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Carl Schuch – Farbenforscher

Links: Gustave Courbet: L’homme à la pipe, um 1849, Montpellier, Musée Fabre
Rechts: Wilhelm Leibl: Der Maler Carl Schuch, 1876, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek

Schuch und Courbet

– I –
Kontrast und Gegensatz

Gustave Courbet, 1819 in Ornans in der Franche-Comté geboren und 1877 in La Tour de Peilz am Genfer See gestorben, hat sich mit seiner Malerei und seinem öffentlichen Wirken schon zu Lebzeiten einen Platz als Jahrhundertgestalt der Kunstgeschichte erworben. Courbets mit großem Selbstbewusstsein propagierte und in bedeutenden Gemälden verwirklichte Vorstellung einer zeitgemäßen realistischen Malerei erregte weit über Frankreich hinaus enorme Aufmerksamkeit und faszinierte eine ganze Generation von Künstlern.

Besonders in deutschen Künstlerkreisen, etwa um die Frankfurter Maler Otto Scholderer und Viktor Müller oder um Wilhelm Leibl in München, stieß Courbet mit seiner Kunst und seiner Persönlichkeit auf starke Resonanz. An diesen Orten wurden nicht nur seine Werke ausgestellt, hier hielt er sich auch mehrmals für längere Zeit auf, so 1858–59 in Frankfurt und 1869 in München, wo er vor den bewundernden Augen seiner deutschen Malerkollegen in situ seine Malkunst demonstrierte.

Carl Schuch wurde erst posthum bekannt. Von Jugend an finanziell unabhängig und nicht auf Ausstellungen angewiesen, schuf er sein imposantes malerisches Werk praktisch im Verborgenen. Schuch, ein Österreicher deutscher Herkunft, 1846 in Wien geboren und dort auch 1903 gestorben, war vom Lebensweg und Selbstverständnis her ganz Europäer. Häufig wechselte er seinen Wohnsitz, zog von Wien nach Mün chen, Rom, Venedig, Brüssel und Paris wieder nach Wien.

Für einige Zeit gesellte er sich zum Künstlerkreis um Leibl in München. Schuch war ein sehr gewissenhafter Künstler, der stets über die Grundlagen seiner Kunst reflektierte und sich um die Erweiterung seiner malerischen Möglichkeiten bemühte. In den Jahren 1882 bis 1894 lebte er in Paris, wo er im Dialog mit der französischen Malerei, von Camille Corot über Edouard Manet, Claude Monet bis zu Paul Cézanne, eine aus dem malerischen Duktus lebende autonome Bildsprache und eigenständige künstlerische Position erlangte.

Eine herausragende Rolle spielte seine intensive und kritische Auseinandersetzung mit Courbet – dessen Werke er in Ausstellungen studierte und in seinen Tagebüchern und Briefen kommentierte.
Dabei äußert er einerseits Anerkennung:

Courbet „hatte einen unvergleichlichen Vorzug – er war er selbst, stand auf eigenen Füßen, sah mit eigenen Augen, brach alle Konvention, und viel entschiedener als jeder andere auf eine natürlichere Auffassung hin.“

Brief an Karl Hagemeister, Januar 1883, zit. n. Karl Hagemeister: Karl Schuch,
sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 130–131

Andererseits distanziert er sich kritisch:

„Seine unzweifelhafte Begabung hat jedenfalls viel gelitten durch seine Kampfattitüde. Er hat mit dem Pinsel oft mehr gekämpft als gemalt.“

Brief an Karl Hagemeister, 9. April 1882, zit. n. Hagemeister 1913, S. 126

Zudem begab Schuch sich von 1886 bis 1893 jeden Sommer in Courbets Heimatregion, wo er die Juralandschaften um den Saut du Doubs an der Schweizer Grenze zum zentralen Motiv seiner Landschaftsmalerei machte.

Carl Schuch: Sägewerk am Saut du Doubs IV, 1888, Öl auf Leinwand, 61,5 × 83,5 cm
LENTOS Kunstmuseum Linz

Ein größerer Gegensatz in der persönlichen Haltung eines Künstlers zur Öffentlichkeit und als Konsequenz in der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung als der zwischen Gustave Courbet und Carl Schuch ist kaum zu denken. Der eine etabliert sich mit den Anfängen seiner herausragenden künstlerischen Karriere als öffentliche Person, ja sogar als Institution, der andere widmet sich seiner Kunst nahezu vollständig ohne das Streben nach Resonanz. Während Courbet mit allen Mitteln die Öffentlichkeit suchte und nach Aufmerksamkeit strebte,  bewegte sich Schuch im Schatten seines Werkes, das er ebenfalls kaum dem Licht der Öffentlichkeit aussetzte.

Im Unterschied zu vielen anderen Künstlern, die aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten auf die Aufmerksamkeit durch regelmäßige Ausstellungen angewiesen waren, konnte Schuch sich den Luxus leisten, darauf zu verzichten, seine Werke zu zeigen, solange er ihre Ausstellung nicht für notwendig erachtete oder allein aufgrund künstlerischer Bedenken ausschloss. Allerdings tat er dies auch um den Preis der Nichtbeachtung im Kanon der von der Öffentlichkeit und Kunstgeschichte anerkannten bedeutenden zeitgenössischen Künstler.

Courbet wurde als öffentliche Gestalt zu Lebzeiten zum Thema des Boulevards und gehört als Künstler bis heute zu den Zentralgestirnen der Moderne, Schuch ist einer breiteren Öffentlichkeit ziemlich unbekannt geblieben und fast ausschließlich als bedeutender Maler des Leibl-Kreises gewürdigt worden. Im Ganzen blieb die Kenntnis Schuchs und sein hohes Ansehen in diesem Zusammenhang über das Feld der Kunsthistoriker hinaus auf Kenner, Liebhaber und Sammler beschränkt.

