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Ausstellung Kunstgeschichte

Gibt es einen Impressionismus in Holland?

Ferdinand Hart Nibbrig: In den Dünen von Zandvoort, 1891/92, Singer Laren, Schenkung P. J. Hart Nibbrig 1981
© Abb. aus dem Katalog zur Ausstellung

Zur Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland im Museum Barberini in Potsdam

Zwei Frauen sitzen in grasbewachsenen Dünen unweit vom Strand, eine weiß, eine dunkel gekleidet, der ebenfalls weiße Sonnenschirm, diagonal gegen die milde Nachmittagssonne gestellt, hüllt beide in einen lichten Schatten, fern dahinter der silberblaue Himmel. In diesem Gemälde mit dem Titel In den Dünen von Zandvoort (1891/92) von Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915) lassen sich geradezu idealtypisch charakteristische Eigenschaften der impressionistischen Malerei finden, wie sie sich seit den 1870er Jahren von Frankreich aus über ganz Europa verbreitet hat.

Mit der Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland setzt das Museum Barberini seine Erkundungen zur Malerei des Impressionismus in unterschiedlichen Ländern und Gegenden fort.

Für dieses Unterfangen ist eine bemerkenswerte Zusammenstellung von Gemälden zustande gekommen, die über das im Titel angesprochene Thema hinaus Anliegen hinaus geeignet ist, einen spannenden Überblick zur niederländischen Malerei zwischen 1850 und 1920 zu bekommen. Allein dies ist ein grundlegendes Verdienst dieser Ausstellung.

Mindestens so spannend ist die Beantwortung der Frage, ob es einen Impressionismus als einem seinerzeit verbreiteten künstlerischen Anliegen und daraus resultierend als greifbare kunsthistorische Strömung in Holland bzw. den Niederlanden gegeben habe. Was im Titel der Schau zwangsläufig als gegeben behauptet, oder zumindest unterstellt wird, stellt sich bei näherer Betrachtung der Werke und bei der Lektüre des Katalogs keineswegs als eindeutig heraus.

Die Ausstellung zeigt: Ja, es gab Künstler und Künstlerinnen, die impressionistisch gemalt haben, wenn man begrifflich damit bestimmte stilistische und ästhetische Eigenschaften der Malerei bezeichnet, die sich in Frankreich seit dem Beginn der 1870er Jahre ausgebildet haben. Hier wäre allen voran etwa Jacob Maris (1837–1899), Evert Pieters (1856–1932), Isaac Israels (1865–1934), Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915) oder etwas später die Malerin Mies Elout-Drabbe (1875–1956) zu nennen, deren Malerei den ursprünglichen impressionistischen Prinzipien, wie sie insbesondere von Claude Monet, Camille Pissarro, Berthe Morisot oder Alfred Sisley etabliert wurden, zeitweise am nächsten kommt.

Hart Nibbrigs Gemälde In den Dünen von Zandvoort steht dafür exemplarisch und ist daher sicher auch als Plakatbild der Ausstellung und Titelmotiv des Katalogs ausgewählt worden.

Im Katalog, dessen Beiträge ich für diese Ausstellungsbesprechung noch nicht gelesen habe, wird sicher für die Beantwortung der Frage, inwieweit in der niederländischen Malerei der Zeit ein Impressionismus festgestellt werden kann, auch die zeitgenössische Rezeption bei Kunstkritik und Publikum einbezogen.

Doch wie sich auch immer die Existenz eines Impressionismus in den Niederlanden generell darstellt: Die versammelten Werke der Schau demonstrieren vielmehr wie widerständig die niederländische Malerei insgesamt gegen den Impressionismus gewesen ist, wie eigenständig sie angesichts der ganz Europa erfassenden dynamischen Ausbreitung des Impressionismus blieb. Sie ließ sich davon nicht derart fortreißen wie die Malerei in anderen Weltgegenden.

Schwerer wog offensichtlich das Bewusstsein für die eigene Tradition der langen und bedeutenden Geschichte der Niederländischen Schule (um die zeitgenössische Begrifflichkeit aufzunehmen) und deren Auffassung in der malerischen Erfassung von Landschaft und zeitgenössischem Leben.

Zu dieser gehörte immer auch die metaphysische Dimension. Sie spielte im französischen Impressionismus keine Rolle, aber von der altniederländischen Malerei über das Goldene Zeitalter im 17. Jahrhundert bis zum Symbolismus um 1900 und darüber hinaus ist sie für die Kunst in diesem Landstrich wesentlich.

Daher ist auch im historischen Rückblick leicht nachvollziehbar, dass der Pointillismus (so der Begriff, der in der Ausstellung verwendet wird, andere bevorzugen den gleichberechtigten Begriff Divisionismus, so auch ich), zeitlich und stilistisch deutlich unmittelbarer in die zeitgenössische niederländische Malerei eindrang als der eigentliche Impressionismus.

In den Niederlanden ging erst mit diesem post-impressionistischen Verfahren des Farbauftrags die systematische Aufhellung der Palette und die stärkere Leuchtkraft der Farben einher. Zu sehen besonders beim schon genannten Ferdinand Hart-Nibbrig, bei Hendricus Bremmer (1871–1956), Johan Joseph Aarts (1871–1934) oder Jan Toorop (1858–1928).

Die malerischen Ergebnisse stehen — wie schon die divisionistischen Gemälde von Georges Seurat in Frankreich — dem vorausgegangenen Impressionismus diametral entgegen. Nicht Augenblick und Atmosphäre charakterisieren Erscheinung und Wirkung der Bilder, sondern erstarrende Formen und Farbkalkül, ja Farbkalkulation, was sich unter anderem an der einheitlichen Farbgebung unterschiedlicher Motive zeigt. Es handelt sich also um eine Methode, die sich antithetisch zu der von Claude Monet verhält, der dieselben Motive mit den unterschiedlichsten Farben und zunehmender malerischer Freiheit wiederholte. Solche Formauflösung im freien Spiel von Farbe und Faktur, das war der Niederländer Sache offenbar nicht.

In seiner Eröffnungsrede verwies seine Exzellenz, der niederländische Botschafter und Schirmherr der Ausstellung, S. E. Ronald van Roeden, darauf, dass Alltagserfahrung und Landschaftserleben wesentlich von der Allgegenwärtigkeit von „Plassen“ durchdrungen seien. Plassen bezeichnet jedwede Form von Wasseransammlungen, die sich irgendwo ausbreiten — und in den Niederlanden, wie er anmerkte, eben überall. Von Pfützen, über Tümpeln und Teiche bis zu den Seen und dem Meer. Und in all diesen flüssigen Plassen spiegelt sich der weite und hohe Himmel in all seinem steten Wandlungen der Erscheinung, dem flüchtigen Wechsel von Sonne und Wolken, von Klarheit und Dunst. So eignen sich Plassen und Himmel als Schlüssel für das Selbstverständnis der Niederlande und  das Wesen der niederländischen Landschaftskunst.

Jacob Maris: Salatgärten bei Den Haag, um 1878, Kunstmuseum Den Haag
© Abb. aus dem Katalog zur Ausstellung

So faszinierend und erhebend die ästhetische Erfahrung von Plassen und Himmel sein mag, in ihrer realen Präsenz offenbaren sich zugleich jene Kräfte der Natur, die das kleine, flache und tiefgelegene Land zugleich existenziell bedrohen. Ohne handfeste Gegenmaßnahmen gäbe es dieses Land gar nicht mehr.

Vielleicht ist es aus diesem Grund also gerade die Allgegenwart des Flüssigen und Flüchtigen, dass die niederländische Kunst sich nicht den entgrenzenden und formauflösenden Strömen der impressionistischen Augenblickskunst hingibt, sondern durch ein bemerkenswert konstantes Streben nach Innehalten und Festigkeit charakterisiert ist.

