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Carl Schuch – Farbenforscher

Schuch und Courbet

– I –
Kontrast und Gegensatz

Gustave Courbet, 1819 in Ornans in der Franche-Comté geboren und 1877 in La Tour de Peilz am Genfer See gestorben, hat sich mit seiner Malerei und seinem öffentlichen Wirken schon zu Lebzeiten einen Platz als Jahrhundertgestalt der Kunstgeschichte erworben. Courbets mit großem Selbstbewusstsein propagierte und in bedeutenden Gemälden verwirklichte Vorstellung einer zeitgemäßen realistischen Malerei erregte weit über Frankreich hinaus enorme Aufmerksamkeit und faszinierte eine ganze Generation von Künstlern.

Besonders in deutschen Künstlerkreisen, etwa um die Frankfurter Maler Otto Scholderer und Viktor Müller oder um Wilhelm Leibl in München, stieß Courbet mit seiner Kunst und seiner Persönlichkeit auf starke Resonanz. An diesen Orten wurden nicht nur seine Werke ausgestellt, hier hielt er sich auch mehrmals für längere Zeit auf, so 1858–59 in Frankfurt und 1869 in München, wo er vor den bewundernden Augen seiner deutschen Malerkollegen in situ seine Malkunst demonstrierte.

Carl Schuch wurde erst posthum bekannt. Von Jugend an finanziell unabhängig und nicht auf Ausstellungen angewiesen, schuf er sein imposantes malerisches Werk praktisch im Verborgenen. Schuch, ein Österreicher deutscher Herkunft, 1846 in Wien geboren und dort auch 1903 gestorben, war vom Lebensweg und Selbstverständnis her ganz Europäer. Häufig wechselte er seinen Wohnsitz, zog von Wien nach Mün chen, Rom, Venedig, Brüssel und Paris wieder nach Wien.

Für einige Zeit gesellte er sich zum Künstlerkreis um Leibl in München. Schuch war ein sehr gewissenhafter Künstler, der stets über die Grundlagen seiner Kunst reflektierte und sich um die Erweiterung seiner malerischen Möglichkeiten bemühte. In den Jahren 1882 bis 1894 lebte er in Paris, wo er im Dialog mit der französischen Malerei, von Camille Corot über Edouard Manet, Claude Monet bis zu Paul Cézanne, eine aus dem malerischen Duktus lebende autonome Bildsprache und eigenständige künstlerische Position erlangte.

Eine herausragende Rolle spielte seine intensive und kritische Auseinandersetzung mit Courbet – dessen Werke er in Ausstellungen studierte und in seinen Tagebüchern und Briefen kommentierte.
Dabei äußert er einerseits Anerkennung:

Courbet „hatte einen unvergleichlichen Vorzug – er war er selbst, stand auf eigenen Füßen, sah mit eigenen Augen, brach alle Konvention, und viel entschiedener als jeder andere auf eine natürlichere Auffassung hin.“

Brief an Karl Hagemeister, Januar 1883, zit. n. Karl Hagemeister: Karl Schuch,
sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 130–131

Andererseits distanziert er sich kritisch:

„Seine unzweifelhafte Begabung hat jedenfalls viel gelitten durch seine Kampfattitüde. Er hat mit dem Pinsel oft mehr gekämpft als gemalt.“

Brief an Karl Hagemeister, 9. April 1882, zit. n. Hagemeister 1913, S. 126

Zudem begab Schuch sich von 1886 bis 1893 jeden Sommer in Courbets Heimatregion, wo er die Juralandschaften um den Saut du Doubs an der Schweizer Grenze zum zentralen Motiv seiner Landschaftsmalerei machte.

Carl Schuch: Sägewerk am Saut du Doubs IV, 1888, Öl auf Leinwand, 61,5 × 83,5 cm
LENTOS Kunstmuseum Linz

Ein größerer Gegensatz in der persönlichen Haltung eines Künstlers zur Öffentlichkeit und als Konsequenz in der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung als der zwischen Gustave Courbet und Carl Schuch ist kaum zu denken. Der eine etabliert sich mit den Anfängen seiner herausragenden künstlerischen Karriere als öffentliche Person, ja sogar als Institution, der andere widmet sich seiner Kunst nahezu vollständig ohne das Streben nach Resonanz. Während Courbet mit allen Mitteln die Öffentlichkeit suchte und nach Aufmerksamkeit strebte,  bewegte sich Schuch im Schatten seines Werkes, das er ebenfalls kaum dem Licht der Öffentlichkeit aussetzte.

Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern, die aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten auf die Aufmerksamkeit durch regelmäßige Ausstellungen angewiesen waren, konnte Schuch sich den Luxus leisten, darauf zu verzichten, seine Werke zu zeigen, solange er ihre Ausstellung nicht für notwendig erachtete oder allein aufgrund künstlerischer Bedenken ausschloss. Allerdings tat er dies auch um den Preis der Nichtbeachtung im Kanon der von der Öffentlichkeit und Kunstgeschichte anerkannten bedeutenden zeitgenössischen Künstler.

Courbet wurde als öffentliche Gestalt zu Lebzeiten zum Thema des Boulevards und gehört als Künstler bis heute zu den Zentralgestirnen der Moderne, Schuch ist einer breiteren Öffentlichkeit ziemlich unbekannt geblieben und fast ausschließlich als bedeutender Maler des Leibl-Kreises gewürdigt worden. Im Ganzen blieb die Kenntnis Schuchs und sein hohes Ansehen in diesem Zusammenhang über das Feld der Kunsthistoriker hinaus auf Kenner, Liebhaber und Sammler beschränkt.

Die heutige – weit darüber hinausgehende – kunsthistorische Würdigung des Werkes von Carl Schuch begann mit der ersten großen Schuch-Retrospektive überhaupt, die in der Kunsthalle Mannheim und im Lenbachhaus in München gezeigt wurde und für die – was in diesem Zusammenhang nicht verwundert – das Wirken eines Sammlers, Franz Armin Morat aus Freiburg, maßgeblich gewesen ist.

Mit dieser Ausstellung und dem begleitenden Katalogbuch begann die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Werkes von Schuch, in deren Zug der Rahmen, in dem es betrachtet wird, bedeutend erweitert worden ist. Seitdem ist die Gestalt Schuchs immer deutlicher greifbar geworden als die eines vollkommen eigenständigen und herausragenden Malers seiner Epoche.1

So unterschiedlich die Charaktere, so unterschiedlich auch die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Werk. Dem lärmenden Auftreten Courbets entsprachen auch viele Themen und Darstellungsweisen in seinen Gemälden, in denen es Courbet erklärtermaßen nicht allein um künstlerische Belange ging.

Ihm ging es um mehr: persönliche Interessen, wie die Beförderung seiner Karriere durch Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit, gesellschaftliche Belange, wie soziale Fragen oder Kritik am politischen System.

Courbet ging es ums Ganze, und er ging – besonders anfangs – oft auch aufs Ganze. Schuch dagegen ging es, wie sowohl aus seinen Werken selbst wie aus seinen Äußerungen und Aufzeichnungen zu ersehen ist, immer mehr nur um eines: die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten seiner Malerei mittels einer ausgeklügelten Ausdifferenzierung der Farbigkeit und des Farbauftrags.

Daraus folgend unterscheidet sich seine Position im kunsthistorischen Gefüge ebenso wie der ästhetische Status seiner Malerei markant gegenüber Courbet. Hier der berserkernde, bahnbrechende Neuerer, dort der subtile Verfeinerer.

Mit Courbet trat ein neuer Künstlertypus in Erscheinung. Er war der Erste, der die Erkenntnis, dass über Anerkennung und Erfolg als Künstler in großem Maß Faktoren entscheiden, die den Kunstwerken vollkommen äußerlich sein können, konsequent in die Konzeption seines Werkes einbezog und darüber hinaus dessen Wahrnehmung über seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu befördern und zu lenken versuchte.

Er war damit der Erste, der ein Bewusstsein für eine, mit den Worten Walter Benjamins, „marktgerechte Originalität“2 gewann; ein Bewusstsein, das sich bei ihm unaufhörlich mitteilte. Er folgte nach nach eigenem Bekunden dem Motto seines Großvaters:

„Crie fort et marche droit – Schrei laut und schreite voran.“

Brief an Francis Wey, wohl 20. April 1861, zit. n. Correspondance de Courbet, hg. v. Petra ten-Doesschate Chu, Paris 1996, Nr. 61–6, S. 174.

