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Carl Schuch – Farbenforscher

Links: Gustave Courbet: L’homme à la pipe, um 1849, Montpellier, Musée Fabre
Rechts: Wilhelm Leibl: Der Maler Carl Schuch, 1876, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek

Schuch und Courbet

– I –
Kontrast und Gegensatz

Gustave Courbet, 1819 in Ornans in der Franche-Comté geboren und 1877 in La Tour de Peilz am Genfer See gestorben, hat sich mit seiner Malerei und seinem öffentlichen Wirken schon zu Lebzeiten einen Platz als Jahrhundertgestalt der Kunstgeschichte erworben. Courbets mit großem Selbstbewusstsein propagierte und in bedeutenden Gemälden verwirklichte Vorstellung einer zeitgemäßen realistischen Malerei erregte weit über Frankreich hinaus enorme Aufmerksamkeit und faszinierte eine ganze Generation von Künstlern.

Besonders in deutschen Künstlerkreisen, etwa um die Frankfurter Maler Otto Scholderer und Viktor Müller oder um Wilhelm Leibl in München, stieß Courbet mit seiner Kunst und seiner Persönlichkeit auf starke Resonanz. An diesen Orten wurden nicht nur seine Werke ausgestellt, hier hielt er sich auch mehrmals für längere Zeit auf, so 1858–59 in Frankfurt und 1869 in München, wo er vor den bewundernden Augen seiner deutschen Malerkollegen in situ seine Malkunst demonstrierte.

Carl Schuch wurde erst posthum bekannt. Von Jugend an finanziell unabhängig und nicht auf Ausstellungen angewiesen, schuf er sein imposantes malerisches Werk praktisch im Verborgenen. Schuch, ein Österreicher deutscher Herkunft, 1846 in Wien geboren und dort auch 1903 gestorben, war vom Lebensweg und Selbstverständnis her ganz Europäer. Häufig wechselte er seinen Wohnsitz, zog von Wien nach Mün chen, Rom, Venedig, Brüssel und Paris wieder nach Wien.

Für einige Zeit gesellte er sich zum Künstlerkreis um Leibl in München. Schuch war ein sehr gewissenhafter Künstler, der stets über die Grundlagen seiner Kunst reflektierte und sich um die Erweiterung seiner malerischen Möglichkeiten bemühte. In den Jahren 1882 bis 1894 lebte er in Paris, wo er im Dialog mit der französischen Malerei, von Camille Corot über Edouard Manet, Claude Monet bis zu Paul Cézanne, eine aus dem malerischen Duktus lebende autonome Bildsprache und eigenständige künstlerische Position erlangte.

Eine herausragende Rolle spielte seine intensive und kritische Auseinandersetzung mit Courbet – dessen Werke er in Ausstellungen studierte und in seinen Tagebüchern und Briefen kommentierte.
Dabei äußert er einerseits Anerkennung:

Courbet „hatte einen unvergleichlichen Vorzug – er war er selbst, stand auf eigenen Füßen, sah mit eigenen Augen, brach alle Konvention, und viel entschiedener als jeder andere auf eine natürlichere Auffassung hin.“

Brief an Karl Hagemeister, Januar 1883, zit. n. Karl Hagemeister: Karl Schuch,
sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 130–131

Andererseits distanziert er sich kritisch:

„Seine unzweifelhafte Begabung hat jedenfalls viel gelitten durch seine Kampfattitüde. Er hat mit dem Pinsel oft mehr gekämpft als gemalt.“

Brief an Karl Hagemeister, 9. April 1882, zit. n. Hagemeister 1913, S. 126

Zudem begab Schuch sich von 1886 bis 1893 jeden Sommer in Courbets Heimatregion, wo er die Juralandschaften um den Saut du Doubs an der Schweizer Grenze zum zentralen Motiv seiner Landschaftsmalerei machte.