Dasselbe Streben findet sich auch in den Figurenbildern der Ausstellung, die größtenteils dem menschlichen Leben in städtischen Milieus gewidmet sind. Die manifeste Statik in den Figurenbildern fällt besonders dort ins Auge, wo vom Motiv her eine deutlich bewegtere Bildwirkung zu erwarten wäre, etwa in Breitners Die Singelbrücke bei der Paleistraat in Amsterdam (1898), oder noch mehr in Schlittschuhlaufen (1891) von Willem Bastiaan Thoolen (1860–1931).

Der Bogen des Themas wird in der Ausstellung von hier aus weiter gespannt über die Jahrhundertwende hinaus bis zur Auseinandersetzung mit dem Kubismus und der Abstraktion. Demonstriert an herausragenden Werkbeispielen von Jan Sluiters (1881–1957), Jacoba van Heemskerck (1876–1923) und Piet Mondrian (1872–1944). Diese Werke gehören, wie die weiteren im letzten thematischen Block der Ausstellung, allesamt einer Zeit an, in der schon ein völlig anderer Wind wehte. Die revolutionären Bewegungen der Avantgarden Anfang des 20. Jahrhunderts hatten den Impressionismus schon längst hinter sich gelassen hatten und verdrängt — und in den Niederlanden entfalteten diese eine deutlich größere Wirkungsmacht als der Impressionismus je zuvor.

In der Zusammenschau belegen die Werke der Ausstellung, die nach 1880 entstanden sind, also weniger die Existenz eines Impressionismus als Haltung und Stil in den Niederlanden als vielmehr den Umstand, welch durchschlagende Wucht die impressionistische Bewegung als Revolution für das Medium der Malerei als solche hatte: die Befreiung von Farbe und Faktur aus dem Korsett der gegenständlichen Repräsentation, der konsequente Einsatz der malerischen Mittel, fokussiert auf ihren Eigenwert und ihre Wirkungsmacht. Das war die tiefgreifende strukturelle Revolution im Umgang mit den künstlerischen Mitteln, die zur Grundlage wurde aller folgenden avantgardistischen Bewegungen der Malerei in Europa, so auch in den Niederlanden.

Damit lässt sich im Rückblick feststellen, dass die niederländische Malerei der Zeit eher jenseits des Impressionismus, an ihm vorbei, in die Avantgarde eintritt und selbst ein maßgeblicher Teil davon wird — beispielhaft mit dem Symbolismus um 1900, mit der Abstraktion von Heemskerck und Mondrian sowie der Gründung von De Stijl.

Unabhängig von der Frage nach dem titelgebenden „Impressionismus in Holland“ ist es ein großes Verdienst des Museums Barberini und aller beteiligten Partner, mit dieser Ausstellung überhaupt einmal solch einen umfassenden Überblick über die Geschichte der niederländischen Malerei von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1920 zu bieten, und damit aufzuzeigen, was hier vor und neben den legendären Größen von Vincent van Gogh und Piet Mondrian, an hervorragender Malerei entstanden ist.

Sie stellt diese singulären Gestalten damit in ihren kunsthistorischen Kontext, beleuchtet ihre künstlerische Herkunft und Genese im zeitgenössischen Umfeld. Figuren wie Johan Barthold Jongkind (1819—1891), Anton Mauve (1838—1888), oder der erwähnte Breitner, an denen sich viele andere niederländische Künstlerinnen und Künstler orientierten, werden in ihrer jeweiligen Eigenart ein Stück weit fassbar. Und die Zusammenschau der Werke vermittelt einen lebendigen Eindruck von der Qualität und den charakteristischen Besonderheiten der niederländischen Malerei der Epoche.

Dass das Museum Barberini für diese Ausstellung die Frage nach dem Impressionismus in Holland in den Mittelpunkt gestellt hat, und damit auch in den Titel gesetzt, ist mit Blick auf sein Selbstverständnis als ein Museum des Impressionismus vollkommen schlüssig. Und aufgrund seiner Beliebtheit beim Publikum ist der Impressionismus ohne Frage auch als Köder für diese Ausstellung bestens geeignet.

Die Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland im Museum Barberini in Potsdam geht noch bis zum 22.Oktober 2023.

Webseite: https://www.museum-barberini.de/de/ausstellungen/9498/wolken-und-licht-impressionismus-in-holland

Wolken und Licht. Impressionismus in Holland.

Hrsg. v. Ortrud Westheider, Michael Philipp, Daniel Zamanie. Potsdam: Museum Barberini, und München/London/New York: Prestel/Random House, 2023, 312 Seiten
ISBN 978-3-7913-7998-2 (Buchhandelsausgabe

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Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– III –

Links: Otto Dix: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Fritz Steisslinger: Selbstportrait, 1916, Öl/Lwd., 41,2 x 33,7 cm, Nachlass Fritz Steisslinger, Böblingen
Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

Von Künstlern im Krieg

oder vom Sieg des Extremismus über den Humanismus in der Kunst

Otto Dix wurde 1891 in Gera geboren. Er hatte schon früh ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein – legendär sein Spruch: „Entweder ich werde berühmt oder berüchtigt.“ – Ihm ist im Laufe seiner Karriere beides gelungen.

Dix wurde im August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Ersatzreservist eingezogen, war aber erst ab Herbst 1915 an verschiedenen Fronten im Einsatz. Er bewies sich im Kampfgeschehen als überaus robust, erhielt 1915 das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde als Vizefeldwebel aus dem Krieg entlassen.

Für Dix war die Teilnahme am Krieg – wie für Max Beckmann – weniger eine patriotische Pflicht. Er verstand sie, wie er später rückblickend darlegte – vielmehr als Verpflichtung seiner Kunst gegenüber: als Herausforderung, die Welt und das Leben mit all seiner Gewalt und seinen Abgründen als Ganzes zu erleben und zu erfassen, und er versprach sich davon Impulse für die Entwicklung seiner Kunst und seiner Ausdrucksmittel. In einem späten Interview sagte er dazu:

„Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen […] Alles muß ich sehen. Alle Untiefen des Lebens muß ich selbst erleben, deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich überhaupt freiwillig gemeldet.“

Otto Dix, Gespräch mit Freunden am Bodensee, Dezember 1963, zit. n. Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1978, S. 237

Die Erfahrung des Krieges verarbeitet Dix unmittelbar in seinem Werk. Stilistisch dem Expressionismus folgend, präsentiert er sich in seinem Selbstbildnis mit Artilleriehelm als eine zeitgenössische Version des Mannes mit dem Goldhelm von Rembrandt bzw. aus dessen Umkreis. Hier wie dort dominiert ein plastisch dekorierter Helm ein darunter zurücktretendes Gesicht – hier statt des alten Mannes ein Jüngling mit skeptisch fragendem Blick, steif und unsicher in der Haltung.

Die Spannung zwischen der Zurückhaltung im Habitus und der glühenden Farbigkeit mag das Schwanken des Künstlers zwischen seinem selbstgewissem individuellen Erlebenshunger und dem Unwohlsein angesichts der Unterwerfung unter ein ihm fremdes Regiment zum Ausdruck bringen – er ist hier offensichtlich nicht allein, sondern steht in einer Reihe mit anderen Soldaten.

Dieses Selbstbildnis stammt aus der Zeit des Beginns seines Militärdienstes. Einen Eindruck davon, wie es dem Künstler mit dem Krieg ergehen sollte, erhält man, wenn man das Bild umdreht und die Rückseite anschaut:

Links: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, recto
Rechts: Selbstbildnis als Soldat, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, verso

Von blutroten Farbfetzen umschwirrt, den Helm abgeworfen, ohne Haare, den kahlen Schädel mit dem wulstigen Gesicht vorgestreckt, begegnet uns eine ungestüme und rohe Gestalt – des Menschlichen völlig entledigt, ein offenbar in die Enge getriebenes wildes Tier, schwankend zwischen Angst und Aggression – bedrängend selbst die wie ein Brandmal gesetzte riesige Signatur im Nacken des Künstlers. –

Insgesamt ein getreues und daher erschreckendes Abbild der Brutalität und Grausamkeit des Krieges – jenes von Dix benannten „entfesselten Zustands“, der offensichtlich die dünne Haut der Zivilisation vom animalischen Leib des Menschen gezogen hatte.