Dieses Motto lag tatsächlich seinem gesamten Handeln zugrunde, und in beidem zeigt sich, dass Courbet die Situation des Künstlers richtig eingeschätzt und einen Weg eingeschlagen hatte, der nicht nur für ihn erfolgversprechend gewesen ist, sondern auch allgemein den Künstlern neue Perspektiven eröffnete:

„Der Jahrmarkt verlangt den Marktschreier. Courbet erkennt, dass auch der Künstler zum Schlagwort greifen, seine Kunst als einmaligen bahn-brechenden Markenartikel ausgeben muss. […] In dem Maße, in dem dieser Maler die Provokation und die Eigenwerbung zu Bestandteilen seiner künstlerischen Aussage machte, war er der Bahnbrecher eines neuen Rollenverhaltens.“

Werner Hofmann: „Courbets Wirklichkeiten“ in ders. Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie, Frankfurt 1989, S. 213– 214.

Ein Prozess, der sich aufgrund der erhaltenen umfangreichen Korrespondenz Courbets und wegen der zahlreichen zeitgenössischen Zeugnisse, die sich seiner mit aller Kraft angestrebten und erreichten öffentlichen Präsenz verdanken, bis ins Detail nachvollziehen lässt. Wie kein Künstler vor und neben ihm hat Gustave Courbet die mit der Etablierung des modernen Bürgertums gewonnene Autorität des Künstlers in der Gesellschaft thematisiert und eingefordert.53

In der für ihn typischen auftrumpfenden Art berichtet er seinem Mäzen Alfred Bruyas von der öffentlichen Demonstration seiner Autorität während einer Soirée beim Comte de Nieuwekerke, dem Intendanten der Schönen Künste, wo er sein Selbstverständnis und sein Verhältnis zur Regierung erläuterte,

„dass auch ich eine Regierung bin. […] Ich fuhr fort, indem ich ihm erklärte, dass ich der einzige Richter meiner Malerei wäre; dass ich nicht nur ein Maler bin, sondern auch noch ein Mensch; dass ich mich der Malerei nicht nur um der Kunst willen widmete, sondern um meine intellektuelle Freiheit zu gewinnen … “

Brief an Alfred Bruyas, wohl Oktober 1853, zit. n. Chu 1996, Nr. 53–6, S. 108

Courbet formuliert genau diese Autorität nicht nur verbal, er demonstriert sie auch öffentlich in seiner Malerei – insbesondere in seinem programmatischen Hauptwerk, dem Atelier. Der vollständige Titel dieses Gemäldes lautet Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst.

Gustave Courbet: Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst, 1854/55, Öl auf Leinwand, 361 cm × 598 cm, Paris, Musée d’Orsay

Es war völlig neu, dass ein Künstler seine Person und sein Leben in einem derart aufwendigen, großformatigen, anscheinend symbolgeladenen Gemälde selbst zum Thema macht, damit das Künstlerportrait in den Rang eines Historienbildes erhebt, und die entsprechende Anerkennung und Billigung dieses Vorgehens mit der Einsendung zum Salon einforderte.

Courbets Gemälde steht im Kontext der wachsenden Zahl der Atelierdarstellungen im Salon und in den illustrierten Zeitschriften in dieser Zeit. Doch zeigt sich gerade im Vergleich zu ihnen seine alles überragende Stellung. Eine solche grandios – allein aufgrund der Größe und der Anzahl der Personen – angelegte Selbstdarstellung eines Künstlers schien bis dahin unvorstellbar. Courbet, war sich der Bedeutung dieses Aktes und der Neuheit seines Bildes bewusst:

„Das wird das überraschendste Gemälde, dass man sich vorstellen kann. Darin sind 30 Personen in Lebensgröße. Es ist die moralische und sinnliche Geschichte meines Ateliers. Das sind alles Leute, die mir dienen und die meine Sache unterstützen.“

Brief an Alfred Bruyas, November– Dezember 1854, zit. n. Chu 1996, Nr. 54–7,
S. 119.

Die ostentative Art der Selbstausstellung und die persuasive Instrumentalisierung des Selbstbildnisses beschränkte sich nicht nur auf die gemalten Selbstbildnisse, er wandte sie weiterhin an in den Fotografien, die er von sich anfertigen ließ und setzte sie in seinem öffentlichen Auftreten fort, hier ebenfalls mit immenser Lautstärke dieselbe Anerkennung und Autorität einfordernd wie im Atelier.

Courbets Selbstverständnis und Selbstbewusstsein drücken sich auch in dem selbstgewählten, angeblich von ihm nur angenommenen Prädikat Maître-peintre aus. Neben dem Aspekt der Anknüpfung an die alten Meister und ihrer Überbietung in Handwerk und geistiger Stärke, enthält der Titel auch die Behauptung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit des Künstlers.

Die deutschen Künstler, so sehr ihnen Courbet sowohl mit seiner Malerei als auch seinem selbstbewussten Auftreten imponierte, zeigten in dieser Hinsicht eine geradezu gegensätzliche Haltung. Courbets Bestreben, Kritik und Publikum, die gesamte Öffentlichkeit quasi über die Wucht der Präsenz seiner Werke, je nach Stellung zu ihm, zu überwältigen, zu erobern, zu überzeugen, zu begeistern etc. findet keinerlei Resonanz bei den jüngeren Malern jenseits des Rheins.

Auch die aktiv forcierte Ausstellungspolitik seitens Courbets – die ähnlich auch von einigen anderen zeitgenössischen französischen Künstlern betrieben wurde – fand hier keine Nachfolge. Schon in den fünfziger Jahren in Frankfurt nicht, auch nach 1869 nicht in München. Im Unterschied zu Courbet tendierten hier

„Leibl und seine Freunde, im Menschlichen wie im Künstlerischen, zum Exklusiven und Elitären. Der Kontakt mit der menschlichen Umwelt war ebenso gering wie derjenige mit Künstlerkreisen außerhalb des eigenen. Zuerst und zuletzt handelte es sich für sie als die ‚echten‘ Künstler darum, mit ihrer Leistung den eigenen Ansprüchen genüge zu tun.“

Eberhard Ruhmer: Der Leibl-Kreis und die Reine Malerei, Rosenheim 1984, S. 9.

Ganz in diesem Sinn vermerkt Schuch:

„… ich bin gegen Unverstand etwas empfindlich […] Stellte ich aus so machte ich nur denen Freude die mir so sehr Freunde sind daß sie mich absichtlich gering zu schätzen suchen denn was der Colorist leistet oder von welchem Streben wenigstens sein Werk Zeugnis ablegt das versteht der Laie nicht…“9

Carl Schuch: Notizbucheintrag zit. n. Carl Schuch. Ein Europäischer
Maler, Katalog zur Ausstellung im Belvedere, Wien, hg. v. Agnes Husslein-Argo und Stephan Koja, Wien 2012, S. 180.

Diese Künstler sahen sich strikt in Opposition zu jeder Form der Einbeziehung kunstfremder Belange in ihre Bemühungen und in Opposition zu Öffentlichkeit und Publikum generell. Daher war es für sie undenkbar, in ihrem Rollenverhalten darauf einzugehen. Sie beteiligten sich zwar nach Möglichkeit an Ausstellungen, sahen diese aber weitgehend als ein notwendiges Übel an.

Diese Künstler sahen sich auch nicht in der Rolle, die unverständigen Kritiker und das Publikum mit ihrer Kunst einzunehmen. Besonders Leibl und neben ihm Schuch schlugen den entgegengesetzten Weg ein, weil sie nicht an deren Zugänglichkeit für Ihre Kunst glaubten, und zogen sich deshalb vom Ausstellungsbetrieb zurück.

Wie im Fall Courbets äußert sich auch darin ein neues Verhältnis zwischen Künstler und Welt, aber auch zwischen dem Künstler und seinem Werk. Mithin tritt auch hier ein neuer Künstlertypus auf, einer der sein Augenmerk ausschließlich auf das aus der Wahrnehmung gewonnene und für diese wiederum gestaltete rein Bildnerische richtet, für die Malerei gesprochen das „Rein Malerische,“ und dies mit einer bis dahin ungekannten Unbedingtheit, bei einigen – wie bei Schuch – zudem verbunden mit einem tiefgreifenden, auf das Verständnis der Wahrnehmung der sichtbaren Welt als solcher ausgerichteten Erkenntnisinteresse.