Carl Schuch: Sägewerk am Saut du Doubs IV, 1888, Öl auf Leinwand, 61,5 × 83,5 cm
LENTOS Kunstmuseum Linz

Ein größerer Gegensatz in der persönlichen Haltung eines Künstlers zur Öffentlichkeit und als Konsequenz in der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung als der zwischen Gustave Courbet und Carl Schuch ist kaum zu denken. Der eine etabliert sich mit den Anfängen seiner herausragenden künstlerischen Karriere als öffentliche Person, ja sogar als Institution, der andere widmet sich seiner Kunst nahezu vollständig ohne das Streben nach Resonanz. Während Courbet mit allen Mitteln die Öffentlichkeit suchte und nach Aufmerksamkeit strebte,  bewegte sich Schuch im Schatten seines Werkes, das er ebenfalls kaum dem Licht der Öffentlichkeit aussetzte.

Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern, die aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten auf die Aufmerksamkeit durch regelmäßige Ausstellungen angewiesen waren, konnte Schuch sich den Luxus leisten, darauf zu verzichten, seine Werke zu zeigen, solange er ihre Ausstellung nicht für notwendig erachtete oder allein aufgrund künstlerischer Bedenken ausschloss. Allerdings tat er dies auch um den Preis der Nichtbeachtung im Kanon der von der Öffentlichkeit und Kunstgeschichte anerkannten bedeutenden zeitgenössischen Künstler.

Courbet wurde als öffentliche Gestalt zu Lebzeiten zum Thema des Boulevards und gehört als Künstler bis heute zu den Zentralgestirnen der Moderne, Schuch ist einer breiteren Öffentlichkeit ziemlich unbekannt geblieben und fast ausschließlich als bedeutender Maler des Leibl-Kreises gewürdigt worden. Im Ganzen blieb die Kenntnis Schuchs und sein hohes Ansehen in diesem Zusammenhang über das Feld der Kunsthistoriker hinaus auf Kenner, Liebhaber und Sammler beschränkt.

Die heutige – weit darüber hinausgehende – kunsthistorische Würdigung des Werkes von Carl Schuch begann mit der ersten großen Schuch-Retrospektive überhaupt, die in der Kunsthalle Mannheim und im Lenbachhaus in München gezeigt wurde und für die – was in diesem Zusammenhang nicht verwundert – das Wirken eines Sammlers, Franz Armin Morat aus Freiburg, maßgeblich gewesen ist.

Mit dieser Ausstellung und dem begleitenden Katalogbuch begann die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Werkes von Schuch, in deren Zug der Rahmen, in dem es betrachtet wird, bedeutend erweitert worden ist. Seitdem ist die Gestalt Schuchs immer deutlicher greifbar geworden als die eines vollkommen eigenständigen und herausragenden Malers seiner Epoche.1

So unterschiedlich die Charaktere, so unterschiedlich auch die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Werk. Dem lärmenden Auftreten Courbets entsprachen auch viele Themen und Darstellungsweisen in seinen Gemälden, in denen es Courbet erklärtermaßen nicht allein um künstlerische Belange ging.

Ihm ging es um mehr: persönliche Interessen, wie die Beförderung seiner Karriere durch Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit, gesellschaftliche Belange, wie soziale Fragen oder Kritik am politischen System.

Courbet ging es ums Ganze, und er ging – besonders anfangs – oft auch aufs Ganze. Schuch dagegen ging es, wie sowohl aus seinen Werken selbst wie aus seinen Äußerungen und Aufzeichnungen zu ersehen ist, immer mehr nur um eines: die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten seiner Malerei mittels einer ausgeklügelten Ausdifferenzierung der Farbigkeit und des Farbauftrags.

Daraus folgend unterscheidet sich seine Position im kunsthistorischen Gefüge ebenso wie der ästhetische Status seiner Malerei markant gegenüber Courbet. Hier der berserkernde, bahnbrechende Neuerer, dort der subtile Verfeinerer.