Die heutige – weit darüber hinausgehende – kunsthistorische Würdigung des Werkes von Carl Schuch begann mit der ersten großen Schuch-Retrospektive überhaupt, die in der Kunsthalle Mannheim und im Lenbachhaus in München gezeigt wurde und für die – was in diesem Zusammenhang nicht verwundert – das Wirken eines Sammlers, Franz Armin Morat aus Freiburg, maßgeblich gewesen ist.

Mit dieser Ausstellung und dem begleitenden Katalogbuch begann die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Werkes von Schuch, in deren Zug der Rahmen, in dem es betrachtet wird, bedeutend erweitert worden ist. Seitdem ist die Gestalt Schuchs immer deutlicher greifbar geworden als die eines vollkommen eigenständigen und herausragenden Malers seiner Epoche.1

So unterschiedlich die Charaktere, so unterschiedlich auch die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Werk. Dem lärmenden Auftreten Courbets entsprachen auch viele Themen und Darstellungsweisen in seinen Gemälden, in denen es Courbet erklärtermaßen nicht allein um künstlerische Belange ging.

Ihm ging es um mehr: persönliche Interessen, wie die Beförderung seiner Karriere durch Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit, gesellschaftliche Belange, wie soziale Fragen oder Kritik am politischen System.

Courbet ging es ums Ganze, und er ging – besonders anfangs – oft auch aufs Ganze. Schuch dagegen ging es, wie sowohl aus seinen Werken selbst wie aus seinen Äußerungen und Aufzeichnungen zu ersehen ist, immer mehr nur um eines: die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten seiner Malerei mittels einer ausgeklügelten Ausdifferenzierung der Farbigkeit und des Farbauftrags.

Daraus folgend unterscheidet sich seine Position im kunsthistorischen Gefüge ebenso wie der ästhetische Status seiner Malerei markant gegenüber Courbet. Hier der berserkernde, bahnbrechende Neuerer, dort der subtile Verfeinerer.

Mit Courbet trat ein neuer Künstlertypus in Erscheinung. Er war der Erste, der die Erkenntnis, dass über Anerkennung und Erfolg als Künstler in großem Maß Faktoren entscheiden, die den Kunstwerken vollkommen äußerlich sein können, konsequent in die Konzeption seines Werkes einbezog und darüber hinaus dessen Wahrnehmung über seine Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu befördern und zu lenken versuchte.

Er war damit der Erste, der ein Bewusstsein für eine, mit den Worten Walter Benjamins, „marktgerechte Originalität“2 gewann; ein Bewusstsein, das sich bei ihm unaufhörlich mitteilte. Er folgte nach nach eigenem Bekunden dem Motto seines Großvaters:

„Crie fort et marche droit – Schrei laut und schreite voran.“

Brief an Francis Wey, wohl 20. April 1861, zit. n. Correspondance de Courbet, hg. v. Petra ten-Doesschate Chu, Paris 1996, Nr. 61–6, S. 174.

Dieses Motto lag tatsächlich seinem gesamten Handeln zugrunde, und in beidem zeigt sich, dass Courbet die Situation des Künstlers richtig eingeschätzt und einen Weg eingeschlagen hatte, der nicht nur für ihn erfolgversprechend gewesen ist, sondern auch allgemein den Künstlern neue Perspektiven eröffnete:

„Der Jahrmarkt verlangt den Marktschreier. Courbet erkennt, dass auch der Künstler zum Schlagwort greifen, seine Kunst als einmaligen bahn-brechenden Markenartikel ausgeben muss. […] In dem Maße, in dem dieser Maler die Provokation und die Eigenwerbung zu Bestandteilen seiner künstlerischen Aussage machte, war er der Bahnbrecher eines neuen Rollenverhaltens.“

Werner Hofmann: „Courbets Wirklichkeiten“ in ders. Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie, Frankfurt 1989, S. 213– 214.

Ein Prozess, der sich aufgrund der erhaltenen umfangreichen Korrespondenz Courbets und wegen der zahlreichen zeitgenössischen Zeugnisse, die sich seiner mit aller Kraft angestrebten und erreichten öffentlichen Präsenz verdanken, bis ins Detail nachvollziehen lässt. Wie kein Künstler vor und neben ihm hat Gustave Courbet die mit der Etablierung des modernen Bürgertums gewonnene Autorität des Künstlers in der Gesellschaft thematisiert und eingefordert.53

In der für ihn typischen auftrumpfenden Art berichtet er seinem Mäzen Alfred Bruyas von der öffentlichen Demonstration seiner Autorität während einer Soirée beim Comte de Nieuwekerke, dem Intendanten der Schönen Künste, wo er sein Selbstverständnis und sein Verhältnis zur Regierung erläuterte,

„dass auch ich eine Regierung bin. […] Ich fuhr fort, indem ich ihm erklärte, dass ich der einzige Richter meiner Malerei wäre; dass ich nicht nur ein Maler bin, sondern auch noch ein Mensch; dass ich mich der Malerei nicht nur um der Kunst willen widmete, sondern um meine intellektuelle Freiheit zu gewinnen … “

Brief an Alfred Bruyas, wohl Oktober 1853, zit. n. Chu 1996, Nr. 53–6, S. 108

Courbet formuliert genau diese Autorität nicht nur verbal, er demonstriert sie auch öffentlich in seiner Malerei – insbesondere in seinem programmatischen Hauptwerk, dem Atelier. Der vollständige Titel dieses Gemäldes lautet Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst.

Gustave Courbet: Das Atelier des Malers, eine reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen Lebens umfasst, 1854/55, Öl auf Leinwand, 361 cm × 598 cm, Paris, Musée d’Orsay

Es war völlig neu, dass ein Künstler seine Person und sein Leben in einem derart aufwendigen, großformatigen, anscheinend symbolgeladenen Gemälde selbst zum Thema macht, damit das Künstlerportrait in den Rang eines Historienbildes erhebt, und die entsprechende Anerkennung und Billigung dieses Vorgehens mit der Einsendung zum Salon einforderte.