Gerade die Begegnung und die Auseinandersetzung mit dem Wirken und dem Werk von Gustave Courbet stellt sich in der Sache als fruchtbar heraus, da ihm darin, je nach Aspekt und Perspektive, mal die Position des Protagonisten in eigener Sache zugewiesen werden kann, mal die des Antagonisten, gegen den es sich zu behaupten gilt, und in diesem Kontrast das eigene Kunstverständnis umso deutlicher hervortritt.

  1. Die Ausstellung der Museen in Mannheim und München wurde gemeinsam organisiert mit dem Freiburger Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, in dem inzwischen die größte Sammlung an Gemälden Schuchs bewahrt wird. Zur Rezeption Schuchs vgl. grundlegend den Katalog dieser Ausstellung, AK Mannheim/ München 1986. ↩︎
  2. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. I, S. 420 (J 58,4): „Baudelaire hat vielleicht als erster die Vorstellung von einer marktgerechten Originalität gehabt, die eben darum damals origineller war als jede andere. Die création seines poncifs führt ihn zu Verfahrensweisen wie sie in der Konkurrenz üblich sind.“ Dieser Satz lässt sich für den Bereich der Kunst umstandslos auf Courbet übertragen. ↩︎
  3. Vgl. zum folgenden ausführlich Stefan Borchardt: Heldendarsteller. Die Legende vom Modernen Künstler, Berlin 2007. ↩︎
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Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– III –

Links: Otto Dix: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Fritz Steisslinger: Selbstportrait, 1916, Öl/Lwd., 41,2 x 33,7 cm, Nachlass Fritz Steisslinger, Böblingen
Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

Von Künstlern im Krieg

oder vom Sieg des Extremismus über den Humanismus in der Kunst

Otto Dix wurde 1891 in Gera geboren. Er hatte schon früh ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein – legendär sein Spruch: „Entweder ich werde berühmt oder berüchtigt.“ – Ihm ist im Laufe seiner Karriere beides gelungen.

Dix wurde im August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Ersatzreservist eingezogen, war aber erst ab Herbst 1915 an verschiedenen Fronten im Einsatz. Er bewies sich im Kampfgeschehen als überaus robust, erhielt 1915 das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde als Vizefeldwebel aus dem Krieg entlassen.

Für Dix war die Teilnahme am Krieg – wie für Max Beckmann – weniger eine patriotische Pflicht. Er verstand sie, wie er später rückblickend darlegte – vielmehr als Verpflichtung seiner Kunst gegenüber: als Herausforderung, die Welt und das Leben mit all seiner Gewalt und seinen Abgründen als Ganzes zu erleben und zu erfassen, und er versprach sich davon Impulse für die Entwicklung seiner Kunst und seiner Ausdrucksmittel. In einem späten Interview sagte er dazu:

„Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen […] Alles muß ich sehen. Alle Untiefen des Lebens muß ich selbst erleben, deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich überhaupt freiwillig gemeldet.“

Otto Dix, Gespräch mit Freunden am Bodensee, Dezember 1963, zit. n. Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1978, S. 237

Die Erfahrung des Krieges verarbeitet Dix unmittelbar in seinem Werk. Stilistisch dem Expressionismus folgend, präsentiert er sich in seinem Selbstbildnis mit Artilleriehelm als eine zeitgenössische Version des Mannes mit dem Goldhelm von Rembrandt bzw. aus dessen Umkreis. Hier wie dort dominiert ein plastisch dekorierter Helm ein darunter zurücktretendes Gesicht – hier statt des alten Mannes ein Jüngling mit skeptisch fragendem Blick, steif und unsicher in der Haltung.

Die Spannung zwischen der Zurückhaltung im Habitus und der glühenden Farbigkeit mag das Schwanken des Künstlers zwischen seinem selbstgewissem individuellen Erlebenshunger und dem Unwohlsein angesichts der Unterwerfung unter ein ihm fremdes Regiment zum Ausdruck bringen – er ist hier offensichtlich nicht allein, sondern steht in einer Reihe mit anderen Soldaten.

Dieses Selbstbildnis stammt aus der Zeit des Beginns seines Militärdienstes. Einen Eindruck davon, wie es dem Künstler mit dem Krieg ergehen sollte, erhält man, wenn man das Bild umdreht und die Rückseite anschaut:

Links: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, recto
Rechts: Selbstbildnis als Soldat, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, verso

Von blutroten Farbfetzen umschwirrt, den Helm abgeworfen, ohne Haare, den kahlen Schädel mit dem wulstigen Gesicht vorgestreckt, begegnet uns eine ungestüme und rohe Gestalt – des Menschlichen völlig entledigt, ein offenbar in die Enge getriebenes wildes Tier, schwankend zwischen Angst und Aggression – bedrängend selbst die wie ein Brandmal gesetzte riesige Signatur im Nacken des Künstlers. –

Insgesamt ein getreues und daher erschreckendes Abbild der Brutalität und Grausamkeit des Krieges – jenes von Dix benannten „entfesselten Zustands“, der offensichtlich die dünne Haut der Zivilisation vom animalischen Leib des Menschen gezogen hatte.

Mit den Worten von Siegmund Freud, der bis dahin dem Prozess der Zivilisation optimistisch gegenüber stand, damals wählte, um den Eindruck zu beschreiben: Die Menschen seien wohl doch

„nicht so tief gesunken, wie wir fürchteten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir von ihnen glaubten.“

Siegmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915.

Der Zerstörungstrieb, der im Chaos endet, ist überall am Werk. Er ist zugleich ein Signum der Epoche. Diese im eigenen Erleben vollständig zu erfassen, war das Ziel von Dix – und während seiner Kriegsjahre versuchte er unablässig eine bildnerische Sprache dafür zu finden. Etwa 600 Zeichnungen sind aus knapp drei Kriegsjahren überliefert. Darunter eine größere Zahl gemalter Deckfarbenbilder.

Oben links: Otto Dix: Sterbender Krieger, Gouache, 1915 – rechts: Leuchtkugeln, Gouache, 1917
Unten links: Schützengraben, Gouache, 1917 – rechts: Krieger mit Pfeife, Goouache, 1918

Im Überblick lassen sich nur wenige davon als Antikriegs-Bilder erkennen. Es scheint vielmehr so, als gebe sich Dix – ganz im Sinne seines Vorhabens – mit offenen Sinnen dem Erleben als solches hin – ohne Vorbehalt und Vorurteil – aber voller Spannung und Erregung – und diese schlägt sich unmittelbar in all seinen Blättern aus der Zeit nieder.

Die Ereignisse des Krieges ließen Dix auch nach dessen Ende lange nicht los. Im Jahr 1924 veröffentlicht er eine Folge von Radierungen mit dem Titel Der Krieg, in der er seine Erlebnisse noch einmal ausführlich verarbeitet:

Otto Dix: Der Sturmtrupp geht unter Gas vor, aus der Grafikfolge der Krieg, 1924

Die Blätter unterscheiden sich thematisch und formal deutlich von seinen Zeichnungen aus den Kriegsjahren. Für die Zeichnungen wählt er eher allgemeine Titel, wie Soldat, Volltreffer, Handgemenge, und konzentriert sich auf exemplarische Momente des Phänomens Krieg als solchem – er sieht im Besonderen Moment das Allgemein Charakteristische – und dies hilft ihm offensichtlich angesichts des Geschehens innere Distanz zu wahren.

In den Radierblättern hingegen springt einen das Einzelne, das Faktische an – sie sind dem individuellen Grauen im Kriegsgemenge viel näher, hier finden sich zerfetzte Leichen oder wurmzerfressene Kadaver – es scheint, als habe dieses in Dix nachgewirkt und er dafür erst nach längerer Zeit eine Ausdrucksform gewonnen.

Mit der Wahl seiner Motive und Formensprache schafft Dix das zeitgenössische Pendant zu den Radierfolgen mit Schrecken des Krieges von Jacques Callot aus dem Dreißigjährigen Krieg und den einhundert Jahre zuvor geschaffenen Desastres de la Guerra von Francisco Goya – womit über die biographische Stellung des individuellen Werkes hinaus explizit die historische und die kunsthistorische Dimension in die Folge einbezogen wird. Dix weist im Rückblick auf seine entscheidende Erkenntnis hin:

„Goya, Callot, noch früher Urs Graf, von ihnen habe ich mir Blätter in Basel zeigen lassen – das ist großartig… wie sich die Materie Mensch auf dämonische Weise verändert.“

Hans Kinkel: Vierzehn Berichte. Begegnungen mit Malern und Bildhauern, Stuttgart 1967, S. 75

Dix ist einer der wenigen Künstler, die auch noch Jahre später die elenden Folgen des Krieges für die kriegsversehrten Soldaten während der Weimarer Republik, am Anfang der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre drastisch thematisierte.