Mit Courbet trat ein neuer Künstlertypus in Erscheinung. Er war der Erste, der die Erkenntnis, dass über Anerkennung und Erfolg als Künstler in großem Maß Faktoren entscheiden, die den Kunstwerken vollkommen äußerlich sein können, konsequent in die Konzeption seines Werkes einbezog und darüber hinaus dessen Wahrnehmung über seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu befördern und zu lenken versuchte.

Er war damit der Erste, der ein Bewusstsein für eine, mit den Worten Walter Benjamins, „marktgerechte Originalität“2 gewann; ein Bewusstsein, das sich bei ihm unaufhörlich mitteilte. Er folgte nach nach eigenem Bekunden dem Motto seines Großvaters:

„Crie fort et marche droit – Schrei laut und schreite voran.“

Brief an Francis Wey, wohl 20. April 1861, zit. n. Correspondance de Courbet, hg. v. Petra ten-Doesschate Chu, Paris 1996, Nr. 61–6, S. 174.

Dieses Motto lag tatsächlich seinem gesamten Handeln zugrunde, und in beidem zeigt sich, dass Courbet die Situation des Künstlers richtig eingeschätzt und einen Weg eingeschlagen hatte, der nicht nur für ihn erfolgversprechend gewesen ist, sondern auch allgemein den Künstlern neue Perspektiven eröffnete:

„Der Jahrmarkt verlangt den Marktschreier. Courbet erkennt, dass auch der Künstler zum Schlagwort greifen, seine Kunst als einmaligen bahn-brechenden Markenartikel ausgeben muss. […] In dem Maße, in dem dieser Maler die Provokation und die Eigenwerbung zu Bestandteilen seiner künstlerischen Aussage machte, war er der Bahnbrecher eines neuen Rollenverhaltens.“

Werner Hofmann: „Courbets Wirklichkeiten“ in ders. Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie, Frankfurt 1989, S. 213– 214.

Ein Prozess, der sich aufgrund der erhaltenen umfangreichen Korrespondenz Courbets und wegen der zahlreichen zeitgenössischen Zeugnisse, die sich seiner mit aller Kraft angestrebten und erreichten öffentlichen Präsenz verdanken, bis ins Detail nachvollziehen lässt. Wie kein Künstler vor und neben ihm hat Gustave Courbet die mit der Etablierung des modernen Bürgertums gewonnene Autorität des Künstlers in der Gesellschaft thematisiert und eingefordert.53

In der für ihn typischen auftrumpfenden Art berichtet er seinem Mäzen Alfred Bruyas von der öffentlichen Demonstration seiner Autorität während einer Soirée beim Comte de Nieuwekerke, dem Intendanten der Schönen Künste, wo er sein Selbstverständnis und sein Verhältnis zur Regierung erläuterte,

„dass auch ich eine Regierung bin. […] Ich fuhr fort, indem ich ihm erklärte, dass ich der einzige Richter meiner Malerei wäre; dass ich nicht nur ein Maler bin, sondern auch noch ein Mensch; dass ich mich der Malerei nicht nur um der Kunst willen widmete, sondern um meine intellektuelle Freiheit zu gewinnen … “

Brief an Alfred Bruyas, wohl Oktober 1853, zit. n. Chu 1996, Nr. 53–6, S. 108

Courbet formuliert genau diese Autorität nicht nur verbal, er demonstriert sie auch öffentlich in seiner Malerei – insbesondere in seinem programmatischen Hauptwerk, dem Atelier. Der vollständige Titel dieses Gemäldes lautet Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst.

Gustave Courbet: Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst, 1854/55, Öl auf Leinwand, 361 cm × 598 cm, Paris, Musée d’Orsay

Es war völlig neu, dass ein Künstler seine Person und sein Leben in einem derart aufwendigen, großformatigen, anscheinend symbolgeladenen Gemälde selbst zum Thema macht, damit das Künstlerportrait in den Rang eines Historienbildes erhebt, und die entsprechende Anerkennung und Billigung dieses Vorgehens mit der Einsendung zum Salon einforderte.