Courbets Gemälde steht im Kontext der wachsenden Zahl der Atelierdarstellungen im Salon und in den illustrierten Zeitschriften in dieser Zeit. Doch zeigt sich gerade im Vergleich zu ihnen seine alles überragende Stellung. Eine solche grandios – allein aufgrund der Größe und der Anzahl der Personen – angelegte Selbstdarstellung eines Künstlers schien bis dahin unvorstellbar. Courbet, war sich der Bedeutung dieses Aktes und der Neuheit seines Bildes bewusst:

„Das wird das überraschendste Gemälde, dass man sich vorstellen kann. Darin sind 30 Personen in Lebensgröße. Es ist die moralische und sinnliche Geschichte meines Ateliers. Das sind alles Leute, die mir dienen und die meine Sache unterstützen.“

Brief an Alfred Bruyas, November– Dezember 1854, zit. n. Chu 1996, Nr. 54–7,
S. 119.

Die ostentative Art der Selbstausstellung und die persuasive Instrumentalisierung des Selbstbildnisses beschränkte sich nicht nur auf die gemalten Selbstbildnisse, er wandte sie weiterhin an in den Fotografien, die er von sich anfertigen ließ und setzte sie in seinem öffentlichen Auftreten fort, hier ebenfalls mit immenser Lautstärke dieselbe Anerkennung und Autorität einfordernd wie im Atelier.

Courbets Selbstverständnis und Selbstbewusstsein drücken sich auch in dem selbstgewählten, angeblich von ihm nur angenommenen Prädikat Maître-peintre aus. Neben dem Aspekt der Anknüpfung an die alten Meister und ihrer Überbietung in Handwerk und geistiger Stärke, enthält der Titel auch die Behauptung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit des Künstlers.

Die deutschen Künstler, so sehr ihnen Courbet sowohl mit seiner Malerei als auch seinem selbstbewussten Auftreten imponierte, zeigten in dieser Hinsicht eine geradezu gegensätzliche Haltung. Courbets Bestreben, Kritik und Publikum, die gesamte Öffentlichkeit quasi über die Wucht der Präsenz seiner Werke, je nach Stellung zu ihm, zu überwältigen, zu erobern, zu überzeugen, zu begeistern etc. findet keinerlei Resonanz bei den jüngeren Malern jenseits des Rheins.

Auch die aktiv forcierte Ausstellungspolitik seitens Courbets – die ähnlich auch von einigen anderen zeitgenössischen französischen Künstlern betrieben wurde – fand hier keine Nachfolge. Schon in den fünfziger Jahren in Frankfurt nicht, auch nach 1869 nicht in München. Im Unterschied zu Courbet tendierten hier

„Leibl und seine Freunde, im Menschlichen wie im Künstlerischen, zum Exklusiven und Elitären. Der Kontakt mit der menschlichen Umwelt war ebenso gering wie derjenige mit Künstlerkreisen außerhalb des eigenen. Zuerst und zuletzt handelte es sich für sie als die ‚echten‘ Künstler darum, mit ihrer Leistung den eigenen Ansprüchen genüge zu tun.“

Eberhard Ruhmer: Der Leibl-Kreis und die Reine Malerei, Rosenheim 1984, S. 9.

Ganz in diesem Sinn vermerkt Schuch:

„… ich bin gegen Unverstand etwas empfindlich […] Stellte ich aus so machte ich nur denen Freude die mir so sehr Freunde sind daß sie mich absichtlich gering zu schätzen suchen denn was der Colorist leistet oder von welchem Streben wenigstens sein Werk Zeugnis ablegt das versteht der Laie nicht…“9

Carl Schuch: Notizbucheintrag zit. n. Carl Schuch. Ein Europäischer
Maler, Katalog zur Ausstellung im Belvedere, Wien, hg. v. Agnes Husslein-Argo und Stephan Koja, Wien 2012, S. 180.

Diese Künstler sahen sich strikt in Opposition zu jeder Form der Einbeziehung kunstfremder Belange in ihre Bemühungen und in Opposition zu Öffentlichkeit und Publikum generell. Daher war es für sie undenkbar, in ihrem Rollenverhalten darauf einzugehen. Sie beteiligten sich zwar nach Möglichkeit an Ausstellungen, sahen diese aber weitgehend als ein notwendiges Übel an.

Diese Künstler sahen sich auch nicht in der Rolle, die unverständigen Kritiker und das Publikum mit ihrer Kunst einzunehmen. Besonders Leibl und neben ihm Schuch schlugen den entgegengesetzten Weg ein, weil sie nicht an deren Zugänglichkeit für Ihre Kunst glaubten, und zogen sich deshalb vom Ausstellungsbetrieb zurück.

Wie im Fall Courbets äußert sich auch darin ein neues Verhältnis zwischen Künstler und Welt, aber auch zwischen dem Künstler und seinem Werk. Mithin tritt auch hier ein neuer Künstlertypus auf, einer der sein Augenmerk ausschließlich auf das aus der Wahrnehmung gewonnene und für diese wiederum gestaltete rein Bildnerische richtet, für die Malerei gesprochen das „Rein Malerische,“ und dies mit einer bis dahin ungekannten Unbedingtheit, bei einigen – wie bei Schuch – zudem verbunden mit einem tiefgreifenden, auf das Verständnis der Wahrnehmung der sichtbaren Welt als solcher ausgerichteten Erkenntnisinteresse.

Gerade die Begegnung und die Auseinandersetzung mit dem Wirken und dem Werk von Gustave Courbet stellt sich in der Sache als fruchtbar heraus, da ihm darin, je nach Aspekt und Perspektive, mal die Position des Protagonisten in eigener Sache zugewiesen werden kann, mal die des Antagonisten, gegen den es sich zu behaupten gilt, und in diesem Kontrast das eigene Kunstverständnis umso deutlicher hervortritt.