Links: Otto Dix: Prager Straße, 1920, Öl/Lwd., 101 x 81 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Otto Dix: Der Streichholzhändler, 1920, 141,5 x 166 cm, Staatsgalerie Stuttgart

Mit der Radierfolge Der Krieg und den versehrten Kriegsveteranen wird Dix zu dem Antikriegskünstler, als der er in der Folgezeit wahrgenommen wurde, der er aber in seinen Zeichnungen aus Kriegstagen noch längst nicht war.

Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen…

Interview mit Otto Dix, „Über Kunst, Religion und Krieg“, Dezember 1963

Dix gilt heute als bedeutendster Künstler zum Thema des Ersten Weltkriegs, was sowohl die Menge der Werke als auch ihre Themen und Ausdrucksmittel betrifft. Ein immenses Werk, unmittelbar, drastisch, erschreckend, grausam – ganz so wie der Krieg selbst für die Teilnehmer war.

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Er schuf eine extreme Kunst für ein extremes Zeitalter. In beiden scheiterte die Humanität bzw. sie wurde zur Strecke gebracht. Dass er diesen Umstand so rücksichts- und schonungslos in immer neuen Variationen ausbreitet, sieht Dix selbst als sein besonderes Verdienst und gilt als herausragendes Charakteristikum seiner Kunst und macht daher in der Tat seinen historischen Rang aus.

Eine völlig andere Haltung in diesen Dingen nimmt der im selben Jahr 1891 wie Dix geborene Fritz Steisslinger mit seinem Denken und seinem Werk ein. (Ausführliche Informationen zu Leben und Werk finden sich auf www.fritz-steisslinger.de.)

Steisslinger hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Er kehrte dazu eigens aus Venedig zurück, wo er bis dahin lebte und wirkte. Er diente als Artillerist, Beobachter, Melder und Batterieführer, 1915 an der Ostfront, ab 1916 Westfront und wurde mehrmals schwer verwundet – erfuhr nach anfänglichem Optimismus die Grauen des Krieges, dieser sei:

„schrecklich […], blutig, grausam“, aber: „Am meisten ist er doch erbärmlich. Und darum eben grausig, grausig […] ein einziger Friedhof, scheußliche Katakombe. Eine Wollust des Ekels.“

Fritz Steisslinger ist – soweit bekannt – der einzige Künstler, von dem nachweislich Ölbilder aus den Quartieren und Unterständen vor Ort erhalten sind. Es handelt sich um kleine Ölstudien und Skizzen.

Links: Fritz Steisslinger: Zwei Soldaten am Ausgang eines Unterstands, um 1916/17, Öl/Lwd., 26,5 x 14,5 cm
Mitte: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl /Lwd., 10,3 x 10,4 cm
und: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl/Lwd., 15 x 12 cm
Rechts: Fritz Steisslinger malt im Unterstand umringt von Kameraden, 1916, Fotografie

Über das Malen im Krieg sinniert Steisslinger in seinem Tagebuch am 5. März 1916:

„Den Tag war’s ruhig. Ich habe eine Skizze vom Unterstand gemacht, Bausch und Möbius als dekorierende Kanoniere.“

Fritz Steisslinger: Kriegstagebuch, Nachlassverwaltung Fritz Steisslinger, Böblingen

und zwei Wochen später:

„Heut Früh ein Portrait des Hauptmanns angefangen. Untermalt in einer Stunde“ und kommentiert weiter: „Gemalt, wie das klingt! Wie mitten im Frieden. Ziemlich weit bin ich gekommen und morgen früh komme ich in die Feuerstellung und der Hauptmann.“

Ebenda

Als er einige Tage später fertig ist, schreibt er:

„Portrait fertiggemacht. Danach sind sie drum herumgetanzt. Grossartig – Tadellos!“

Ebenda

In solchen privaten Äußerungen dokumentiert sich der Irrsinn dieses Krieges – aber kaum in Steisslingers Bildern – denn: das Bemerkenswerte an seinen Ölskizzen ist, dass sie keine Kampfhandlungen zeigen und keine dramatischen Ereignisse. Er malt v. a. die Kameraden und ihren Alltag beim Harren im Unterstand. Allenfalls ein „Soldat auf der Lauer“ verweist unmittelbar auf Kriegsereignisse oder einige Skizzen mit Bränden und Zerstörungen in Dörfern als Folgen des Krieges:

Oben v.l.: Fritz Steisslinger: Ruinen, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12 x 9,2 cm – Brandherd zwischen Häusern, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12,5 x 10,6 cm – Zerstörte Häuser im Dorf, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 10,4 x 15,4 cm
Unten: Zwei Soldaten am Unterstand, um 1916, Öl/Lwd./Pappe, 13 x 24,3 cm

Ansonsten gibt es noch eine Tusche-Zeichnung zum Neujahr 1918:

Fritz Steisslinger: Ich wünsche Dir nur im Neuen Jahr, es sei nicht schlimmer als das alte war, 1917, Tusche, 9,5 x 14,4 cm

Das ist alles, ansonsten nichts vom Schrecken und Sterben im Krieg – wie es uns drastisch Dix oder Beckmann vorführen. Diese gibt es auch bei ihm, aber nur in seinem privat gebliebenen Tagebuch! Solche Schilderungen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt – warum, das begründet er in einem Brief an seinen Sohn Hans im Zweiten Weltkrieg, in dem der Vater und seine drei Söhne, von denen er zwei verlieren sollte, dienten:

„… Wir sind zwei Kriegsgenerationen schlechthin.
Wenn ich mir in Erinnerung zurückrufe meine eigenen Bedrängnisse während des letzten Krieges (1914–1918), so kommt es mir vor, als erlebte ich nach Deinem Bericht alles nochmals.

Dabei habe ich auch in diesem Krieg wieder etwas mitgetan und viel Kampf und Elend in jeder Form erlebt. Fast 8 Jahre war ich Front- oder Kriegssoldat. […]
Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten. Ich habe es ein ganzes Leben lang niemals in seiner ganzen Nacktheit von mir gegeben – – – selbst dann nicht, wenn damit ein gewisser Eindruck zu meinen Gunsten hätte erzielt werden können.
Wie in meiner Malerei […] habe ich in jeder Hinsicht und vor allem in der als Mann, möglichst immer das gesagt und getan, was für die von mir geschützte oder gar geliebte Umwelt gerade noch erträglich sein konnte. Was unter dem Strich lag, hat mich nie interessiert.“

Brief an den Sohn Hans, 19. September 1943

Steisslinger war zwar jederzeit kompromisslos in seiner künstlerischen Haltung gewesen, doch den Zynismus der Welt im Bild zu spiegeln, ihn gar zu überzeichnen und übersteigern, wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz es getan haben, und die Abgründe des menschlichen Seins vorzuführen, das war ihm fremd.

Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten.

Fritz Steisslinger

Für Dix ist so etwas eine spießbürgerliche Hemmung, für Steisslinger ein Gebot der Humanität. Ein größerer Gegensatz in den Haltungen lässt sich kaum denken. Die Kunstgeschichtsschreibung ist in ihrem Urteil Dix gefolgt und hat sich bis heute mit ihm auf die Seite der extremen Entblößung extremer Gewalt geschlagen – die Diskretion, wie sie Fritz Steisslinger mit seiner Haltung und seinen Werken verkörpert, steht auf verlorenem Posten. Ein Umstand, über den sich nachzudenken lohnt.

— Fortsetzung folgt —

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Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– II –

Links: Gabriele Münter: Selbstbildnis, 1935
Rechts: Maria Caspar-Filser: Die Malerfamilie, 1939 (Ausschnitt)
Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich

Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

oder vom Glück das richtige Opfer zur rechten Zeit im richtigen Umfeld zu sein sowie vom Schaden offensichtlich bürgerlicher Verhältnisse und der falschen Religion für Künstler der Avantgarde

Zwischen den beiden Weltkriegen war Maria Caspar-Filser (1878–1968) die berühmteste lebende deutsche Malerin. Die in Riedlingen im Landkreis Biberach geborene und seit 1907 in München lebende Maria Caspar-Filser zählte 1913 als einzige Frau zu den Gründungs-Mitgliedern der Münchener Neuen Secession und wurde 1925 als erste deutsche Malerin überhaupt zur Professorin ernannt – damit stand sie neben Käthe Kollwitz, die bisher als einzige Bildhauerin den Titel erhalten hatte. Es folgte die Zeit ihrer höchsten Anerkennung, mit internationalen Ausstellungen, mehreren Beteiligungen an der Biennale in Venedig.