Courbets Gemälde steht im Kontext der wachsenden Zahl der Atelierdarstellungen im Salon und in den illustrierten Zeitschriften in dieser Zeit. Doch zeigt sich gerade im Vergleich zu ihnen seine alles überragende Stellung. Eine solche grandios – allein aufgrund der Größe und der Anzahl der Personen – angelegte Selbstdarstellung eines Künstlers schien bis dahin unvorstellbar. Courbet, war sich der Bedeutung dieses Aktes und der Neuheit seines Bildes bewusst:

„Das wird das überraschendste Gemälde, dass man sich vorstellen kann. Darin sind 30 Personen in Lebensgröße. Es ist die moralische und sinnliche Geschichte meines Ateliers. Das sind alles Leute, die mir dienen und die meine Sache unterstützen.“

Brief an Alfred Bruyas, November– Dezember 1854, zit. n. Chu 1996, Nr. 54–7,
S. 119.

Die ostentative Art der Selbstausstellung und die persuasive Instrumentalisierung des Selbstbildnisses beschränkte sich nicht nur auf die gemalten Selbstbildnisse, er wandte sie weiterhin an in den Fotografien, die er von sich anfertigen ließ und setzte sie in seinem öffentlichen Auftreten fort, hier ebenfalls mit immenser Lautstärke dieselbe Anerkennung und Autorität einfordernd wie im Atelier.

Courbets Selbstverständnis und Selbstbewusstsein drücken sich auch in dem selbstgewählten, angeblich von ihm nur angenommenen Prädikat Maître-peintre aus. Neben dem Aspekt der Anknüpfung an die alten Meister und ihrer Überbietung in Handwerk und geistiger Stärke, enthält der Titel auch die Behauptung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit des Künstlers.

Die deutschen Künstler, so sehr ihnen Courbet sowohl mit seiner Malerei als auch seinem selbstbewussten Auftreten imponierte, zeigten in dieser Hinsicht eine geradezu gegensätzliche Haltung. Courbets Bestreben, Kritik und Publikum, die gesamte Öffentlichkeit quasi über die Wucht der Präsenz seiner Werke, je nach Stellung zu ihm, zu überwältigen, zu erobern, zu überzeugen, zu begeistern etc. findet keinerlei Resonanz bei den jüngeren Malern jenseits des Rheins.

Auch die aktiv forcierte Ausstellungspolitik seitens Courbets – die ähnlich auch von einigen anderen zeitgenössischen französischen Künstlern betrieben wurde – fand hier keine Nachfolge. Schon in den fünfziger Jahren in Frankfurt nicht, auch nach 1869 nicht in München. Im Unterschied zu Courbet tendierten hier

„Leibl und seine Freunde, im Menschlichen wie im Künstlerischen, zum Exklusiven und Elitären. Der Kontakt mit der menschlichen Umwelt war ebenso gering wie derjenige mit Künstlerkreisen außerhalb des eigenen. Zuerst und zuletzt handelte es sich für sie als die ‚echten‘ Künstler darum, mit ihrer Leistung den eigenen Ansprüchen genüge zu tun.“

Eberhard Ruhmer: Der Leibl-Kreis und die Reine Malerei, Rosenheim 1984, S. 9.

Ganz in diesem Sinn vermerkt Schuch:

„… ich bin gegen Unverstand etwas empfindlich […] Stellte ich aus so machte ich nur denen Freude die mir so sehr Freunde sind daß sie mich absichtlich gering zu schätzen suchen denn was der Colorist leistet oder von welchem Streben wenigstens sein Werk Zeugnis ablegt das versteht der Laie nicht…“9

Carl Schuch: Notizbucheintrag zit. n. Carl Schuch. Ein Europäischer
Maler, Katalog zur Ausstellung im Belvedere, Wien, hg. v. Agnes Husslein-Argo und Stephan Koja, Wien 2012, S. 180.

Diese Künstler sahen sich strikt in Opposition zu jeder Form der Einbeziehung kunstfremder Belange in ihre Bemühungen und in Opposition zu Öffentlichkeit und Publikum generell. Daher war es für sie undenkbar, in ihrem Rollenverhalten darauf einzugehen. Sie beteiligten sich zwar nach Möglichkeit an Ausstellungen, sahen diese aber weitgehend als ein notwendiges Übel an.