Mit den Worten von Siegmund Freud, der bis dahin dem Prozess der Zivilisation optimistisch gegenüber stand, damals wählte, um den Eindruck zu beschreiben: Die Menschen seien wohl doch

„nicht so tief gesunken, wie wir fürchteten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir von ihnen glaubten.“

Siegmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915.

Der Zerstörungstrieb, der im Chaos endet, ist überall am Werk. Er ist zugleich ein Signum der Epoche. Diese im eigenen Erleben vollständig zu erfassen, war das Ziel von Dix – und während seiner Kriegsjahre versuchte er unablässig eine bildnerische Sprache dafür zu finden. Etwa 600 Zeichnungen sind aus knapp drei Kriegsjahren überliefert. Darunter eine größere Zahl gemalter Deckfarbenbilder.

Oben links: Otto Dix: Sterbender Krieger, Gouache, 1915 – rechts: Leuchtkugeln, Gouache, 1917
Unten links: Schützengraben, Gouache, 1917 – rechts: Krieger mit Pfeife, Goouache, 1918

Im Überblick lassen sich nur wenige davon als Antikriegs-Bilder erkennen. Es scheint vielmehr so, als gebe sich Dix – ganz im Sinne seines Vorhabens – mit offenen Sinnen dem Erleben als solches hin – ohne Vorbehalt und Vorurteil – aber voller Spannung und Erregung – und diese schlägt sich unmittelbar in all seinen Blättern aus der Zeit nieder.

Die Ereignisse des Krieges ließen Dix auch nach dessen Ende lange nicht los. Im Jahr 1924 veröffentlicht er eine Folge von Radierungen mit dem Titel Der Krieg, in der er seine Erlebnisse noch einmal ausführlich verarbeitet:

Otto Dix: Der Sturmtrupp geht unter Gas vor, aus der Grafikfolge der Krieg, 1924

Die Blätter unterscheiden sich thematisch und formal deutlich von seinen Zeichnungen aus den Kriegsjahren. Für die Zeichnungen wählt er eher allgemeine Titel, wie Soldat, Volltreffer, Handgemenge, und konzentriert sich auf exemplarische Momente des Phänomens Krieg als solchem – er sieht im Besonderen Moment das Allgemein Charakteristische – und dies hilft ihm offensichtlich angesichts des Geschehens innere Distanz zu wahren.

In den Radierblättern hingegen springt einen das Einzelne, das Faktische an – sie sind dem individuellen Grauen im Kriegsgemenge viel näher, hier finden sich zerfetzte Leichen oder wurmzerfressene Kadaver – es scheint, als habe dieses in Dix nachgewirkt und er dafür erst nach längerer Zeit eine Ausdrucksform gewonnen.

Mit der Wahl seiner Motive und Formensprache schafft Dix das zeitgenössische Pendant zu den Radierfolgen mit Schrecken des Krieges von Jacques Callot aus dem Dreißigjährigen Krieg und den einhundert Jahre zuvor geschaffenen Desastres de la Guerra von Francisco Goya – womit über die biographische Stellung des individuellen Werkes hinaus explizit die historische und die kunsthistorische Dimension in die Folge einbezogen wird. Dix weist im Rückblick auf seine entscheidende Erkenntnis hin:

„Goya, Callot, noch früher Urs Graf, von ihnen habe ich mir Blätter in Basel zeigen lassen – das ist großartig… wie sich die Materie Mensch auf dämonische Weise verändert.“

Hans Kinkel: Vierzehn Berichte. Begegnungen mit Malern und Bildhauern, Stuttgart 1967, S. 75

Dix ist einer der wenigen Künstler, die auch noch Jahre später die elenden Folgen des Krieges für die kriegsversehrten Soldaten während der Weimarer Republik, am Anfang der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre drastisch thematisierte.

Links: Otto Dix: Prager Straße, 1920, Öl/Lwd., 101 x 81 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Otto Dix: Der Streichholzhändler, 1920, 141,5 x 166 cm, Staatsgalerie Stuttgart

Mit der Radierfolge Der Krieg und den versehrten Kriegsveteranen wird Dix zu dem Antikriegskünstler, als der er in der Folgezeit wahrgenommen wurde, der er aber in seinen Zeichnungen aus Kriegstagen noch längst nicht war.

Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen…

Interview mit Otto Dix, „Über Kunst, Religion und Krieg“, Dezember 1963

Dix gilt heute als bedeutendster Künstler zum Thema des Ersten Weltkriegs, was sowohl die Menge der Werke als auch ihre Themen und Ausdrucksmittel betrifft. Ein immenses Werk, unmittelbar, drastisch, erschreckend, grausam – ganz so wie der Krieg selbst für die Teilnehmer war.

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Er schuf eine extreme Kunst für ein extremes Zeitalter. In beiden scheiterte die Humanität bzw. sie wurde zur Strecke gebracht. Dass er diesen Umstand so rücksichts- und schonungslos in immer neuen Variationen ausbreitet, sieht Dix selbst als sein besonderes Verdienst und gilt als herausragendes Charakteristikum seiner Kunst und macht daher in der Tat seinen historischen Rang aus.

Eine völlig andere Haltung in diesen Dingen nimmt der im selben Jahr 1891 wie Dix geborene Fritz Steisslinger mit seinem Denken und seinem Werk ein. (Ausführliche Informationen zu Leben und Werk finden sich auf www.fritz-steisslinger.de.)

Steisslinger hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Er kehrte dazu eigens aus Venedig zurück, wo er bis dahin lebte und wirkte. Er diente als Artillerist, Beobachter, Melder und Batterieführer, 1915 an der Ostfront, ab 1916 Westfront und wurde mehrmals schwer verwundet – erfuhr nach anfänglichem Optimismus die Grauen des Krieges, dieser sei:

„schrecklich […], blutig, grausam“, aber: „Am meisten ist er doch erbärmlich. Und darum eben grausig, grausig […] ein einziger Friedhof, scheußliche Katakombe. Eine Wollust des Ekels.“

Fritz Steisslinger ist – soweit bekannt – der einzige Künstler, von dem nachweislich Ölbilder aus den Quartieren und Unterständen vor Ort erhalten sind. Es handelt sich um kleine Ölstudien und Skizzen.

Links: Fritz Steisslinger: Zwei Soldaten am Ausgang eines Unterstands, um 1916/17, Öl/Lwd., 26,5 x 14,5 cm
Mitte: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl /Lwd., 10,3 x 10,4 cm
und: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl/Lwd., 15 x 12 cm
Rechts: Fritz Steisslinger malt im Unterstand umringt von Kameraden, 1916, Fotografie

Über das Malen im Krieg sinniert Steisslinger in seinem Tagebuch am 5. März 1916:

„Den Tag war’s ruhig. Ich habe eine Skizze vom Unterstand gemacht, Bausch und Möbius als dekorierende Kanoniere.“

Fritz Steisslinger: Kriegstagebuch, Nachlassverwaltung Fritz Steisslinger, Böblingen

und zwei Wochen später:

„Heut Früh ein Portrait des Hauptmanns angefangen. Untermalt in einer Stunde“ und kommentiert weiter: „Gemalt, wie das klingt! Wie mitten im Frieden. Ziemlich weit bin ich gekommen und morgen früh komme ich in die Feuerstellung und der Hauptmann.“

Ebenda

Als er einige Tage später fertig ist, schreibt er:

„Portrait fertiggemacht. Danach sind sie drum herumgetanzt. Grossartig – Tadellos!“