  1. Die Ausstellung der Museen in Mannheim und München wurde gemeinsam organisiert mit dem Freiburger Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, in dem inzwischen die größte Sammlung an Gemälden Schuchs bewahrt wird. Zur Rezeption Schuchs vgl. grundlegend den Katalog dieser Ausstellung, AK Mannheim/ München 1986. ↩︎
  2. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. I, S. 420 (J 58,4): „Baudelaire hat vielleicht als erster die Vorstellung von einer marktgerechten Originalität gehabt, die eben darum damals origineller war als jede andere. Die création seines poncifs führt ihn zu Verfahrensweisen wie sie in der Konkurrenz üblich sind.“ Dieser Satz lässt sich für den Bereich der Kunst umstandslos auf Courbet übertragen. ↩︎
  3. Vgl. zum folgenden ausführlich Stefan Borchardt: Heldendarsteller. Die Legende vom Modernen Künstler, Berlin 2007. ↩︎
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Ausstellung Kunstgeschichte

Gibt es einen Impressionismus in Holland?

Ferdinand Hart Nibbrig: In den Dünen von Zandvoort, 1891/92, Singer Laren, Schenkung P. J. Hart Nibbrig 1981
© Abb. aus dem Katalog zur Ausstellung

Zur Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland im Museum Barberini in Potsdam

Zwei Frauen sitzen in grasbewachsenen Dünen unweit vom Strand, eine weiß, eine dunkel gekleidet, der ebenfalls weiße Sonnenschirm, diagonal gegen die milde Nachmittagssonne gestellt, hüllt beide in einen lichten Schatten, fern dahinter der silberblaue Himmel. In diesem Gemälde mit dem Titel In den Dünen von Zandvoort (1891/92) von Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915) lassen sich geradezu idealtypisch charakteristische Eigenschaften der impressionistischen Malerei finden, wie sie sich seit den 1870er Jahren von Frankreich aus über ganz Europa verbreitet hat.

Mit der Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland setzt das Museum Barberini seine Erkundungen zur Malerei des Impressionismus in unterschiedlichen Ländern und Gegenden fort.

Für dieses Unterfangen ist eine bemerkenswerte Zusammenstellung von Gemälden zustande gekommen, die über das im Titel angesprochene Thema hinaus Anliegen hinaus geeignet ist, einen spannenden Überblick zur niederländischen Malerei zwischen 1850 und 1920 zu bekommen. Allein dies ist ein grundlegendes Verdienst dieser Ausstellung.

Mindestens so spannend ist die Beantwortung der Frage, ob es einen Impressionismus als einem seinerzeit verbreiteten künstlerischen Anliegen und daraus resultierend als greifbare kunsthistorische Strömung in Holland bzw. den Niederlanden gegeben habe. Was im Titel der Schau zwangsläufig als gegeben behauptet, oder zumindest unterstellt wird, stellt sich bei näherer Betrachtung der Werke und bei der Lektüre des Katalogs keineswegs als eindeutig heraus.

Die Ausstellung zeigt: Ja, es gab Künstler und Künstlerinnen, die impressionistisch gemalt haben, wenn man begrifflich damit bestimmte stilistische und ästhetische Eigenschaften der Malerei bezeichnet, die sich in Frankreich seit dem Beginn der 1870er Jahre ausgebildet haben. Hier wäre allen voran etwa Jacob Maris (1837–1899), Evert Pieters (1856–1932), Isaac Israels (1865–1934), Ferdinand Hart Nibbrig (1866–1915) oder etwas später die Malerin Mies Elout-Drabbe (1875–1956) zu nennen, deren Malerei den ursprünglichen impressionistischen Prinzipien, wie sie insbesondere von Claude Monet, Camille Pissarro, Berthe Morisot oder Alfred Sisley etabliert wurden, zeitweise am nächsten kommt.

Hart Nibbrigs Gemälde In den Dünen von Zandvoort steht dafür exemplarisch und ist daher sicher auch als Plakatbild der Ausstellung und Titelmotiv des Katalogs ausgewählt worden.

Im Katalog, dessen Beiträge ich für diese Ausstellungsbesprechung noch nicht gelesen habe, wird sicher für die Beantwortung der Frage, inwieweit in der niederländischen Malerei der Zeit ein Impressionismus festgestellt werden kann, auch die zeitgenössische Rezeption bei Kunstkritik und Publikum einbezogen.

Doch wie sich auch immer die Existenz eines Impressionismus in den Niederlanden generell darstellt: Die versammelten Werke der Schau demonstrieren vielmehr wie widerständig die niederländische Malerei insgesamt gegen den Impressionismus gewesen ist, wie eigenständig sie angesichts der ganz Europa erfassenden dynamischen Ausbreitung des Impressionismus blieb. Sie ließ sich davon nicht derart fortreißen wie die Malerei in anderen Weltgegenden.

Schwerer wog offensichtlich das Bewusstsein für die eigene Tradition der langen und bedeutenden Geschichte der Niederländischen Schule (um die zeitgenössische Begrifflichkeit aufzunehmen) und deren Auffassung in der malerischen Erfassung von Landschaft und zeitgenössischem Leben.

Zu dieser gehörte immer auch die metaphysische Dimension. Sie spielte im französischen Impressionismus keine Rolle, aber von der altniederländischen Malerei über das Goldene Zeitalter im 17. Jahrhundert bis zum Symbolismus um 1900 und darüber hinaus ist sie für die Kunst in diesem Landstrich wesentlich.

Daher ist auch im historischen Rückblick leicht nachvollziehbar, dass der Pointillismus (so der Begriff, der in der Ausstellung verwendet wird, andere bevorzugen den gleichberechtigten Begriff Divisionismus, so auch ich), zeitlich und stilistisch deutlich unmittelbarer in die zeitgenössische niederländische Malerei eindrang als der eigentliche Impressionismus.

