die Ästhetik dieses Buches, seine Haptik und Optik bereiten bereits Empfindungen von Genuss und erzeugen Vorfreude auf das, was sich im Inneren offenbaren mag.

Zugegeben – es ist auch mühselig, das Buch zu ergreifen, es aus dem Regal herauszuziehen oder vom Boden hochzuheben und es auf den Tisch zu wuchten und zu aufzuschlagen. Aber diese Anstrengungen gehören zu diesem Eindruck, es hier mit einem besonderen und wertvollen Gegenstand zu tun zu haben – und somit zur Steigerung der erhebenden Gefühlen beim Öffnen dieses tatsächlich sehr besonderen Buches.

Unabhängig von allen persönlichen Eindrücken und Empfindungen im Umgang mit dieser Ausgabe gehört der Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg im Feld der Kunstgeschichte zu den berühmtesten und legendärsten Unternehmungen. Wer Kunstgeschichte studiert hat, kennt den Titel und hat ungefähre Kenntnis, worum es sich in der Sache oder bei dem Autor und seinen kunsthistorischen Interessen und Gegenständen handelt, völlig unabhängig von den eigenen Interessen und Schwerpunkten.

Eine ganz andere Frage ist, inwieweit im Einzelfall aufgrund irgendeiner fachlichen Notwendigkeit oder persönlichen Neigung tatsächlich die Lektüre, eine lernende und kritische Auseinandersetzung und somit die Aneignung einer wirklich fundierten Kenntnis erfolgt. So selbstverständlich die Kenntnis davon bei allen Beteiligten generell vorausgesetzt wird, so selbstverständlich ist eben auch, dass es gar nicht für alle möglich ist, von allen solchen Unternehmungen und Publikationen umfassende Kenntnisse zu besitzen.

Wir alle haben uns jeweils für uns selbst jene davon vorgenommen, die für unsere spezifischen Interessengebiete und Forschungsthemen grundlegend und relevant sind. Bei allen anderen nehmen wir unser Halbwissen als gegeben und – zumindest vorerst – ausreichend hin. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass dieses ungefähre Bescheidwissen immer ausreicht, um sich im Kreis der Eingeweihten oder in der Öffentlichkeit nicht zu blamieren.

Manchmal ist es dann aus irgendeinem Grund an der Zeit, sich die Sache doch einmal genauer vorzunehmen – sei es aus innerem Antrieb oder äußerem Anlass. So etwa ging es dem französischen Schriftsteller Michel Butor, von dem der italienische Autor Italo Calvino in der Einleitung seines Buches Warum Klassiker lesen? erzählt:

„Vor einigen Jahren unterrichtete Michel Butor in Amerika und war es überdrüssig, immer nach Emile Zola gefragt zu werden, den er nie gelesen hatte. Daher beschloss er, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen…“

Italo Calvino: Warum Klassiker lesen?, München: Hanser 2002, S. 7–8

Dass Butor dauernd danach gefragt wurde, liegt daran, dass sich wohl kein Mensch, der sich für den französischen Roman interessiert und begeistert, vorstellen kann, dass heute ein Autor oder eine Autorin Romane liebt und schreibt, ohne jemals Zolas Zyklus gelesen zu haben, der in diesem Feld so etwas wie die Benchmark bedeutet, also wahlweise vergleichbar mit Shakespeare oder Goethe für die englische oder deutsche Literatur allgemein, oder für das Feld der Kunst mit Leonardo oder oder Picasso.

Einen solchen Moment der inneren Aufforderung zur Lektüre hatte ich nun mit dem Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg. Denn diesen habe ich in der beschriebenen Ausgabe zum Geburtstag geschenkt bekommen. Und seitdem er seinen Platz hier im Raum eingenommen hat – aufgrund seines immensen Formats immer gut sichtbar, geradezu etwas aufdringlich, und damit für das Bewusstsein unumgänglich – verspüre ich einen leisen, aber bestimmten Druck, mir diesen Band vorzunehmen und mich mit ihm umfassender zu befassen – vor allem aus zwei Beweggründen, soweit mir diese im Bewusstsein zugänglich sind.

Beides hat mit dem persönlichen Ethos zu tun (vielleicht auch ein bisschen mit dessen Kehrseite, dem schlechten Gewissen). Einerseits geht es für mich darum, die Gabe der Schenkenden zu würdigen – und damit auch die Schenkerin selbst, bei der es sich immerhin um meine Frau handelt, deren Geschenke mir ohnehin etwas ganz Besonderes bedeuten. Andererseits fühle ich mich in der Sache sowohl getrieben von meiner unstillbaren Neugier und meinem persönlichen Ehrgeiz als auch verpflichtet im Hinblick auf meine fachlichen Kenntnisse, in diese Materie einzutauchen.

Also habe ich mir die Auseinandersetzung mit dem Bilderatlas vorgenommen – wobei ausdrücklich meinem sonstigen Vorgehen beim Erarbeiten von Kunstwerken entsprechend am Anfang die eingehende Betrachtung des Objekts als solchem stehen wird, das heißt hier der Bildtafeln und ihrer Zusammenstellung und Folge. Im Zuge der Formulierung der Überlegungen und Gedanken, die sich dazu herausbilden, werden zusätzlich die Bilderläuterungen herangezogen und darüber hinaus sicher auch weitergehende Informationen.

Wie weit die Betrachtungen führen und was daraus entsteht, das wird sich im Verlauf des Experiments zeigen. Immerhin wäre es schon einiges, wenn es mir ginge wie Michel Butor, als er sich schließlich in die Lektüre des vollständigen Zyklus der Rougon Macquart von Emile Zola versenkte. Darüber fährt Calvino fort:

„… – und entdeckte, dass das Buch ganz anders war, als er es sich vorgestellt hatte: ein wunderbarer mythologischer und kosmogonischer Stammbaum, den er in einem herrlichen Essay beschrieb.
Soviel nur, um zu sagen, daß es ein außerordentliches Vergnügen ist, ein großes Buch in reifem Alter zum ersten Mal zu lesen: anders (aber man könnte nicht sagen besser oder schlechter) als das Lesen in der Jugend. Die Jugend verleiht der Lektüre wie jeder anderen Erfahrung auch einen besonderen Geschmack und eine besondere Bedeutung; während man im reifen Alter eher viele Details, Ebenen und Bedeutungen zu schätzen weiß (oder schätzen sollte).“

Italo Calvino: Warum Klassiker lesen?, München: Hanser 2002, S. 7–8.

– Fortsetzung folgt –