Ebenda

In solchen privaten Äußerungen dokumentiert sich der Irrsinn dieses Krieges – aber kaum in Steisslingers Bildern – denn: das Bemerkenswerte an seinen Ölskizzen ist, dass sie keine Kampfhandlungen zeigen und keine dramatischen Ereignisse. Er malt v. a. die Kameraden und ihren Alltag beim Harren im Unterstand. Allenfalls ein „Soldat auf der Lauer“ verweist unmittelbar auf Kriegsereignisse oder einige Skizzen mit Bränden und Zerstörungen in Dörfern als Folgen des Krieges:

Oben v.l.: Fritz Steisslinger: Ruinen, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12 x 9,2 cm – Brandherd zwischen Häusern, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12,5 x 10,6 cm – Zerstörte Häuser im Dorf, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 10,4 x 15,4 cm
Unten: Zwei Soldaten am Unterstand, um 1916, Öl/Lwd./Pappe, 13 x 24,3 cm

Ansonsten gibt es noch eine Tusche-Zeichnung zum Neujahr 1918:

Fritz Steisslinger: Ich wünsche Dir nur im Neuen Jahr, es sei nicht schlimmer als das alte war, 1917, Tusche, 9,5 x 14,4 cm

Das ist alles, ansonsten nichts vom Schrecken und Sterben im Krieg – wie es uns drastisch Dix oder Beckmann vorführen. Diese gibt es auch bei ihm, aber nur in seinem privat gebliebenen Tagebuch! Solche Schilderungen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt – warum, das begründet er in einem Brief an seinen Sohn Hans im Zweiten Weltkrieg, in dem der Vater und seine drei Söhne, von denen er zwei verlieren sollte, dienten:

„… Wir sind zwei Kriegsgenerationen schlechthin.
Wenn ich mir in Erinnerung zurückrufe meine eigenen Bedrängnisse während des letzten Krieges (1914–1918), so kommt es mir vor, als erlebte ich nach Deinem Bericht alles nochmals.

Dabei habe ich auch in diesem Krieg wieder etwas mitgetan und viel Kampf und Elend in jeder Form erlebt. Fast 8 Jahre war ich Front- oder Kriegssoldat. […]
Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten. Ich habe es ein ganzes Leben lang niemals in seiner ganzen Nacktheit von mir gegeben – – – selbst dann nicht, wenn damit ein gewisser Eindruck zu meinen Gunsten hätte erzielt werden können.
Wie in meiner Malerei […] habe ich in jeder Hinsicht und vor allem in der als Mann, möglichst immer das gesagt und getan, was für die von mir geschützte oder gar geliebte Umwelt gerade noch erträglich sein konnte. Was unter dem Strich lag, hat mich nie interessiert.“

Brief an den Sohn Hans, 19. September 1943

Steisslinger war zwar jederzeit kompromisslos in seiner künstlerischen Haltung gewesen, doch den Zynismus der Welt im Bild zu spiegeln, ihn gar zu überzeichnen und übersteigern, wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz es getan haben, und die Abgründe des menschlichen Seins vorzuführen, das war ihm fremd.

Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten.

Fritz Steisslinger

Für Dix ist so etwas eine spießbürgerliche Hemmung, für Steisslinger ein Gebot der Humanität. Ein größerer Gegensatz in den Haltungen lässt sich kaum denken. Die Kunstgeschichtsschreibung ist in ihrem Urteil Dix gefolgt und hat sich bis heute mit ihm auf die Seite der extremen Entblößung extremer Gewalt geschlagen – die Diskretion, wie sie Fritz Steisslinger mit seiner Haltung und seinen Werken verkörpert, steht auf verlorenem Posten. Ein Umstand, über den sich nachzudenken lohnt.

— Fortsetzung folgt —

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Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– II –

Links: Gabriele Münter: Selbstbildnis, 1935
Rechts: Maria Caspar-Filser: Die Malerfamilie, 1939 (Ausschnitt)
Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich

Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

oder vom Glück das richtige Opfer zur rechten Zeit im richtigen Umfeld zu sein sowie vom Schaden offensichtlich bürgerlicher Verhältnisse und der falschen Religion für Künstler der Avantgarde

Zwischen den beiden Weltkriegen war Maria Caspar-Filser (1878–1968) die berühmteste lebende deutsche Malerin. Die in Riedlingen im Landkreis Biberach geborene und seit 1907 in München lebende Maria Caspar-Filser zählte 1913 als einzige Frau zu den Gründungs-Mitgliedern der Münchener Neuen Secession und wurde 1925 als erste deutsche Malerin überhaupt zur Professorin ernannt – damit stand sie neben Käthe Kollwitz, die bisher als einzige Bildhauerin den Titel erhalten hatte. Es folgte die Zeit ihrer höchsten Anerkennung, mit internationalen Ausstellungen, mehreren Beteiligungen an der Biennale in Venedig.

Dann kam der Bruch durch die nationalsozialistische Verfemung, die schon 1928 einsetzte und von der sich ihre Rezeption bis heute nicht befreit hat. Stattdessen wird heute immer, wenn von großen deutschen Malerinnen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, an erster Stelle Gabriele Münter (1877–1962) genannt – wie kam es dazu und ist das berechtigt?

Zwar war Gabriele Münter vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Beteiligung an den Ausstellungen des Blauem Reiters ebenfalls mitten im Geschehen und ihr malerisches Werk der Zeit teilt in der Reduktion gegenständlicher Formen sowie dem Einsatz summarischer Farbflächen wesentliche Aspekte der Kunst dieser avantgardistischen Bewegung, doch sowohl im Hinblick auf die künstlerische Eigenständigkeit als auch im Hinblick auf die Rezeption und die Position im zeitgenössischen Kunstleben nimmt sie keine zu Maria Caspar-Filser vergleichbare Position ein.

Zu den bemerkenswerten Besonderheiten von Caspar-Filsers Werk gehören ihre Schilderungen von Szenen aus dem Krieg schon kurz nach dessen Ausbruch.

Links: Maria Caspar-Filser: Abfahrt der Freiwilligen, 1914
Rechts: Maria Caspar-Filser: Marsch durch ein brennendes Dorf, 1914

Maria Caspar-Filser beteiligte sich — einmal mehr als einzige Frau — an der Gestaltung von Mappenwerken zum Ersten Weltkrieg, deren Verkauf der Behandlung von verwundeten Soldaten und Kriegsversehrten zugute kommen sollten. Sie sind zum einen aufgrund ihrer weiblichen Autorschaft von besonderem Interesse, zum anderen aber allein wegen ihrer Motivwahl und künstlerischen Ausführung. Caspar-Filser stellt hier anonyme Menschenmassen in eine sie dominierende Umwelt – in Motiv und Gestaltung wirken diese Darstellungen aktuell und modern.

Von besonderer Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft ist das Gemälde:

Maria Caspar-Filser: Das Schlachtfeld, 1914, Öl/Lwd., 34 x 48 cm

In Duktus und Dramatik erinnert es an Ludwig Meidners Apokalyptische Visionen von 1913. Mit seiner expressiven Steigerung des Geschehens ist es ein herausragendes Bild einer Künstlerin der Zeit. Nach dem Schlachten bleibt die geschundene und getötete Kreatur in der Natur zurück. Dieses Gemälde steht in gewisser Weise in ihrem Werk wie auch in ihrem künstlerischen Umfeld absolut singulär da. Es fängt die Unmittelbarkeit der Ereignisse ein – ohne dass sie selbst vor Ort war und das Kriegserlebnis geteilt hätte.

In den hier von Caspar-Filser gezeigten Werken manifestiert sich jener Dreischritt der Kriegserfahrung, der die dramatische Entwicklung der öffentlichen Stimmung charakterisiert:
1. Umjubelter Aufbruch
2. Konfrontation mit der unerwarteten Realität
3. Desillusionierung und Schrecken

Bei Münter findet sich praktisch nichts zum Thema, allenfalls können solche Darstellungen wie die hier eingefügte Klage als Reflex dieses dramatischen und epochalen Ereignisses gesehen werden.