Dann kam der Bruch durch die nationalsozialistische Verfemung, die schon 1928 einsetzte und von der sich ihre Rezeption bis heute nicht befreit hat. Stattdessen wird heute immer, wenn von großen deutschen Malerinnen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, an erster Stelle Gabriele Münter (1877–1962) genannt – wie kam es dazu und ist das berechtigt?

Zwar war Gabriele Münter vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Beteiligung an den Ausstellungen des Blauem Reiters ebenfalls mitten im Geschehen und ihr malerisches Werk der Zeit teilt in der Reduktion gegenständlicher Formen sowie dem Einsatz summarischer Farbflächen wesentliche Aspekte der Kunst dieser avantgardistischen Bewegung, doch sowohl im Hinblick auf die künstlerische Eigenständigkeit als auch im Hinblick auf die Rezeption und die Position im zeitgenössischen Kunstleben nimmt sie keine zu Maria Caspar-Filser vergleichbare Position ein.

Zu den bemerkenswerten Besonderheiten von Caspar-Filsers Werk gehören ihre Schilderungen von Szenen aus dem Krieg schon kurz nach dessen Ausbruch.

Links: Maria Caspar-Filser: Abfahrt der Freiwilligen, 1914
Rechts: Maria Caspar-Filser: Marsch durch ein brennendes Dorf, 1914

Maria Caspar-Filser beteiligte sich — einmal mehr als einzige Frau — an der Gestaltung von Mappenwerken zum Ersten Weltkrieg, deren Verkauf der Behandlung von verwundeten Soldaten und Kriegsversehrten zugute kommen sollten. Sie sind zum einen aufgrund ihrer weiblichen Autorschaft von besonderem Interesse, zum anderen aber allein wegen ihrer Motivwahl und künstlerischen Ausführung. Caspar-Filser stellt hier anonyme Menschenmassen in eine sie dominierende Umwelt – in Motiv und Gestaltung wirken diese Darstellungen aktuell und modern.

Von besonderer Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft ist das Gemälde:

Maria Caspar-Filser: Das Schlachtfeld, 1914, Öl/Lwd., 34 x 48 cm

In Duktus und Dramatik erinnert es an Ludwig Meidners Apokalyptische Visionen von 1913. Mit seiner expressiven Steigerung des Geschehens ist es ein herausragendes Bild einer Künstlerin der Zeit. Nach dem Schlachten bleibt die geschundene und getötete Kreatur in der Natur zurück. Dieses Gemälde steht in gewisser Weise in ihrem Werk wie auch in ihrem künstlerischen Umfeld absolut singulär da. Es fängt die Unmittelbarkeit der Ereignisse ein – ohne dass sie selbst vor Ort war und das Kriegserlebnis geteilt hätte.

In den hier von Caspar-Filser gezeigten Werken manifestiert sich jener Dreischritt der Kriegserfahrung, der die dramatische Entwicklung der öffentlichen Stimmung charakterisiert:
1. Umjubelter Aufbruch
2. Konfrontation mit der unerwarteten Realität
3. Desillusionierung und Schrecken

Bei Münter findet sich praktisch nichts zum Thema, allenfalls können solche Darstellungen wie die hier eingefügte Klage als Reflex dieses dramatischen und epochalen Ereignisses gesehen werden.

Gabriele Münter: Klage, 1915, Öl/Lwd., 69,4 x 48,7 cm, Privatbesitz

Vergleicht man die Landschaftsgemälde der folgenden Jahrzehnte lässt sich die malerische Überlegenheit und tiefgehendere Reife in der Gestaltung Caspar-Filsers allenthalben erkennen.

Das gilt für die Zwanziger Jahre ebenso…

Links: Maria Caspar-Filser: Sestriere, 1925 / Rechts: Gabriele Münter: Blauer See, 1925

…wie in den Jahren der Unterdrückung:

Links: Maria Caspar-Filser: Septembermond, 1935
Rechts: Gabriele Münter: Olympiastraße, 1936

…oder die Nachkriegszeit, in der sich beide nicht mehr wesentlich verändern. Für die Stillleben beider ließen sich die Vergleiche fortsetzen. Wer nicht mit dem Vorurteil, dass Naivität und Kindlichkeit grundlegende Qualitäten avantgardistischer Malerei die Werke betrachtet, wird klar erkennen, wer hier die bessere Malerin ist.

Warum aber nun hat Caspar-Filser nach dem Krieg nicht mehr die gleiche Würdigung erfahren wie Münter und die anderen Expressionisten? Dazu lassen sich mindestens folgende Gründe anführen:

Erstens wegen ihrer ästhetischen Individualität, die sich keiner Richtung oder Gruppentendenz einordnen lässt.

Mit den historischen Bewegungen des Expressionismus in Deutschland hat ihre Malerei nur wenig gemein. Sie teilt weder den absoluten diesseitigen Subjektivismus des nördlichen Expressionismus, insbesondere der Brücke-Maler, noch die transzendental-esoterische Vergeistigung einiger Expressionisten des Blauen Reiters wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc. Bei ihr findet sich weder etwas vom Pathos des Menschlichen der einen, noch vom Pathos des Geistigen der anderen.

Ihre Kunst ist überhaupt vollkommen frei von jedem Pathos (worin sie sich von der ihres Mannes unterscheidet). Alles ist verankert im sinnlichen Erlebnis der sichtbaren, gegebenen und als solcher wahrgenommenen Gegenstandswelt. Ideologie sowie jegliche Parteinahme ästhetischer oder kunstpolitischer Art sind ihr vollkommen fremd.

Damit ist der zweite der Faktoren berührt, die der Rezeption des Werkes von Caspar-Filser nach dem Zweiten Weltkrieg in der Breite entgegenstanden, wie sie anderen Vertretern ihrer Generation zuteil wurde. Denn nach dem Krieg wurden zunächst und mit besonderer Vehemenz die programmatisch enger definierten Gruppierungen und Tendenzen der Moderne und Avantgarde sowie die einzelnen Künstler, die diesen angehörten, rehabilitiert und gewürdigt. Das waren die Künstlervereinigung Brücke, die Künstler aus dem Kreis des Blauen Reiters oder die Vertreter des Bauhauses.

Künstler, die solchen Gruppierungen angehörten, erfuhren allein aufgrund dieser Zugehörigkeit höhere Aufmerksamkeit und Würdigung als Künstler derselben Generation, die keiner dieser Gruppierungen angehörten. Für die Münchner Kunstgeschichte scheint dieses Rezeptionsverhalten besonders ausgeprägt, da sich sowohl im universitären wie auch im Museumsbetrieb eine extreme Fokussierung auf das Wirken Kandinskys und des Blauen Reiters als quasi eigentlicher und einziger legitimer Vertretung einer progressiven Münchner Moderne durchgesetzt hat, obwohl sich gerade hier allerlei unterschiedliche Künstlergruppen und -vereinigungen gründeten, die sich auch in einer lebendigen und durchauskomplexen Auseinandersetzung miteinander befanden.

Drittens ist im Zusammenhang mit den Avantgarde-Bewegungen richtig festzustellen: Maria Caspar-Filser war auf den ersten Blick sicher keine Revolutionärin der Malerei. Ihr Werk entwickelte sich vielmehr in organischer Weise, was von zeitgenössischen Kritikern seit ihren Anfängen immer wieder betont wurde.

Doch ist dies im Rückblick allerdings ein Moment, das ihrer Rezeption als bedeutender Künstlerin des 20. Jahrhunderts schadet, da der kunsthistorische Blick weitgehend auf das unmittelbar offensichtliche bzw. behauptete Neue und Revolutionäre, auf die Risse und Brüche in den Werken der Künstler oder auf die Konflikte und Kämpfe der Künstler und Kunstrichtungen mit dem etablierten Kunstbetrieb, mit der Geschichte, der Politik und ihren Institutionen gerichtet ist. Davon lässt sich tatsächlich so wenig bei Caspar-Filser finden, dass sie durch das Raster dieses Blickes hindurchfällt.