Diese Künstler sahen sich auch nicht in der Rolle, die unverständigen Kritiker und das Publikum mit ihrer Kunst einzunehmen. Besonders Leibl und neben ihm Schuch schlugen den entgegengesetzten Weg ein, weil sie nicht an deren Zugänglichkeit für Ihre Kunst glaubten, und zogen sich deshalb vom Ausstellungsbetrieb zurück.

Wie im Fall Courbets äußert sich auch darin ein neues Verhältnis zwischen Künstler und Welt, aber auch zwischen dem Künstler und seinem Werk. Mithin tritt auch hier ein neuer Künstlertypus auf, einer der sein Augenmerk ausschließlich auf das aus der Wahrnehmung gewonnene und für diese wiederum gestaltete rein Bildnerische richtet, für die Malerei gesprochen das „Rein Malerische,“ und dies mit einer bis dahin ungekannten Unbedingtheit, bei einigen – wie bei Schuch – zudem verbunden mit einem tiefgreifenden, auf das Verständnis der Wahrnehmung der sichtbaren Welt als solcher ausgerichteten Erkenntnisinteresse.

Gerade die Begegnung und die Auseinandersetzung mit dem Wirken und dem Werk von Gustave Courbet stellt sich in der Sache als fruchtbar heraus, da ihm darin, je nach Aspekt und Perspektive, mal die Position des Protagonisten in eigener Sache zugewiesen werden kann, mal die des Antagonisten, gegen den es sich zu behaupten gilt, und in diesem Kontrast das eigene Kunstverständnis umso deutlicher hervortritt.

  1. Die Ausstellung der Museen in Mannheim und München wurde gemeinsam organisiert mit dem Freiburger Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, in dem inzwischen die größte Sammlung an Gemälden Schuchs bewahrt wird. Zur Rezeption Schuchs vgl. grundlegend den Katalog dieser Ausstellung, AK Mannheim/ München 1986. ↩︎
  2. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. I, S. 420 (J 58,4): „Baudelaire hat vielleicht als erster die Vorstellung von einer marktgerechten Originalität gehabt, die eben darum damals origineller war als jede andere. Die création seines poncifs führt ihn zu Verfahrensweisen wie sie in der Konkurrenz üblich sind.“ Dieser Satz lässt sich für den Bereich der Kunst umstandslos auf Courbet übertragen. ↩︎
  3. Vgl. zum folgenden ausführlich Stefan Borchardt: Heldendarsteller. Die Legende vom Modernen Künstler, Berlin 2007. ↩︎
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Den Atem anhalten

Nicolas Poussin: Die Pest von Ashdod, um 1630, Öl auf Leinwand, 148 x 198 cm, Detail, Musée du Louvre, Paris

Den Atem anhalten – was zunächst sachlich verstanden, nichts anderes bedeutet, als die physische Atemtätigkeit für einige Sekunden einzustellen, wird als etablierte Redewendung meist im übertragenen Sinne verwendet: als Aufforderung an eine andere Person, sich nicht derart über etwas erregen. Gerne auch alternativ formuliert mit den Worten: „Halt’ die Luft an!“

Seit dem letzten Frühjahr hat diese Wendung unvermutet eine weitere Bedeutung erhalten: Um die Ausbreitung von Covid-19, zu vermeiden, der Krankheit, die von einem neuen Corona-Virus ausgelöst wird, werden Menschen dazu verpflichtet, Mund und Nase mit Masken zu bedecken. Damit soll der freie Fluss der Atemluft blockiert werden, im wörtlichen Sinn, der Atem angehalten werden. Masken für den Atemschutz gibt es schon länger. Bisher dienten sie durchgehend dazu, den Menschen beim Einatmen zu schützen. Jetzt wird die Barriere insbesondere gegen die ausgeatmete Luft aufgerichtet.