Gabriele Münter: Klage, 1915, Öl/Lwd., 69,4 x 48,7 cm, Privatbesitz

Vergleicht man die Landschaftsgemälde der folgenden Jahrzehnte lässt sich die malerische Überlegenheit und tiefgehendere Reife in der Gestaltung Caspar-Filsers allenthalben erkennen.

Das gilt für die Zwanziger Jahre ebenso…

Links: Maria Caspar-Filser: Sestriere, 1925 / Rechts: Gabriele Münter: Blauer See, 1925

…wie in den Jahren der Unterdrückung:

Links: Maria Caspar-Filser: Septembermond, 1935
Rechts: Gabriele Münter: Olympiastraße, 1936

…oder die Nachkriegszeit, in der sich beide nicht mehr wesentlich verändern. Für die Stillleben beider ließen sich die Vergleiche fortsetzen. Wer nicht mit dem Vorurteil, dass Naivität und Kindlichkeit grundlegende Qualitäten avantgardistischer Malerei die Werke betrachtet, wird klar erkennen, wer hier die bessere Malerin ist.

Warum aber nun hat Caspar-Filser nach dem Krieg nicht mehr die gleiche Würdigung erfahren wie Münter und die anderen Expressionisten? Dazu lassen sich mindestens folgende Gründe anführen:

Erstens wegen ihrer ästhetischen Individualität, die sich keiner Richtung oder Gruppentendenz einordnen lässt.

Mit den historischen Bewegungen des Expressionismus in Deutschland hat ihre Malerei nur wenig gemein. Sie teilt weder den absoluten diesseitigen Subjektivismus des nördlichen Expressionismus, insbesondere der Brücke-Maler, noch die transzendental-esoterische Vergeistigung einiger Expressionisten des Blauen Reiters wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc. Bei ihr findet sich weder etwas vom Pathos des Menschlichen der einen, noch vom Pathos des Geistigen der anderen.

Ihre Kunst ist überhaupt vollkommen frei von jedem Pathos (worin sie sich von der ihres Mannes unterscheidet). Alles ist verankert im sinnlichen Erlebnis der sichtbaren, gegebenen und als solcher wahrgenommenen Gegenstandswelt. Ideologie sowie jegliche Parteinahme ästhetischer oder kunstpolitischer Art sind ihr vollkommen fremd.

Damit ist der zweite der Faktoren berührt, die der Rezeption des Werkes von Caspar-Filser nach dem Zweiten Weltkrieg in der Breite entgegenstanden, wie sie anderen Vertretern ihrer Generation zuteil wurde. Denn nach dem Krieg wurden zunächst und mit besonderer Vehemenz die programmatisch enger definierten Gruppierungen und Tendenzen der Moderne und Avantgarde sowie die einzelnen Künstler, die diesen angehörten, rehabilitiert und gewürdigt. Das waren die Künstlervereinigung Brücke, die Künstler aus dem Kreis des Blauen Reiters oder die Vertreter des Bauhauses.

Künstler, die solchen Gruppierungen angehörten, erfuhren allein aufgrund dieser Zugehörigkeit höhere Aufmerksamkeit und Würdigung als Künstler derselben Generation, die keiner dieser Gruppierungen angehörten. Für die Münchner Kunstgeschichte scheint dieses Rezeptionsverhalten besonders ausgeprägt, da sich sowohl im universitären wie auch im Museumsbetrieb eine extreme Fokussierung auf das Wirken Kandinskys und des Blauen Reiters als quasi eigentlicher und einziger legitimer Vertretung einer progressiven Münchner Moderne durchgesetzt hat, obwohl sich gerade hier allerlei unterschiedliche Künstlergruppen und -vereinigungen gründeten, die sich auch in einer lebendigen und durchauskomplexen Auseinandersetzung miteinander befanden.

Drittens ist im Zusammenhang mit den Avantgarde-Bewegungen richtig festzustellen: Maria Caspar-Filser war auf den ersten Blick sicher keine Revolutionärin der Malerei. Ihr Werk entwickelte sich vielmehr in organischer Weise, was von zeitgenössischen Kritikern seit ihren Anfängen immer wieder betont wurde.

Doch ist dies im Rückblick allerdings ein Moment, das ihrer Rezeption als bedeutender Künstlerin des 20. Jahrhunderts schadet, da der kunsthistorische Blick weitgehend auf das unmittelbar offensichtliche bzw. behauptete Neue und Revolutionäre, auf die Risse und Brüche in den Werken der Künstler oder auf die Konflikte und Kämpfe der Künstler und Kunstrichtungen mit dem etablierten Kunstbetrieb, mit der Geschichte, der Politik und ihren Institutionen gerichtet ist. Davon lässt sich tatsächlich so wenig bei Caspar-Filser finden, dass sie durch das Raster dieses Blickes hindurchfällt.

Viertens widersetzt sich auch ihre Werkgestalt den noch heute gültigen ästhetischen Ideologien der wesentlichen Avantgardegruppen. Dazu sei zuerst im Vergleich mit den Künstlern des Expressionismus – hier geschehen mit Gabriele Münter – auf ihren Umgang mit Farbe verwiesen:

Exemplarisch für das gängige kunsthistorische Verständnis ist die Feststellung im Vorwort zur großen Retrospektive des Werks von Gabriele Münter 1992 in München, in dem es heißt: „…die Intensität des Blicks, die Fähigkeit zur Vereinfachung des real Gesehenen, die Arbeit allein aus Umrisslinien und flächenhafter Farbe bildeten entscheidende Elemente [ihres] Neubeginns.“

Ersteres ist eine Unterstellung, die besser zu Caspar-Filser passen würde, der Rest der Aussage gilt für einen Großteil der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, denn Vereinfachung, Umriss, flächenhafte Farbe – diese Eigenschaften finden sich in der Tat bei den Expressionisten der Brücke, des Blauen Reiters, im Bauhaus und bei de Stijl. Zu ergänzen wäre nur, dass flächenhafte Farbe zumeist auch die Tendenz zur reinen Farbe meint, zur Bevorzugung der Primär- und Sekundärfarben in der Theorie und ihrer systematischen Anwendung in der Praxis.

Allen genannten Tendenzen widersetzt sich die Malerei Caspar-Filsers. Genauer: Sie strebt kontradiktorisch in die entgegengesetzte Richtung: Zwar mag sie im Einzelnen auch Gegenstände vereinfachen, doch es ist gerade die Komplexität ihrer sinnlich-realen Erscheinung, der sich die Malerei Caspar-Filsers zuwendet.

Dazu gehört auch, dass sie den Umriss vermeidet. Er vereinheitlicht die Erscheinung der unterschiedlichsten Gegenstände formal und weist ihnen eindeutige Begrenzungen zu. Dieses Vorgehen ist Caspar-Filser vollkommen fremd. Nicht allein, dass solche Konturen einer beobachtenden Weltwahrnehmung und aus ihr entspringenden Darstellung widersprechen, sie unterwerfen die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und überbordenden Fülle einem ihr fremden Regulativ und berauben sie so ihrer Freiheit. Gleiches gilt für die Anwendung farbiger Flächen und die Theorie reiner Farben.

Mit den Farbtheorien der Avantgarde – insbesondere Kandinskys und Ittens – setzt sich eine Hierarchisierung der Farben durch, in der gemischte Farben, Nuancierungen, Schattierungen, Brechungen usw. gegenüber den reinen Farben abgewertet werden. Für Caspar-Filser existieren solche Hierarchien nicht. Sie setzt auf den Reichtum des gesamten Spektrums farbiger Gestaltung, inklusive aller gebrochenen und schmutzigen Farben.