Viertens widersetzt sich auch ihre Werkgestalt den noch heute gültigen ästhetischen Ideologien der wesentlichen Avantgardegruppen. Dazu sei zuerst im Vergleich mit den Künstlern des Expressionismus – hier geschehen mit Gabriele Münter – auf ihren Umgang mit Farbe verwiesen:

Exemplarisch für das gängige kunsthistorische Verständnis ist die Feststellung im Vorwort zur großen Retrospektive des Werks von Gabriele Münter 1992 in München, in dem es heißt: „…die Intensität des Blicks, die Fähigkeit zur Vereinfachung des real Gesehenen, die Arbeit allein aus Umrisslinien und flächenhafter Farbe bildeten entscheidende Elemente [ihres] Neubeginns.“

Ersteres ist eine Unterstellung, die besser zu Caspar-Filser passen würde, der Rest der Aussage gilt für einen Großteil der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, denn Vereinfachung, Umriss, flächenhafte Farbe – diese Eigenschaften finden sich in der Tat bei den Expressionisten der Brücke, des Blauen Reiters, im Bauhaus und bei de Stijl. Zu ergänzen wäre nur, dass flächenhafte Farbe zumeist auch die Tendenz zur reinen Farbe meint, zur Bevorzugung der Primär- und Sekundärfarben in der Theorie und ihrer systematischen Anwendung in der Praxis.

Allen genannten Tendenzen widersetzt sich die Malerei Caspar-Filsers. Genauer: Sie strebt kontradiktorisch in die entgegengesetzte Richtung: Zwar mag sie im Einzelnen auch Gegenstände vereinfachen, doch es ist gerade die Komplexität ihrer sinnlich-realen Erscheinung, der sich die Malerei Caspar-Filsers zuwendet.

Dazu gehört auch, dass sie den Umriss vermeidet. Er vereinheitlicht die Erscheinung der unterschiedlichsten Gegenstände formal und weist ihnen eindeutige Begrenzungen zu. Dieses Vorgehen ist Caspar-Filser vollkommen fremd. Nicht allein, dass solche Konturen einer beobachtenden Weltwahrnehmung und aus ihr entspringenden Darstellung widersprechen, sie unterwerfen die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und überbordenden Fülle einem ihr fremden Regulativ und berauben sie so ihrer Freiheit. Gleiches gilt für die Anwendung farbiger Flächen und die Theorie reiner Farben.

Mit den Farbtheorien der Avantgarde – insbesondere Kandinskys und Ittens – setzt sich eine Hierarchisierung der Farben durch, in der gemischte Farben, Nuancierungen, Schattierungen, Brechungen usw. gegenüber den reinen Farben abgewertet werden. Für Caspar-Filser existieren solche Hierarchien nicht. Sie setzt auf den Reichtum des gesamten Spektrums farbiger Gestaltung, inklusive aller gebrochenen und schmutzigen Farben.

Fünftens fehlte ihr nicht nur die richtige Künstlergruppe, sie hatte auch den falschen Partner und führte mit ihm ein für die künstlerische Reputation offensichtlich ungeeignetes Leben: Sie war mit Karl Caspar, den sie seit ihrer Kindheit kannte und zur Malerei brachte, früh verheiratet und blieb es das gemeinsame Leben lang – und sie führten ein geregeltes Leben, das bürgerlichen Vorstellungen entsprach. Ganz schlecht im Hinblick auf die Bildung attraktivitässteigernder künstlerischer Legendenbildung…

– dagegen Münter: optimal! Sie kommt mit ihrem Kunstlehrer Kandinsky zusammen, lebt mit ihm in wilder Ehe ein richtiges Künstlerleben à la Bohème, wird dann schnöde von ihm verlassen und kommt über den Verlust lange nicht hinweg. In ihrem Leid widmet sie sich ihrem Werk für das sie einige Anerkennung erhält. Am Ende zeigt sie sich großzügig und stiftet ihre und seine Werke dem städtischen Museum Lenbachhaus, das so mit einem Schlag zum Zentrum der Kunst des Blauen Reiters wird – und darauf folgt

sechstens: dass mit ihrer Stiftung an das Lenbachhaus seit den fünfziger Jahren für dieses ein vitales Interesse an ihrem Werk bestand, dessen Bedeutung es in der Folgezeit mit Ausstellungen und Publikationen massiv propagierte. So ist denn zu beobachten, dass ihr Name ungefähr ab den Neunziger Jahren in die großen Überblickskunstgeschichten Einzug hält. Ihr heutiger Ruf verdankt sich vor allem diesem Umstand.

Auf der anderen Seite lässt sich resümieren, dass der künstlerische Rang und die kunsthistorische Rezeption Caspar-Filsers in keinem Verhältnis zu ihrem derzeitigen Bekanntheitsgrad unter deutschen Kunsthistorikern und der kunstinteressierten Öffentlichkeit stehen. Seit dem Krieg ist die Kenntnis ihrer Werke auf den süddeutschen Raum beschränkt geblieben.

Hier, insbesondere in den heimischen Regionen Oberschwabens und der schwäbischen Alb, erfährt sie kontinuierliche Würdigung – aber nun als schwäbische, als eine für die Region bedeutende Künstlerin. Dass sie dies ist, steht außer Frage. Doch es bleibt die Frage, ob ihr künstlerischer und kunsthistorischer Rang darauf beschränkt bleiben darf und kann.

Die Antwort auf diese Frage kann in Anbetracht ihrer bedeutenden Rolle in der deutschen Malerei vor der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer spezifischen malerischen und ästhetischen Qualitäten nur eine sein, nämlich ein klares und vernehmliches: Nein.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 3: Von Künstlern im Krieg

Bildnachweise:
© VG Bild Kunst, Bonn, und Archiv Haus Caspar-Filser, Brannenburg für die Werke von Maria Caspar-Filser, 2023
© VG Bild Kunst, Bonn, und Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, 2023

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Betrachtungen zum „Bilderatlas Mnemosyne“

Aby Warburg: Bilderatlas MNEMOSYNE. The Original. Hrsg. Haus der Kulturen der Welt, Berlin und The Warburg Institute; Roberto Ohrt, Axel Heil. Berlin: Hatje-Cantz 2020

Erste Betrachtung

Das Buch

Einen solchen Folianten wie diese Ausgabe des Bilderatlas Mnemosyne in die Hand zu nehmen, ist schon an sich jedes Mal ein eigenes Erlebnis. Allein schon die Größe (66 x 46,8 cm) und das Gewicht (6,245 kg) des Buches zu spüren, die Sinnlichkeit seiner Gestaltung zu fühlen und zu sehen – die Oberfläche des Einbands, die Leinenstruktur und das Relief der tiefgedruckten Schrift. Der Korpus und die Ästhetik dieses Buches, seine Haptik und Optik bereiten bereits Empfindungen von Genuss und erzeugen Vorfreude auf das, was sich im Inneren offenbaren mag.

Zugegeben – es ist auch mühselig, das Buch zu ergreifen, es aus dem Regal herauszuziehen oder vom Boden hochzuheben und es auf den Tisch zu wuchten und zu aufzuschlagen. Aber diese Anstrengungen gehören zu diesem Eindruck, es hier mit einem besonderen und wertvollen Gegenstand zu tun zu haben – und somit zur Steigerung der erhebenden Gefühlen beim Öffnen dieses tatsächlich sehr besonderen Buches.

Unabhängig von allen persönlichen Eindrücken und Empfindungen im Umgang mit dieser Ausgabe gehört der Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg im Feld der Kunstgeschichte zu den berühmtesten und legendärsten Unternehmungen. Wer Kunstgeschichte studiert hat, kennt den Titel und hat ungefähre Kenntnis, worum es sich in der Sache oder bei dem Autor und seinen kunsthistorischen Interessen und Gegenständen handelt, völlig unabhängig von den eigenen Interessen und Schwerpunkten.

Eine ganz andere Frage ist, inwieweit im Einzelfall aufgrund irgendeiner fachlichen Notwendigkeit oder persönlichen Neigung tatsächlich die Lektüre, eine lernende und kritische Auseinandersetzung und somit die Aneignung einer wirklich fundierten Kenntnis erfolgt. So selbstverständlich die Kenntnis davon bei allen Beteiligten generell vorausgesetzt wird, so selbstverständlich ist eben auch, dass es gar nicht für alle möglich ist, von allen solchen Unternehmungen und Publikationen umfassende Kenntnisse zu besitzen.

Wir alle haben uns jeweils für uns selbst jene davon vorgenommen, die für unsere spezifischen Interessengebiete und Forschungsthemen grundlegend und relevant sind. Bei allen anderen nehmen wir unser Halbwissen als gegeben und – zumindest vorerst – ausreichend hin. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass dieses ungefähre Bescheidwissen immer ausreicht, um sich im Kreis der Eingeweihten oder in der Öffentlichkeit nicht zu blamieren.