Die ausgestoßene Atemluft in dieser Weise anzuhalten, ist ein für die Gemeinschaft vitaler sozialer Akt. Gleichzeitig aber hat diese Maßnahme erhebliche Auswirkungen auf unser Sozialleben und die Kommunikation – vor allem die nonverbale, die aufgrund der Masken massiv behindert wird.

Auf einer anderen Ebene vollzieht sich damit zugleich eine menschheitsgeschichtlich gravierende Umkehrung in unserem Verhältnis zum Atem. Bisher galt: Atem spendet und erhält Leben, das macht ihn aus. Was atmet lebt und es lebt nur solange es atmet. Die verbreitete Sorge, dass der Atem Krankheiten übertrage, ist von der modernen Medizin der Welt des Aberglaubens zugeschlagen worden. Nun aber bestätigt sie sich. Denn die Atemluft gilt als größter Risikofaktor für die Übertragung der neuen Krankheit. Der lebensspendende und lebenserhaltende Odem kann tatsächlich krank machen, er mutiert zur Todesgefahr.

Atemluft-Schutzhüllen für das Spielen der Querflöte vom US-amerikanischen Hersteller McCormick, vorgestellt in der Zeitschrift Sonic. Sax and Brass, 6, 2020, S. 12

Damit wird der Atem selbst als Thema höchst akut.

Es ist immer wieder erstaunlich, in welcher Weise manchmal Ideen und Themen, die einem über längere Zeiträume so interessant, bedenkenswert und wichtig erscheinen, dass man Material dazu sammelt und Projekte darüber konzipiert, mit der Zeit wachsende Aufmerksamkeit gewinnen oder plötzlich unvermutete und bedrängende Aktualität bekommen. Die künstlerische Beschäftigung mit dem Atem ist für mich seit langem eines dieser Themen – eines, für das ich dementsprechend die Realisierung als Ausstellungs- und Publikationsprojekt ins Auge gefasst habe und weiter verfolge.

Was den Atem – neben seinen existenziellen und daher auch symbolischen Bedeutungen wie seinem funktionellen Gebrauch, etwa in der Musik (Blasinstrumente) – für die Bildende Kunst besonders interessant macht, ist der Umstand, dass er üblicherweise unsichtbar ist. Allein schon ihn sichtbar zu machen, ist also eine künstlerische Herausforderung. Das gilt insbesondere für das statische Bild in Zeichnung und Malerei.

Im Zeitbild der Film- und Videokünste gilt zwar dieselbe Herausforderung für den Atem als solchen. Doch unmittelbar veranschaulichen lässt sich der Akt des Atmens, in dem das unablässige und mal mehr, mal weniger stetige Einholen und Herauslassen der Luft den atmenden Organismus bewegt. Im Tonfilm (wie in den akustischen Künsten) kommt die Aufnahme der Atemlaute hinzu.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), um 1570/72, Öl auf Leinwand, 60,5 x 50,5 cm, Museo e Real Bosco di Capodimonte, Collezione Farnese, Neapel,
Foto: Lucio Romano

Das Museo di Capodimonte in Neapel beherbergt ein kleines Gemälde, in dem es offensichtlich genau darum geht: Den unsichtbaren Atem anschaulich zu machen und zugleich sein lebensspendendes Wesen mit den Mitteln der Malerei vor Augen zu führen. Es stammt von El Greco (1541–1614) und zeigt einen Jungen, der in der einen Hand einen glühenden Holzscheit hält und in der anderen eine Kerze. Er ist dabei diese anzuzünden, indem er Kerzendocht und Glut aneinanderhält und gleichzeitig seine Atemluft darauf bläst.

Sowohl motivisch als auch kompositorisch handelt es sich um ein Bild von höchster Konzentration und Genauigkeit. Der Blick des Jungen ist auf den glühenden Holzscheit gerichtet. Seine Pupillen sind unter den gesenkten Lidern bei genauem Hinsehen erkennbar. In dieselbe Richtung zielt er mit dem Strom des Atems, den er durch die schmale Öffnung seiner Lippen schickt. Um der Luft genug Tempo und Druck mitzugeben, hat er die Lippenmuskeln angespannt und zugespitzt, so dass sie sich zu einem roten Rund formen.