Fünftens fehlte ihr nicht nur die richtige Künstlergruppe, sie hatte auch den falschen Partner und führte mit ihm ein für die künstlerische Reputation offensichtlich ungeeignetes Leben: Sie war mit Karl Caspar, den sie seit ihrer Kindheit kannte und zur Malerei brachte, früh verheiratet und blieb es das gemeinsame Leben lang – und sie führten ein geregeltes Leben, das bürgerlichen Vorstellungen entsprach. Ganz schlecht im Hinblick auf die Bildung attraktivitässteigernder künstlerischer Legendenbildung…

– dagegen Münter: optimal! Sie kommt mit ihrem Kunstlehrer Kandinsky zusammen, lebt mit ihm in wilder Ehe ein richtiges Künstlerleben à la Bohème, wird dann schnöde von ihm verlassen und kommt über den Verlust lange nicht hinweg. In ihrem Leid widmet sie sich ihrem Werk für das sie einige Anerkennung erhält. Am Ende zeigt sie sich großzügig und stiftet ihre und seine Werke dem städtischen Museum Lenbachhaus, das so mit einem Schlag zum Zentrum der Kunst des Blauen Reiters wird – und darauf folgt

sechstens: dass mit ihrer Stiftung an das Lenbachhaus seit den fünfziger Jahren für dieses ein vitales Interesse an ihrem Werk bestand, dessen Bedeutung es in der Folgezeit mit Ausstellungen und Publikationen massiv propagierte. So ist denn zu beobachten, dass ihr Name ungefähr ab den Neunziger Jahren in die großen Überblickskunstgeschichten Einzug hält. Ihr heutiger Ruf verdankt sich vor allem diesem Umstand.

Auf der anderen Seite lässt sich resümieren, dass der künstlerische Rang und die kunsthistorische Rezeption Caspar-Filsers in keinem Verhältnis zu ihrem derzeitigen Bekanntheitsgrad unter deutschen Kunsthistorikern und der kunstinteressierten Öffentlichkeit stehen. Seit dem Krieg ist die Kenntnis ihrer Werke auf den süddeutschen Raum beschränkt geblieben.

Hier, insbesondere in den heimischen Regionen Oberschwabens und der schwäbischen Alb, erfährt sie kontinuierliche Würdigung – aber nun als schwäbische, als eine für die Region bedeutende Künstlerin. Dass sie dies ist, steht außer Frage. Doch es bleibt die Frage, ob ihr künstlerischer und kunsthistorischer Rang darauf beschränkt bleiben darf und kann.

Die Antwort auf diese Frage kann in Anbetracht ihrer bedeutenden Rolle in der deutschen Malerei vor der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer spezifischen malerischen und ästhetischen Qualitäten nur eine sein, nämlich ein klares und vernehmliches: Nein.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 3: Von Künstlern im Krieg

Bildnachweise:
© VG Bild Kunst, Bonn, und Archiv Haus Caspar-Filser, Brannenburg für die Werke von Maria Caspar-Filser, 2023
© VG Bild Kunst, Bonn, und Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, 2023

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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument

Carl Schuch Stillleben
Carl Schuch: Stillleben mit Porree, Zwiebeln und Käse, um 1885/86
Öl auf Leinwand, 64,7 x 81,2 cm, Sammlung Andreas Gerritzen

Neuer Beitrag zu Werken des Malers in einer Privatsammlung

In diesen Tagen ist im Verlag der Kunsthandlung J. P. Schneider in Frankfurt die Dokumentation einer privaten Kunstsammlung erschienen.

Unter dem Titel Leben mit Kunst – die Sammlung Andreas Gerritzen präsentiert der aufwändig gestaltete Band vollständig den Bestand der Kunstwerke und Naturalia, die der Sammler Andreas Gerritzen in den letzten 25 Jahren zusammengetragen hat. Schwerpunkte der Sammlung bilden Landschaftsmalerei und Stillleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu gehören Werke der Maler der Worpsweder Künstlerkolonie, insbesondere von Otto Modersohn, sowie der Freilichtmalerei in Frankreich, Deutschland und Italien seit der Schule von Barbizon.

Carl Schuch nimmt in der Sammlung einen besonderen Stellenwert ein. Gerritzen konnte bis jetzt neun Gemälde in seiner Sammlung vereinen, darunter fünf Landschaften, drei Stillleben und ein Interieur.

Mein Beitrag „Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument“, abgedruckt auf den Seiten 194–217, behandelt diese Gemälde ausführlich im Kontext des Gesamtwerks von Carl Schuch, das in der Malerei weit mehr sieht als ein Mittel zur Wiedergabe des Gesehenen, zur Darstellung der Welt oder der von ihr empfangenen Sinnenreize und Empfindungen. Schuch geht es um eine nahezu systematische Erkundung der Möglichkeiten der Neuschöpfung und Gestaltung der Welt als Malerei, generiert allein aus den ihr eigenen Mitteln.

Dazu seien hier beispielhaft ein eine Selbstäußerung von Carl Schuch und ein Abschnitt aus dem Beitrag zitiert:

Ich lebe jetzt nur noch in Vorbereitung für Landschaft, studiere und probiere meine neue Palette, die die farbigste ist, die denkbar. Aber um solches Roß zu reiten, muß man festsitzen und es kennen. Ich werde heuer viele kleine Farbenskizzen malen und meine Palette anwenden lernen. Die Landschaft hat den großen Vorteil, daß uns das peinliche Ausführen, das beim Stilleben so wichtig ist, nicht hindert, besonders bei großen Bildern, die halb vollendet aussehen.

Das einzig Auszuführende ist mir in der Landschaft die Farbe […].

Meine guten paar Arbeiten sind auch wie zufällig entstanden und ich habe erst später begriffen warum. Wenn meine großen Stilleben, die noch weit zum Fertigsein haben – nie fertig würden, ich wäre ihnen doch sehr verpflichtet. Ich habe durch sie viel gelernt. Hoffentlich mit den neuen Aufgaben, die die Natur mir nach einjähriger Enthaltsamkeit stellt, finde ich neue Resultate oder wenigstens löse ich die alten oft versuchten Aufgaben. Das Interieur von Birken zum Beispiel, die Eichen ohne sie schwarz zu malen, graue Luft ohne kalkig und farblos nüchtern zu werden, Sonnenschein ohne Buntheit und grelle Dissonanzen usw. Ich sehne mich nach solchen farbigen Rechenexempeln und denke immer an Landschaft.

Brief vom 30. März 1880, zit. nach Karl Hagemeister: Karl Schuch. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 104–106.

Stillleben als Experimentierfeld

In den Wintermonaten der Pariser Jahre 1882 bis 1894 weilte Schuch in der Stadt und setzte sein malerisches Forschen fort – in der theoretischen Reflexion wie in der Praxis. Er notierte und analysierte Farbsysteme und die Zusammensetzungen der Paletten von alten Meistern wie Tizian (um 1488/90–1576) und Rembrandt bis zu den bereits genannten älteren und jüngeren Zeitgenossen. Ihm ging es um die Erweiterung seiner Kenntnis der malerischen Mittel. Denkend und malend studierte er unablässig die Anwendung der Farbe im Bild, stets in Verbindung mit dem Licht und dem Aspekt der bildnerischen Komposition, in der sie zur Geltung kommen sollte. In Notizheften hielt er seine Überlegungen dazu fest.

Wie in Venedig führte Schuch seine malerischen Experimente in Paris im Stillleben weiter. Die Ambitionen im Hinblick auf das große Format und die gegenständliche Fülle, die ihn in Venedig angetrieben hatten, gab Schuch hier auf zugunsten schlichterer Kompositionen. Er arbeitete nun mit motivischen Reihen zum Erkunden des malerischen Potenzials einer gewählten Konstellation an Objekten im Raum und ihrer Erscheinung in Farbe und Licht. In seinen Notizheften vermerkte er akribisch die jeweils verwendeten Pigmente und die Farbzusammenstellungen auf der Palette. Diese systematisch verändernd untersuchte er in Kompositionen mit denselben Motiven die Wirkungen der Farbgebung, der Töne und des Lichts im Sinne eines malerischen Erkenntnisstrebens. Mit den Augen und dem Pinsel in der Hand forschend und experimentierend praktizierte Schuch Malerei als Erkenntnisinstrument.