In den Niederlanden ging erst mit diesem post-impressionistischen Verfahren des Farbauftrags die systematische Aufhellung der Palette und die stärkere Leuchtkraft der Farben einher. Zu sehen besonders beim schon genannten Ferdinand Hart-Nibbrig, bei Hendricus Bremmer (1871–1956), Johan Joseph Aarts (1871–1934) oder Jan Toorop (1858–1928).

Die malerischen Ergebnisse stehen — wie schon die divisionistischen Gemälde von Georges Seurat in Frankreich — dem vorausgegangenen Impressionismus diametral entgegen. Nicht Augenblick und Atmosphäre charakterisieren Erscheinung und Wirkung der Bilder, sondern erstarrende Formen und Farbkalkül, ja Farbkalkulation, was sich unter anderem an der einheitlichen Farbgebung unterschiedlicher Motive zeigt. Es handelt sich also um eine Methode, die sich antithetisch zu der von Claude Monet verhält, der dieselben Motive mit den unterschiedlichsten Farben und zunehmender malerischer Freiheit wiederholte. Solche Formauflösung im freien Spiel von Farbe und Faktur, das war der Niederländer Sache offenbar nicht.

In seiner Eröffnungsrede verwies seine Exzellenz, der niederländische Botschafter und Schirmherr der Ausstellung, S. E. Ronald van Roeden, darauf, dass Alltagserfahrung und Landschaftserleben wesentlich von der Allgegenwärtigkeit von „Plassen“ durchdrungen seien. Plassen bezeichnet jedwede Form von Wasseransammlungen, die sich irgendwo ausbreiten — und in den Niederlanden, wie er anmerkte, eben überall. Von Pfützen, über Tümpeln und Teiche bis zu den Seen und dem Meer. Und in all diesen flüssigen Plassen spiegelt sich der weite und hohe Himmel in all seinem steten Wandlungen der Erscheinung, dem flüchtigen Wechsel von Sonne und Wolken, von Klarheit und Dunst. So eignen sich Plassen und Himmel als Schlüssel für das Selbstverständnis der Niederlande und  das Wesen der niederländischen Landschaftskunst.

Jacob Maris: Salatgärten bei Den Haag, um 1878, Kunstmuseum Den Haag
© Abb. aus dem Katalog zur Ausstellung

So faszinierend und erhebend die ästhetische Erfahrung von Plassen und Himmel sein mag, in ihrer realen Präsenz offenbaren sich zugleich jene Kräfte der Natur, die das kleine, flache und tiefgelegene Land zugleich existenziell bedrohen. Ohne handfeste Gegenmaßnahmen gäbe es dieses Land gar nicht mehr.

Vielleicht ist es aus diesem Grund also gerade die Allgegenwart des Flüssigen und Flüchtigen, dass die niederländische Kunst sich nicht den entgrenzenden und formauflösenden Strömen der impressionistischen Augenblickskunst hingibt, sondern durch ein bemerkenswert konstantes Streben nach Innehalten und Festigkeit charakterisiert ist.

Dasselbe Streben findet sich auch in den Figurenbildern der Ausstellung, die größtenteils dem menschlichen Leben in städtischen Milieus gewidmet sind. Die manifeste Statik in den Figurenbildern fällt besonders dort ins Auge, wo vom Motiv her eine deutlich bewegtere Bildwirkung zu erwarten wäre, etwa in Breitners Die Singelbrücke bei der Paleistraat in Amsterdam (1898), oder noch mehr in Schlittschuhlaufen (1891) von Willem Bastiaan Thoolen (1860–1931).

Der Bogen des Themas wird in der Ausstellung von hier aus weiter gespannt über die Jahrhundertwende hinaus bis zur Auseinandersetzung mit dem Kubismus und der Abstraktion. Demonstriert an herausragenden Werkbeispielen von Jan Sluiters (1881–1957), Jacoba van Heemskerck (1876–1923) und Piet Mondrian (1872–1944). Diese Werke gehören, wie die weiteren im letzten thematischen Block der Ausstellung, allesamt einer Zeit an, in der schon ein völlig anderer Wind wehte. Die revolutionären Bewegungen der Avantgarden Anfang des 20. Jahrhunderts hatten den Impressionismus schon längst hinter sich gelassen hatten und verdrängt — und in den Niederlanden entfalteten diese eine deutlich größere Wirkungsmacht als der Impressionismus je zuvor.

In der Zusammenschau belegen die Werke der Ausstellung, die nach 1880 entstanden sind, also weniger die Existenz eines Impressionismus als Haltung und Stil in den Niederlanden als vielmehr den Umstand, welch durchschlagende Wucht die impressionistische Bewegung als Revolution für das Medium der Malerei als solche hatte: die Befreiung von Farbe und Faktur aus dem Korsett der gegenständlichen Repräsentation, der konsequente Einsatz der malerischen Mittel, fokussiert auf ihren Eigenwert und ihre Wirkungsmacht. Das war die tiefgreifende strukturelle Revolution im Umgang mit den künstlerischen Mitteln, die zur Grundlage wurde aller folgenden avantgardistischen Bewegungen der Malerei in Europa, so auch in den Niederlanden.

Damit lässt sich im Rückblick feststellen, dass die niederländische Malerei der Zeit eher jenseits des Impressionismus, an ihm vorbei, in die Avantgarde eintritt und selbst ein maßgeblicher Teil davon wird — beispielhaft mit dem Symbolismus um 1900, mit der Abstraktion von Heemskerck und Mondrian sowie der Gründung von De Stijl.

Unabhängig von der Frage nach dem titelgebenden „Impressionismus in Holland“ ist es ein großes Verdienst des Museums Barberini und aller beteiligten Partner, mit dieser Ausstellung überhaupt einmal solch einen umfassenden Überblick über die Geschichte der niederländischen Malerei von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1920 zu bieten, und damit aufzuzeigen, was hier vor und neben den legendären Größen von Vincent van Gogh und Piet Mondrian, an hervorragender Malerei entstanden ist.