Die konzentrierte Spannung, mit der er dies tut, drückt sich auch in der Kontraktion der Nasenflügel und den leicht angehobenen Augenbrauen aus. Sie zielt darauf, das rechte Maß zu finden, damit die Glut ausreichend angefacht, das entstehende Feuer aber nicht gleich wieder ausgeblasen wird. All diese Details, in denen unmittelbar spürbar wird, wie der Junge seinen Atem kontrolliert, sind mit großer Genauigkeit wiedergegeben.

Leicht oberhalb der Bildmitte in die Mittelachse gesetzt, bildet der Mund des Jungen kompositorisch den Mittelpunkt des Bildes. Der Rotton der Lippen korrespondiert mit der Röte der Glut. Dort tritt der Luftstrom hervor, hier trifft er auf sein Ziel. Alles fokussiert sich auf diesen Punkt, in dem der Blick, der Atem, die Spitze vom Docht der Kerze und die brennende Glut des Holscheits in den haltenden Händen zusammentreffen.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), Detail

Hier liegt der Brennpunkt der innerbildlichen Dramaturgie, der Punkt, an dem sich alles weitere entzündet, was dieses Bild ausmacht. An dieser Stelle kulminiert der – mit Lessing gesprochen – fruchtbare Augenblick der Darstellung, in dem sich Weltschöpfung und Verwandlung ereignen.

Unsichtbares wird sichtbar gemacht – neben dem Atem, der hier veranschaulicht wird, gilt dies auch für die dargestellte Szene selbst. Der Atemstrom bringt die glimmende Glut zum Leuchten und so erst das Licht ins Dunkel, in dem sonst nichts zu sehen wäre. Mit dem Licht entsteht die Wärme – anschaulich im reichen Schimmern der warmen Gelb-Orange-Rosa-Rottöne. Es ist keine Frage, dass damit in einem christlichen oder zumindest mit der christlichen Offenbarung vertrauten Umfeld, die Assoziation mit der göttlichen Weltschöpfung evoziert wird: Es werde Licht.

Zugleich findet in der Szene eine Verwandlung des Lichtes statt – vom vorübergehenden Aufflackern der Glut, die nur bei kraftvollem Luftstrom aufscheint, in das dauerhaftere Leuchten der Kerzenflamme, für das ein starker Luftstrom eine Gefahr darstellt, die es zum Erlöschen bringen kann.

Die Verwandlung von etwas Momentanem in etwas Beständiges bildet überhaupt ein zentrales Motiv dieses Werkes. Es ist ein Augenblicksbild, das lauter flüchtigen Elementen – der Kontraktion der Gesichtsmuskeln, dem dadurch bewirkten Atemstrom, der Geste der Hände, der Berührung von Scheit und Docht, dem Lichtschein der Glut, dem fließenden Wachs – Beständigkeit verleiht.

Dies geschieht mit den Mitteln der Malerei.

Im Medium der Malerei werden sie alle transformiert, indem sie – im wörtlichen Sinn – materialisiert werden. Besonders anschaulich gelingt dies dem Maler in der Erfassung des an sich körperlosen Lichts. Je lichter die Stellen im Bild, desto deckender und pastoser der Farbauftrag. Dieser ist für sich selbst ein bemerkenswertes Ereignis in diesem Gemälde. Es ist geradezu verblüffend, mit welch lockerem Pinselstrich all die präzisen Details – wie z. B. die gespitzten Lippen – gemalt sind.

Mit diesem Gemälde demonstriert El Greco die Macht der Malerei (und mithin des Malers, der sie beherrscht und zum Ausdruck bringt), Licht werden zu lassen, Dinge lebendig erscheinen zu lassen sowie dem Augenblick Dauer zu verleihen. Er zeigt, die Malerei kann – in bezwingender Weise – den Atem anhalten.