Cover Buch Leben mit Kunst. Die Sammlung Andreas Gerritzen
Verlag J. P. Schneider Frankfurt am Main
Leben mit Kunst –
die Sammlung
Andreas Gerritzen

Gebundene Luxusausgabe, 440 Seiten mit über 200 Farbabbildungen und einem detaillierten Werkverzeichnis. Frankfurt am Main: Verlag J. P. Schneider 2023. – Preis € 120,-

Einblicke ins Buch gibt es auf der Seite des Verlags.

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Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– I –

Die aktuelle TOP 20 Global Artists der Website Artfacts – zur vollständigen Liste der TOP 100 geht es hier: https://artfacts.net/lists/global_top_100_artists

Über Werden und Wandlung künstlerischer Reputation

Zu den spannendsten Fragen im Hinblick auf die Etablierung, Durchsetzung, Wahrnehmung, Deutung und Würdigung großer Kunst gehört die Frage, wie sich künstlerischer Ruf etabliert, festigt und behauptet oder wieder vergeht.

Also: Beruht die Größe, die von Kunstkritik und Kunstgeschichte Künstlern und Künstlerinnen zugeschrieben oder vorenthalten wird, grundsätzlich mehr auf wohlbegründeten Kriterien als auf unbewussten Reflexen? Oder dreht gar mitunter Fortuna am Rad der Reputation?

Die Methode, mit der ich dieser Frage nachgehe, besteht im Folgenden größtenteils in der Gegenüberstellung exemplarischer Karrieren von Künstlern bzw. Künstlergruppierungen, die Auswahl dieser wiederum hat sich aus meiner eigenen Museums- und Forschungstätigkeit in den zehn Jahren meiner Tätigkeit als Leiter des Kunstmuseums Hohenkarpfen ergeben – einem Regionalmuseum, das sich der Aufarbeitung der südwestdeutschen Kunst widmet.

Die meisten der dort von mir ausgestellten Künstler habe ich vor meiner Arbeit dort nicht gekannt und sie werden sowohl von den Verantwortlichen in den Staatlichen Museen (Staatsgalerie Stuttgart, Kunsthalle Karlsruhe) als auch von den Kollegen in den Städtischen Museen und Landkreisen selbst zumeist nur als regionale Größen gesehen – selbst dann, wenn diese Künstlerinnen und Künstler einst national und international als bedeutend anerkannt waren.

In vielen Fällen sind diese Urteile sicher nachvollziehbar, doch mir stellten sich mit der Zeit immer mehr Fragen zu den Begründungen und Argumenten dieser Urteile, um so mehr, als mir auch die Begründungen und Urteile für die Hochschätzung anderer, heute angesehener Künstler zunehmend fragwürdig – im wörtlichen Sinne – erscheint.

Sie scheinen mir oft – wie häufig noch die Beurteilungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts vor ca. 40 Jahren – weniger historisch im Sinne einer Geschichtsschreibung, die versucht zu verstehen, was in einer Zeit virulent ist, was Geltung, Bedeutung oder Wirkung gehabt hat, als vielmehr ideologisch, und zwar in dem Sinne, dass sie sich im Widerstreit der zeitgenössischen Auseinandersetzungen auf eine Seite schlägt und deren Argumente zu scheinbar objektiven Maßstäben der Kunstgeschichte macht.

Darüber hinaus werden die Ursachen für diese Parteinahme oft nicht im ausreichenden Maß reflektiert, so wird vollkommen verkannt, wie sehr in vielen Fällen die Rezeption von historischen Umständen, die auch vollkommen anders hätten sein können, bestimmt wird.

Um diesen Gedankengang anschaulich zu machen, beginne ich mit einem Fall, der in den letzten Jahren für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat und stelle diesen in einen größeren Zusammenhang.

Expressionismus und das Dritte Reich – oder vom Glück des Unglücks

„Der Führer ist groß u. edel in seinen Bestrebungen u. ein genialer Tatenmensch.“ — „Den Nationalsozialismus verehre ich als die besondere und jüngste Staatsform, die Arbeit ist zur Ehre erhoben. Und ich habe den Glauben, dass unser großer deutscher Führer Adolf Hitler nur für das Recht und Wohl des deutschen Volkes lebt und wirkt und auch, dass er in ernsten Sachen von Grund auf die Wahrheit wissen will, [… ich bin] stets und immer im In- und Ausland für die große deutsche nationalsozialistische Sache mit vollster Ueberzeugung eingetreten. Ich habe den Eindruck, dass meine um 1910 geführten Kulturkämpfe gegen die herrschende Ueberfremdung in allem Künstlerischen und gegen die alles beherrschende jüdische Macht, jetzt nur noch wenigen bekannt sein möge.“[1]

Adolf Ziegler: Die vier Elemente, vor 1937, Öl/Leinwand, 180 × 300 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne
Emil Nolde: Masken Stillleben III, 1911,
Öl/Leinwand, 74 x 78 cm, The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Missouri.

Nun die Frage: Von welchem der beiden Künstler, deren Werke hier zu sehen sind, stammen diese Sätze? Zur Klärung dieser Frage zitiere ich weiter:

„Es wird gesagt, dass meine Kunst von Juden gefördert und gekauft worden ist. Auch das ist falsch. Einzelne versprengte Bilder sind in den späteren Jahren durch den Kunsthandel zu Juden gekommen, im Allgemeinen jedoch bekämpfen sie mich. Die Reinheit und das ursprüngliche Deutsche in meiner Kunst haben sie bespöttelt und nie gewollt. Meine wesentlichen Bilder sind alle in deutschem Besitz, von Deutschen gekauft, die durchaus nicht fremdländisch angekränkelt, sondern bewusst Deutsche sind.“ [2]

Emil Nolde trat schon 1934 der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig bei, die ein Jahr später mit anderen NS-Organisationen der Region die NSDAP Nordschleswig mitbegründeten. Er blieb bis zum Ende des Krieges in der Partei und berief sich immer wieder auf seine Mitgliedschaft. Aus den Jahren 1933 bis 1945 gibt es zahlreiche Dokumente, die belegen, dass Nolde und seine Frau sich für die Ideologie und Politik der Nationalsozialisten begeisterten und die „Machtergreifung“ begrüßten. Nolde hatte lange gehofft, dass die Nationalsozialisten den Expressionismus zur „nordischen“ Staatskunst erklären und dass sie ihn, Nolde, aufs Podest heben würden. Grund dies zu hoffen, hatte er:

In den ersten Jahren des Dritten Reiches gab es heftige Auseinandersetzungen um den Expressionismus als Deutscher Kunst. Es gab ebenso viele und gewichtige Befürworter wie Gegner. Kreise um Goebbels, den späteren Kulturminister Bernhard Rust und Reichsjugendführer Baldur von Schirach versuchten, die Kunstpolitik des Regimes für den Expressionismus zu gewinnen.

Im Dezember 1933 schrieb Joseph Goebbels in einem in der deutschen Tagespresse veröffentlichten Glückwunschtelegramm „namens der deutschen Künstlerschaft“ an den norwegischen Maler Edvard Munch, daß dieser als der „kraftvolle, eigenwillige Geisterbe nordischer Natur“ geschätzt werde und sein Werk „nordischgermanischer Erde entsprossen“ sei.[3]

Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise äußerte im März 1933: „…daß Nolde und Barlach nicht nur die besten und am meisten norddeutsch-bodenständigen, sondern zugleich auch im revolutionären Sturm ihres gefühlsbetonten intellektfremden Schaffens diejenigen Meister sind, die mit geistigen Waffen in der gleichen Richtung längst vorgestoßen sind, in der jetzt auf politischem Gebiet die jungen deutschen Führer ihr Ziel erkennen“.[4]

Die führenden Kader des Nationalsozialistischen Studentenbundes sahen Heckel, Nolde, Rohlfs, Schmidt-Rotluff, Barlach, Kolbe und Lehmbruck als – Zitat: „die Vorläufer der Kunst, die der Nationalsozialismus in ihrem Geist fortsetzen wolle“.