Manchmal ist es dann aus irgendeinem Grund an der Zeit, sich die Sache doch einmal genauer vorzunehmen – sei es aus innerem Antrieb oder äußerem Anlass. So etwa ging es dem französischen Schriftsteller Michel Butor, von dem der italienische Autor Italo Calvino in der Einleitung seines Buches Warum Klassiker lesen? erzählt:

„Vor einigen Jahren unterrichtete Michel Butor in Amerika und war es überdrüssig, immer nach Emile Zola gefragt zu werden, den er nie gelesen hatte. Daher beschloss er, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen…“

Italo Calvino: Warum Klassiker lesen?, München: Hanser 2002, S. 7–8

Dass Butor dauernd danach gefragt wurde, liegt daran, dass sich wohl kein Mensch, der sich für den französischen Roman interessiert und begeistert, vorstellen kann, dass heute ein Autor oder eine Autorin Romane liebt und schreibt, ohne jemals Zolas Zyklus gelesen zu haben, der in diesem Feld so etwas wie die Benchmark bedeutet, also wahlweise vergleichbar mit Shakespeare oder Goethe für die englische oder deutsche Literatur allgemein, oder für das Feld der Kunst mit Leonardo oder oder Picasso.

Einen solchen Moment der inneren Aufforderung zur Lektüre hatte ich nun mit dem Bilderatlas Mnemosyne von Aby Warburg. Denn diesen habe ich in der beschriebenen Ausgabe zum Geburtstag geschenkt bekommen. Und seitdem er seinen Platz hier im Raum eingenommen hat – aufgrund seines immensen Formats immer gut sichtbar, geradezu etwas aufdringlich, und damit für das Bewusstsein unumgänglich – verspüre ich einen leisen, aber bestimmten Druck, mir diesen Band vorzunehmen und mich mit ihm umfassender zu befassen – vor allem aus zwei Beweggründen, soweit mir diese im Bewusstsein zugänglich sind.

Beides hat mit dem persönlichen Ethos zu tun (vielleicht auch ein bisschen mit dessen Kehrseite, dem schlechten Gewissen). Einerseits geht es für mich darum, die Gabe der Schenkenden zu würdigen – und damit auch die Schenkerin selbst, bei der es sich immerhin um meine Frau handelt, deren Geschenke mir ohnehin etwas ganz Besonderes bedeuten. Andererseits fühle ich mich in der Sache sowohl getrieben von meiner unstillbaren Neugier und meinem persönlichen Ehrgeiz als auch verpflichtet im Hinblick auf meine fachlichen Kenntnisse, in diese Materie einzutauchen.

Also habe ich mir die Auseinandersetzung mit dem Bilderatlas vorgenommen – wobei ausdrücklich meinem sonstigen Vorgehen beim Erarbeiten von Kunstwerken entsprechend am Anfang die eingehende Betrachtung des Objekts als solchem stehen wird, das heißt hier der Bildtafeln und ihrer Zusammenstellung und Folge. Im Zuge der Formulierung der Überlegungen und Gedanken, die sich dazu herausbilden, werden zusätzlich die Bilderläuterungen herangezogen und darüber hinaus sicher auch weitergehende Informationen.

Wie weit die Betrachtungen führen und was daraus entsteht, das wird sich im Verlauf des Experiments zeigen. Immerhin wäre es schon einiges, wenn es mir ginge wie Michel Butor, als er sich schließlich in die Lektüre des vollständigen Zyklus der Rougon Macquart von Emile Zola versenkte. Darüber fährt Calvino fort:

„… – und entdeckte, dass das Buch ganz anders war, als er es sich vorgestellt hatte: ein wunderbarer mythologischer und kosmogonischer Stammbaum, den er in einem herrlichen Essay beschrieb.
Soviel nur, um zu sagen, daß es ein außerordentliches Vergnügen ist, ein großes Buch in reifem Alter zum ersten Mal zu lesen: anders (aber man könnte nicht sagen besser oder schlechter) als das Lesen in der Jugend. Die Jugend verleiht der Lektüre wie jeder anderen Erfahrung auch einen besonderen Geschmack und eine besondere Bedeutung; während man im reifen Alter eher viele Details, Ebenen und Bedeutungen zu schätzen weiß (oder schätzen sollte).“

Italo Calvino: Warum Klassiker lesen?, München: Hanser 2002, S. 7–8.

– Fortsetzung folgt –

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Von Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Form-Spirit Transformation
Giacomo Balla: Transformación forma-espíritu, 1918, Casa Museo Giacomo Balla, Rom
© Public Domain

Fortsetzung

– III –
Kunstvolle Verwandlungen

Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier:
I – Was ist eine Dampflokomotive?
II – Was sind Wolken?

Technisch betrachtet ist eine Dampflok eine Dampfmaschine auf Rädern. Das heißt, die Energie, die von der brennenden Kohle erzeugt und zum Erhitzen von Wasser verwendet wird, dient nicht zum Antreiben von fixierten Gerätschaften, sondern wird zur gerichteten Fortbewegung dieser Maschine selbst genutzt. Der aufsteigende Dampf ist also Resultat, nicht aber – wie ich es als Kind sehen wollte – Zweck des Betriebs dieser Apparatur.

Wie dem im Einzelnen auch sei – am Beispiel und Bild der Dampflokomotive lässt sich vor allem ein Aspekt aufzeigen, der mir hier der wichtigste ist: Sowohl in der Bewegung der Maschine selbst, wie in der von dieser Maschine erzeugten Bewegung, als auch am Ende im Aufsteigen der Wolken wird das zentrale gemeinsame Charakteristikum von Wolken und Maschinen anschaulich: Das Wesen der Transformation!

Hierin liegt ihre wesentliche Gemeinsamkeit, die allerdings selten in den Blick gerät. Zunächst treten beim Vergleichen von Maschinen und Wolken ihre Unterschiede in den Vordergrund. Denn abgesehen vom hier herausgestellten Aspekt der Transformation als solchem verhalten sich Wolken und Maschinen gegensätzlich zueinander:

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Wolken sind Maschinen keine natürlichen Phänomene, sondern von Menschen konstruierte Apparaturen, die explizit zur Hervorbringung von Transformationen dienen. Und zwar in zweifacher Weise (worin sie sich im übrigen, soweit ich es sehe, vom einfachen Werkzeug unterscheiden):

Die erste Transformation besteht im Einsatz von Materialien und Prozessen zur Erzeugung von Energie (in Form von Hitze, Druck, Bewegung o.a.) und diese dient zur Erzeugung der angestrebten zweiten Transformation, z.B. das Pressen einer Form oder den Vorwärtstrieb der Lokomotive. Das heißt, es handelt sich um eine zweckhafte und zielgerichtete Transformation, die ein definiertes Ergebnis hervorbringen soll. Abweichungen im Funktionieren oder in der hervorgebrachten Gestalt gelten als Fehler.

Eine Maschine vollzieht also grundsätzlich beabsichtigte, gerichtete und kontrollierte (zumeist zumindest) und damit vorhersehbare Modifikationen in sämtlichen Bereichen. Aufgrund ihrer steten Verbesserung und der Erfindung immer neuer Maschinerien ist die Maschine als solche zum Sinnbild geworden für die Beherrschung der Welt durch den Menschen und den von ihm angetriebenen Fortschritt.

„MASCHINE […] jede Vorrichtung zur Erzeugung oder Übertragung von Kräften, die nutzbare Arbeit leistet (,Arbeits-M.‘) oder eine Energieart in eine andere umsetzt (,Kraft-M.‘)“

Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, 14. Band, Mag–Mod, Mannheim: F.A. Brockhaus 1991, S. 271

Wie aber steht das alles nun im Verhältnis zur Kunst, um die es hier letztlich im Wesentlichen geht?

In gewisser Weise hat die Kunst an beidem Anteil – sie bewegt sich im weiten Raum zwischen den Wolken und den Maschinen und begreift in ihrem Wesen beide mit ein.

Dass ihr etwas Wolkenhaftes eigen ist, braucht fast nicht eigens angeführt zu werden. Dies wird gegen sie von Seiten der Kunst gegenüber kritisch eingestellten Zeitgenossen ins Feld geführt. Von jenen wiederum, die sie schätzen und bewundern liegt gerade darin einer ihrer wesentlichen Reize, ein großer Teil des Zaubers und des Geheimnisses, mit dem die Kunst uns Menschen in den Bann ziehen kann.