Sie stellt diese singulären Gestalten damit in ihren kunsthistorischen Kontext, beleuchtet ihre künstlerische Herkunft und Genese im zeitgenössischen Umfeld. Figuren wie Johan Barthold Jongkind (1819—1891), Anton Mauve (1838—1888), oder der erwähnte Breitner, an denen sich viele andere niederländische Künstlerinnen und Künstler orientierten, werden in ihrer jeweiligen Eigenart ein Stück weit fassbar. Und die Zusammenschau der Werke vermittelt einen lebendigen Eindruck von der Qualität und den charakteristischen Besonderheiten der niederländischen Malerei der Epoche.

Dass das Museum Barberini für diese Ausstellung die Frage nach dem Impressionismus in Holland in den Mittelpunkt gestellt hat, und damit auch in den Titel gesetzt, ist mit Blick auf sein Selbstverständnis als ein Museum des Impressionismus vollkommen schlüssig. Und aufgrund seiner Beliebtheit beim Publikum ist der Impressionismus ohne Frage auch als Köder für diese Ausstellung bestens geeignet.

Die Ausstellung Wolken und Licht. Impressionismus in Holland im Museum Barberini in Potsdam geht noch bis zum 22.Oktober 2023.

Webseite: https://www.museum-barberini.de/de/ausstellungen/9498/wolken-und-licht-impressionismus-in-holland

Wolken und Licht. Impressionismus in Holland.

Hrsg. v. Ortrud Westheider, Michael Philipp, Daniel Zamanie. Potsdam: Museum Barberini, und München/London/New York: Prestel/Random House, 2023, 312 Seiten
ISBN 978-3-7913-7998-2 (Buchhandelsausgabe

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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument

Carl Schuch Stillleben
Carl Schuch: Stillleben mit Porree, Zwiebeln und Käse, um 1885/86
Öl auf Leinwand, 64,7 x 81,2 cm, Sammlung Andreas Gerritzen

Neuer Beitrag zu Werken des Malers in einer Privatsammlung

In diesen Tagen ist im Verlag der Kunsthandlung J. P. Schneider in Frankfurt die Dokumentation einer privaten Kunstsammlung erschienen.

Unter dem Titel Leben mit Kunst – die Sammlung Andreas Gerritzen präsentiert der aufwändig gestaltete Band vollständig den Bestand der Kunstwerke und Naturalia, die der Sammler Andreas Gerritzen in den letzten 25 Jahren zusammengetragen hat. Schwerpunkte der Sammlung bilden Landschaftsmalerei und Stillleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dazu gehören Werke der Maler der Worpsweder Künstlerkolonie, insbesondere von Otto Modersohn, sowie der Freilichtmalerei in Frankreich, Deutschland und Italien seit der Schule von Barbizon.

Carl Schuch nimmt in der Sammlung einen besonderen Stellenwert ein. Gerritzen konnte bis jetzt neun Gemälde in seiner Sammlung vereinen, darunter fünf Landschaften, drei Stillleben und ein Interieur.

Mein Beitrag „Carl Schuch – Malerei als Erkenntnisinstrument“, abgedruckt auf den Seiten 194–217, behandelt diese Gemälde ausführlich im Kontext des Gesamtwerks von Carl Schuch, das in der Malerei weit mehr sieht als ein Mittel zur Wiedergabe des Gesehenen, zur Darstellung der Welt oder der von ihr empfangenen Sinnenreize und Empfindungen. Schuch geht es um eine nahezu systematische Erkundung der Möglichkeiten der Neuschöpfung und Gestaltung der Welt als Malerei, generiert allein aus den ihr eigenen Mitteln.

Dazu seien hier beispielhaft ein eine Selbstäußerung von Carl Schuch und ein Abschnitt aus dem Beitrag zitiert:

Ich lebe jetzt nur noch in Vorbereitung für Landschaft, studiere und probiere meine neue Palette, die die farbigste ist, die denkbar. Aber um solches Roß zu reiten, muß man festsitzen und es kennen. Ich werde heuer viele kleine Farbenskizzen malen und meine Palette anwenden lernen. Die Landschaft hat den großen Vorteil, daß uns das peinliche Ausführen, das beim Stilleben so wichtig ist, nicht hindert, besonders bei großen Bildern, die halb vollendet aussehen.

Das einzig Auszuführende ist mir in der Landschaft die Farbe […].

Meine guten paar Arbeiten sind auch wie zufällig entstanden und ich habe erst später begriffen warum. Wenn meine großen Stilleben, die noch weit zum Fertigsein haben – nie fertig würden, ich wäre ihnen doch sehr verpflichtet. Ich habe durch sie viel gelernt. Hoffentlich mit den neuen Aufgaben, die die Natur mir nach einjähriger Enthaltsamkeit stellt, finde ich neue Resultate oder wenigstens löse ich die alten oft versuchten Aufgaben. Das Interieur von Birken zum Beispiel, die Eichen ohne sie schwarz zu malen, graue Luft ohne kalkig und farblos nüchtern zu werden, Sonnenschein ohne Buntheit und grelle Dissonanzen usw. Ich sehne mich nach solchen farbigen Rechenexempeln und denke immer an Landschaft.

Brief vom 30. März 1880, zit. nach Karl Hagemeister: Karl Schuch. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1913, S. 104–106.

Stillleben als Experimentierfeld

In den Wintermonaten der Pariser Jahre 1882 bis 1894 weilte Schuch in der Stadt und setzte sein malerisches Forschen fort – in der theoretischen Reflexion wie in der Praxis. Er notierte und analysierte Farbsysteme und die Zusammensetzungen der Paletten von alten Meistern wie Tizian (um 1488/90–1576) und Rembrandt bis zu den bereits genannten älteren und jüngeren Zeitgenossen. Ihm ging es um die Erweiterung seiner Kenntnis der malerischen Mittel. Denkend und malend studierte er unablässig die Anwendung der Farbe im Bild, stets in Verbindung mit dem Licht und dem Aspekt der bildnerischen Komposition, in der sie zur Geltung kommen sollte. In Notizheften hielt er seine Überlegungen dazu fest.