Ende Oktober 1933 wurde die Zeitschrift „Kunst der Nation“ ins Leben gerufen, mit der erklärten Absicht, „avantgardistische Kunst und nationalsozialistische Politik zueinander ins Verhältnis zu setzen, beide gar als Ausdruck des gleichen Strebens in verschiedenen Gebieten zu deuten“. — „In philosophischer Hinsicht bildete Nietzsche, in künstlerischer der Expressionismus, in politischer der Nationalsozialismus den Bezugspunkt ihres Denkens.“[5]

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Doch schließlich kam es anders, weil sich die Fraktion von Hitlers Blut-und-Boden-Ideologe Alfred Rosenberg durchsetzen konnte, vor allem aber das „größte Kunstgenie aller Zeiten“: Hitler persönlich beendete nach den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, bei denen er sich noch liberal geben wollte, die Debatte, indem er den Expressionismus als degeneriert ablehnte. Goebbels ließ daraufhin auch jene Nolde-Werke abhängen, die bis dahin seine Privatwohnung geschmückt hatten.

Und so wars nichts für den Expressionismus und auch Nolde wird, zu seinem Entsetzen, von den Nationalsozialisten nicht erhört. Im Jahr 1937 werden mehr als tausend seiner Werke aus deutschen Museen konfisziert, knapp fünfzig davon in München auf der Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Nolde, der ungeheuer erfolgreich in der Weimarer Republik gewesen war, verkauft trotzdem weiter, gut sogar. Als er 1940 mehr als 52.000 Reichsmark einnimmt, wird er aus der Reichskammer der Bildenden Künste ausgeschlossen – erst möchte man sagen, das ist anderen viel früher geschehen. Die Zurückweisung traf Nolde hart. Erst nach dem Krieg wurde zu seinem Glück, was bis 1945 sein Unglück war.

Und damit kommen wir zum Punkt: Was wäre gewesen, wenn sich die Pro-Expressionismus-Fraktion im Dritten Reich durchgesetzt hätte, wenn sie Hitler überzeugt hätten?

1) Wie hätten sich expressionistische Künstler jüdischen Künstlern gegenüber verhalten – Nolde z.B. hat immerhin versucht seinen Künstlerkollegen Max Pechstein als „Juden“ zu denunzieren.[6] –oder konservativen Abweichlern wie dem heute als „Reichsschamhaarmaler“ apostrophierten Adolf Ziegler gegenüber? Und wie würden wir heute über diese urteilen, wenn sie statt der Expressionisten wegen ihres kaum deutsch zu nennenden klassizistischen Gehabes angegriffen worden wären?

Nolde ist der – der inzwischen bekannteste und berüchtigste (dazu Anmerkung unten) – Extremfall unter den schließlich verfemten Malern, aber auch Ernst Ludwig Kirchner hebt in Schreiben an deutsche Kunstfunktionäre Mitte der dreißiger Jahre das Deutsche an seiner Kunst heraus, und er distanziert sich in dem Moment vom Expressionismus, als klar wird, dass dieser im Regime nicht mehr zu halten sein wird.[7]

2) Wie würden wir heute über den Expressionismus sprechen, wenn er schließlich nicht verfemt, sondern tatsächlich vom Regime als deutsche Staatskunst propagiert worden wäre, wie Nolde es sich wünschte?

Nun, wir wissen, dass das Gegenteil eintrat – und dass der Expressionismus nach dem Krieg nicht nur rehabilitiert wurde, sondern tatsächlich und ausgerechnet als der DEUTSCHE Beitrag zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts aufs Schild gehoben wurde und mit ihm das gute Gefühl auch auf der richtigen Seite zu stehen und für Gerechtigkeit zu sorgen.

Doch wie gerecht gings nach dem Krieg tatsächlich zu? Nicht nur in Verwaltung und Justiz setzten Nazi-Chargen ihre Karrieren fort, auch zahlreiche regimetreue Künstler erfreuten sich nach dem Krieg einer ungebrochenen Laufbahn. Viele aber, die behindert, verfemt und verfolgt worden waren, waren nicht mehr in der Lage, weiterzumachen oder wurden nicht in derselben Weise rehabilitiert wie die heute berühmten Expressionisten der Brücke und des Blauen Reiters – wovon zum Beispiel das Künstlerehepaar Maria Caspar-Filser und Karl Caspar betroffen ist, sie noch weit mehr als er, was im Folgenden gezeigt wird.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter
Hinweis: 
Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich mit einigen Varianten mehrfach zwischen 2011 und 2016 gehalten habe. Für diese Publikation im Blog ist er nur unwesentlich überarbeitet worden, und das obwohl — nein gerade weil — in mehreren Fällen, die hier beispielhaft vorgestellt werden, einige Bewegung in die Bewertung gekommen ist. Gerade darin zeigt sich die Aktualität der hier geäußerten Überlegungen. 
Das betrifft insbesondere Emil Nolde, dessen Gesinnung aufgrund der Ausstellungen und Publikationen seit 2013 nun wirklich allen massiv vor Augen geführt wurde. Sie war zwar auch schon zuvor weitestgehend bekannt und belegt, was aber bis dahin in der öffentlichen Debatte noch nicht genug durchgedrungen war. 
Die Zusammenfassung der neueren Forschungsergebnisse dazu auf der Seite der Nolde-Stiftung, Seebüll: https://www.nolde-stiftung.de/der-kuenstler-im-nationalsozialismus/

Auch in den Fällen der deutschen Malerstars der letzten Jahrzehnte, allen voran Georg Baselitz, Gerhard Richter oder Anselm Kiefer, die von mir zum Ende meiner Überlegungen exemplarisch für die Frage nach künftigen Wandlungen der Reputation herangezogen werden, zeichnen sich im Zuge aktueller gesellschaftlicher Tendenzen Neubewertungen ab. Beispielhaft hierfür diese Ausstellungskritiken: 
Elena Korowin in Monopol: https://www.monopol-magazin.de/richter-kiefer-polke-baselitz-stuttgart
Hanno Rauterberg in der ZEIT: https://www.zeit.de/2019/17/die-jungen-jahre-der-alten-meister-kuenstler-ausstellung 


[1] Emil Nolde, Brief an an den norwegischen Kunsthistoriker Henrik Grevenor in Oslo, November 1933, zit.n. Stefan Koldehoff: „Noldes Bekenntnis“, in ZEIT, 42, 10. Oktober 2013, online: http://www.zeit.de/2013/42/emil-nolde-nationalsozialismus.

[2] Emil Nolde, Brief an Joseph Goebbels, 6.12.1938, zit. n. Koldehoff, wie Anm. 1.

[3] Joseph Goebbels: Glückwunschtelegramm an Edvard Munch zum 70. Geburtstag, zit. n. Christoph Zuschlag: „Entartete Kunst“: Ausstellungsstrategien im Nazi-Deutschland. Worms: Werner 1995 (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N.F., 21), S. 45.

[4] Der Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Schleswig-Holsteinische Graphik“ im Behnhaus, 26.03.1933. Zit. n. Zuschlag wie Anm. 3, S. 45.

[5] Stefan Germer: „Kunst der Nation. Zu einem Versuch, die Avantgarde zu nationalisieren“, in: Bazon Brock und Achim Preiß (Hrsg): Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München: Klinkhardt & Biermann 1990, S. 28.

[6] Bernhard Fulda und Aya Soika: Max Pechstein: The Rise and Fall of Expressionism, Berlin/Boston: De Gruyter, 2013, S. 302.

[7] Amelie von Bülow: „Der Fall Kirchner. Provenienz und Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszene“, in: Uwe Fleckner (Hrsg.): Das verfemte Meisterwerk. Berlin: Akademie-Verlag 2009 (Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“), S, 548–549.