Andererseits hat die Kunst aber auch etwas Maschinenhaftes: Ein Kunstwerk kann – in seiner funktionellen Eigenart beschrieben – definiert werden wie eine Maschine: eine von Menschen konstruierte zweckmäßige Ordnung zur Übertragung von Kräften bzw. Umsetzung von Energien – wobei diese hier nicht materieller Art sind. Am Beispiel der Malerei formuliert handelt es zunächst um die Überführung einer mobilen Ordnung – der Farben auf der Palette – in eine feste Ordnung – der Komposition auf der Leinwand, mit dem Ziel eine bildnerische Realität zu formulieren, die wiederum spezifisch ausgerichtete, für die betrachtenden Menschen gleichermaßen erkennbare Sinn-Effekte hervorbringen soll.

Tatsächlich hat man sich früher das Funktionieren der Bilder wie Maschinen durchaus im wörtlichen Sinn vorgestellt: Nicht zufällig hießen im 19. Jahrhundert die großen als Meisterwerke konzipierten Gemälde in der französischen Kunst „Grandes machines“.

Solche gemalten Bilder sollten die Bedeutungen, die von Künstlern oder Künstlerinnen bzw. die der Institutionen, die sie dazu beauftragten, möglichst deutlich abbilden und ebenso eindeutig wie möglich auf die Menschen, die das Werk zu Gesicht bekamen, wirken. Das aber hat, wie die Geschichte gezeigt hat, so nicht funktioniert. Tatsächlich verhalten sich gemalte Bilder im Hinblick auf die Absicht der Festlegung ihrer Bedeutungen eher wolkenhaft – so festgelegt die einmal auf der Fläche organisierte Ordnung sein mag, so fertig und vollendet das Bild mit all seinen materiellen Eigenschaften als Gegenstand, als Produkt sein mag. Im Hinblick auf den Prozess der Sinn- und Bedeutungsbildung bleibt es unabgeschlossen und offen, eine Projektionsfläche für Assoziationen und ständig in Bewegung – genau wie Wolken.

Francis Picabia: Machine tournez vite, 1916/1918, Washington, National Gallery of Art
© Rice University, Department of Art History, https://hdl.handle.net/1911/85870. Foto: William A. Camfield

Es ist wiederum genau diese Eigenart des Bildcharakters, die Fähigkeit zu permanenter Transformation, die in der Moderne zahlreiche avantgardistische Kunstbewegungen zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Konzepte gewählt haben.

Das Kunstwerk soll nicht das eindimensionale finale Produkt einer Maschine sein, sondern wird nun eher verstanden als das energetische Moment, das sich im im oben beschriebenen ersten Transformationsprozess vollzieht, also – noch einmal mit der Dampflok gesprochen – es wird aufgefasst wie die Flamme, die aus der Erhitzung der Kohle aufsteigt und den Dampfdruck erzeugt.

Womit wiederum die zweite Transformation ausgelöst wird, die nun aber zwei Wirkungen hervorbringt, einerseits die Erkennbarkeit der sinnhaft geordneten Darstellung – bei der Lokomotive die intendierte ausgerichtete Bewegung – andererseits den Nebeneffekt all der ungeplanten und unvorhersehbaren möglichen Assoziationen, Bedeutungen, Sinnschichten, die mit jeder neuen Betrachtung des Werkes aus diesem hervorgehen und seine Betrachtungsmöglichkeiten variieren und verwandeln und ihm ein quasi magisches Eigenleben verleihen – vergleichbar den aus dem Schornstein aufsteigenden und unaufhörlich bewegten Wolkenbildern, die den besonderen Zauber dieser fahrenden Maschinen ausmachten.

Was sich hier – beispielhaft am Feld der Malerei dargestellt – im Gebiet der Kunst vollzieht, das sind in gewisser Weise Umstülpungen und Umwertungen im Umgang und im Gebrauch der Kunst und ihrer jeweiligen Bedeutung.

Kunst sollte als Metamorphose betrachtet werden, als beständige Umwandlung.

Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst

Solche Umwertungen finden aber aber keineswegs nur in der Kunst oder Poesie statt. Sie sind nicht darauf beschränkt.

Auch die Wissenschaften, die Politik, das Wirtschaftsleben sind genauso davon betroffen, allerdings häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch hier treten neben den angepeilten und kontrollierten Effekten von Entscheidungen und Maßnahmen zuhauf überraschende Wendungen und Neubewertungen auf – die wiederum erst kreative Räume im wissenschaftlichen und technischen, im politischen und wirtschaftlichen Raum öffnen. Als Beispiel sei hier eine neuere Umwertung genannt, von der wir alle unvermeidlich betroffen sind: die von den Wolken zur Cloud.

Wie dargestellt galten Wolken aufgrund ihrer Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit über Jahrhunderte Sinnbild der Unsicherheit, des Ungefähren, des Gefahrbringenden (etwa von Gewitter und Sturm) sowie des selbst Gefährdeten und vollkommen Unbeständigen.

Doch nun, mit der Ausweitung des neuen, von Menschen geschaffenen digitalen Raums hat sich mit dem Bild und der Bedeutung der Wolke eine bemerkenswerte Transformation vollzogen. Nun wird sie – auf Englisch, der globalen Universalsprache und in den generell umfassenden Konzepte bezeichnenden Kollektivsingular überführt – als „Cloud“ zum Sinnbild der Sicherheit, der Bewahrung, der Kontinuität, der Verfügbarkeit und des permanenten Zugriffs auf alles, was unter dem Begriff Daten zusammengefasst wird.

Das wiederum kann inzwischen wohl tatsächlich alles sein, was sich Menschen ersonnen haben. Sobald irgendeine Manifestation davon für die Speicherung auf digitalen Geräten erzeugt oder dort eingespeist wird, transformiert der Akt der digitalen Speicherung diese in das unendlich gleichmachende Rauschen von Nullen und Einsen, so einzigartig und unvergleichlich ein einzelner Mensch oder eine Sache, eine Idee oder ein Programm oder was auch immer sein mag.

Und immer mehr dieser für einzelne Menschen oder Gruppen oder die gesamte Menschheit bedeutenden und wertvollen Daten werden von ihnen nun dieser Cloud anvertraut. Was für eine Vorstellung bei genauerer Betrachtung – ausgerechnet die Wolke wird auserkoren als Inbegriff der Bewahrung, Sicherheit und Dauerhaftigkeit.  Ausgerechnet sie soll uns als stets verfügbarer, zuverlässiger Speicherraum unseres Wissens dienen, sie soll unsere persönlichen und gemeinsamen Schätze bewahren und Werte erhalten, sie soll zu unserem Gedächtnis werden und unser weiteres Funktionieren sichern sowie unserem Leben die Zukunft.

Damit wird sie zu einem Teil von uns, einem Teil unseres Denkens, unseres Gehirns. Und hier trifft sich wiederum dieser aktuelle Trend mit den ältesten mythologischen Vorstellungen des Menschen – denn einst, in der nordischen Mythologie, ging man davon aus, dass die Wolken gebildet würden aus den Gehirnen der Riesen.

„Der nordischen Mythologie zufolge wurden die Wolken bekanntlich gebildet aus des Riesen Hirn. Und wahrlich, es gibt kein besser´ Sinnbild für die Wolken denn Gedanken und kein bess’res für Gedanken denn Wolken – Wolken sind ja Hirngespinste und Gedanken, was sind sie anderes? Sieh, darum wird man alles andern müde, doch der Wolken nicht…“

Søren Kierkegaard: „Das Spätjahr ist der Wolken Zeit“

Und heute bildet die Cloud für uns ein Riesenhirn – und tatsächlich sind sich ja Hirn und Wolke in ihren gerundeten Formen morphologisch ähnlich – und das führt uns zum Schluss, der im Zitat eines berühmten Bonmots des dadaistischen Künstlers Francis Picabia bestehen soll, Dieser konstatierte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ – So bleibt mir hier zum Schluss also nur noch, allen beim weiteren Denken und Betrachten eine gute Kurvenlage zu wünschen.

Anmerkung: 
Dieser Essay geht zurück auf die Keynote zur Eröffnung der zweiten Ausstellung Kunst am Campus ebenfalls mit dem Titel „Von Wolken und Maschinen“ am Hochschulstandort Tuttlingen der Hochschule Furtwangen University am 22.03.2016, mit Werken aus Kursen der Jugendkunstschule Zebra in Tuttlingen – Eine großartige Initiative, die technische Ausbildung und freies kreatives Gestalten junger Menschen zusammenbringt.