Wie in Venedig führte Schuch seine malerischen Experimente in Paris im Stillleben weiter. Die Ambitionen im Hinblick auf das große Format und die gegenständliche Fülle, die ihn in Venedig angetrieben hatten, gab Schuch hier auf zugunsten schlichterer Kompositionen. Er arbeitete nun mit motivischen Reihen zum Erkunden des malerischen Potenzials einer gewählten Konstellation an Objekten im Raum und ihrer Erscheinung in Farbe und Licht. In seinen Notizheften vermerkte er akribisch die jeweils verwendeten Pigmente und die Farbzusammenstellungen auf der Palette. Diese systematisch verändernd untersuchte er in Kompositionen mit denselben Motiven die Wirkungen der Farbgebung, der Töne und des Lichts im Sinne eines malerischen Erkenntnisstrebens. Mit den Augen und dem Pinsel in der Hand forschend und experimentierend praktizierte Schuch Malerei als Erkenntnisinstrument.

Cover Buch Leben mit Kunst. Die Sammlung Andreas Gerritzen
Verlag J. P. Schneider Frankfurt am Main
Leben mit Kunst –
die Sammlung
Andreas Gerritzen

Gebundene Luxusausgabe, 440 Seiten mit über 200 Farbabbildungen und einem detaillierten Werkverzeichnis. Frankfurt am Main: Verlag J. P. Schneider 2023. – Preis € 120,-

Einblicke ins Buch gibt es auf der Seite des Verlags.

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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt

Max Beckmann: Königinbar, 1920, Abbildung im besprochenen Band, S. 100

Petra Kipphoff zeichnet ein Portrait des Künstlers als Autor
– II –

Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt, Teil 1
Wörter in Bildern

Schrift – als lesbares Zeugnis der Welt und als gestalterisches bildnerisches Element – gehört zu den markanten Gestaltungsmitteln in Beckmanns Malerei, stellt Petra Kipphoff in ihrem Essay fest: „Immer wieder tauchen auf den Bildern von Max Beckmann Buchstaben, Wortfetzen, einzelne Wörter, Zeilen, Noten oder ganze Schriftseiten auf, die auf ein Buch, eine Institution, eine Zeitung, ein Hotel, eine Champagnermarke hinweisen.“ (S. 10)

Ausgiebig schildert sie Beckmanns Gebrauch des Wortes in seinen bildnerischen Werken und erläutert, wie sehr insbesondere diese Schriftelemente zur Verankerung des Geschehens in der „Realität des zeitgenössischen Alltags“ (S. 13) eingesetzt werden.

Zur Sichtbarkeit der Welt gehört für den Maler auch immer schon die Lesbarkeit der Welt, sowohl im übertragenen Sinn als auch im Wörtlichen. Der Maler Beckmann schildert als genauer Beobachter die sichtbare Welt und zu dieser gehört auch die Wirklichkeit des Wortes und dessen Materialisierung in den diversen Textmedien. Sehen und Lesen gehen befruchtend und bereichernd ineinander und bilden gleichermaßen Quellen und Motive in seiner Malerei.

Der Maler als Leser

Wie seine Bilder sind Beckmanns Texte voller literarischer Anspielungen und Verweise. In ihnen offenbart er sich als intensiver Vielleser. „In der Biographie keines anderen Künstlers gibt es wohl so zahlreiche und kontinuierliche Hinweise auf eine so vielfältige Lektüre.“ (S.27)

„So ist es, meine Seele ist vollständig verseucht durch Lesen. Sie hat ihre Keuschheit verloren.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, Eintrag vom 15. oder 16. April 1904

Seine persönliche Bibliothek, die er selbst im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, umfasste in den letzten Jahren etwa 600 Bücher. Ihre Zusammenstellung gibt seine Interessen und literarischen Neigungen klar zu erkennen. Neben literarischen Werken finden sich hier Publikationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten, Natur- und Geisteswissenschaften sowie insbesondere der Philosophie und der Theosophie.  

Seinem im bildnerischen Werk allgegenwärtigen und von Kipphoff gleich zu Beginn ihres Essays herausgestellten „Hang zum Drama“ entsprechend, finden sich hier die großen Epen und Dramen der antiken Literatur, darunter Homer, Aischylos, Sophokles, ebenso wie die Stücke von William Shakespeare. Tatsächlich hat er daraus zahlreiche unmittelbare Anregungen für Themen und Motive und seinen Gemälden gefunden, insbesondere für seine großen Triptychen.

Wie für seine Altersgenossen spielten für Beckmann die philosophischen Schriften Schopenhauers und Nietzsches eine wichtige Rolle  – die er allerdings mit merklicher Distanz und zeitweiliger Ironie aufnimmt und entsprechend ausgiebig kommentiert – sowie die damals wirkungsmächtigen theosophischen Schriften der Okkultistin Helena Blavatsky, denen sich Beckmann ausgiebig widmete, allerdings – und das ist das Erstaunliche, wie Kipphoff zu Recht hervorhebt – ohne dass diese Lektüren Eingang in sein Schreiben gefunden hätten oder in irgendeiner Weise nachweisbar in seine Bildwelt eingedrungen wären.

Im Bund mit Titanen

Unter den literarischen Autoren bilden die Werke von Jean Paul mit 21 Titeln den größten Bestand in Beckmanns Bibliothek. Diese Vorliebe konstatiert Kipphoff mit einiger Verblüffung: „…aus der eigenen Zeit gefallen scheint er mit seiner Leidenschaft für Jean Paul…“ (S. 37)

Auf Jean Paul nimmt Beckmann im Unterschied zu Blavatsky in seinen Tagebüchern und Briefen häufig Bezug, und er verschafft dessen Themen und Motiven auch Auftritte in seinem bildnerischen Werk. So platziert Beckmann dessen großes Romanepos Titan auffällig in seinem Strandbild Badekabine (grün) von 1928. In anderen Werken finden sich in Bildaufbau, Themen und Motiven zahlreiche Anspielungen zu Jean Paul, besonders deutlich im Schauspieler-Triptychon, das Beckmann 1941–1942 im Amsterdamer Exil gemalt hat.

Max Beckmann: Badekabine (grün), 1928, Öl auf Leinwand   70,6 x 85,7 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne München, © CC BY-SA 4.0

Beckmanns Vorliebe für Jean Paul steht exemplarisch für sein gesamtes literarisches Interesse. Er begeistert sich für Werke, in denen die Protagonisten für das Erreichen ihrer Ambitionen äußerliche Hindernisse überwinden und innerlich mit sich selbst ringen müssen. Werke, die sich durch Vielstimmigkeit ihrer Figuren ebenso auszeichnen wie durch ihre jeweils eigene Mischung von Humor und Heiterkeit, von Absurditäten und Abgründen. Werke, in denen genaue Beobachtung und überbordende Fantasie zu gleichem Recht kommen.

Wie in der Kunst sucht er hier in großen Epen, Dramen und Romanen das Schauspiel des Lebens zu fassen. Und dementsprechend liebt er Romane, die all dies vereinigen, wie die von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, von Fjodor Dostojewski und Gustave Flaubert, von Joseph Conrad und Thomas Wolfe. Allesamt Autoren, denen selbst eine prometheische Vermessenheit, ein geradezu titanisches Streben nach Größe eigen ist.

Die literarischen Vorlieben Beckmanns lassen sich in einem Satz von Kipphoff zusammenfassen: „Auch in den wörtlichen Bildern hat Beckmann eine Vorliebe für das Grandiose, dazu noch das Phantastische.“ (S. 68)

Dieser Satz stimmt genauso für seine Lektüren wie für seine eigene Art zu schreiben, die Kipphoff mit diesen Worten charakterisiert. Immer wieder steigen neben nüchternen Schilderungen und schlichten Beobachtungen bewegte Bilder auf, lebhaft erzählt, dramatische Szenen mit phantastischen Motiven, mal poetisch, mal drastisch, mal grotesk. In seinen Tagebücher und Briefe findet sich eine Fülle solcher Szenen.

Krasse Dramen

Das gilt auch für seine literarischen Dichtungen. In den zwanziger Jahren schrieb er das Schauspiel Das Hotel und die Komödie Ebbi, für Kipphoff „zwei krasse kleine Dramen“, in denen er sich den Abgründen der Gesellschaft zwischen Luxus und Elend, Vergnügen und Verbrechen annimmt, also genau jenen Themen, die auch sein bildnerisches Werk beherrschen.

„Ich liebe das Erhabene und das Lächerliche. Das Normale und das Groteske. Jede Form des Lebens, denn meine Sehnsucht ist, etwas Lebendiges zu machen.“

Max Beckmann in seinem Beitrag zur Umfrage „Das neue Programm“ der Zeitschrift Kunst und Künstler, Nr. 12, 1914, zit.n. Kipphoff, S. 47

Wobei Kipphoff zum Schluss kommt, dass Beckmanns Darstellungen in Bildern denen im Text überlegen sind, dass „der Künstler dieses Kräftemessen mit dem Autor gewinnt.“ (S. 70) Außerdem bleibe in allem Literarischen und auf alles Literarische der Blick des Malers beherrschend. Genauso wie in der Wahrnehmung der Dramen des Lebens. Kipphoff zeigt, wie Beckmann „im Text immer auch als Maler reagiert“. (S. 75)

Artist und Schauspieler

Der Maler wiederum agiert durchgehend als Dramatiker. Die Welt ist für Max Beckmann eine Bühne, auf der das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird. Seine Sehnsucht etwas Lebendiges zu machen realisiert der Maler Max Beckmann als Autor von Bühnenstücken in Bildern. Hier vollzieht sich das menschliche Schicksal als Rollenspiel, mal als Tragödie, mal als Komödie, mal als Farce, mal als Zirkusnummer in der Manege.

Der Künstler Beckmann versteht sich dabei nicht als Regisseur oder Zirkusdirektor, der hinter der Bühne das Regime führt, er sieht sich selbst als Figur in diesem Spiel. Als Artist oder Schauspieler seiner selbst tritt er in seinen zahlreichen Selbstbildnissen in seinem Werk auf. Allein oder im Ensemble spielt er in wechselnden Kulissen die unterschiedlichsten Rollen in den kleinen und großen Dramen des Lebens.
Kipphoffs eindringlicher Essay vermittelt das Bild eines Künstlers, dessen gesamtes Weltverständnis theatralisch ist und der seinen Ausdruck dafür gleichermaßen in sprachlichen wie in bildnerischen Gestaltungsformen sucht.

Das Mysterium des Raums

Wobei für Beckmann das Bild dem Text gegenüber einen entscheidenden Vorzug hat: Theater und Zirkus, Bühne und Manege werden in ihm nicht nur metaphorisch zu evoziert. Das Bild macht sie in ihrer Eigenschaft als real existierende Räume anschaulich, in denen das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird.
Damit kommt hier die Dimension ins Spiel, die für Beckmanns Welt- und Kunstverständnis fundamental ist: der Raum.

„Zeit ist eine Erfindung der Menschen, Raum ist der Palast der Götter.“

Max Beckmann: Drei Briefe an eine Malerin, 1948, zit. n. Kipphoff, S. 113

Der Raum ist für ihn die unfassbare Realität, der jede Erscheinung, jedes Erleben zugrunde liegt: „Raum, dessen wesentliche Bedeutung identisch ist mit Individualität, oder das, was die Menschen Gott nennen. Denn im Anfang war der Raum, diese unheimliche und nicht auszudenkende Allgewalt.“ Dieses Mysterium des Raumes sinnlich erlebbar und begreifbar zu machen, darin besteht für Beckmann das besondere Vermögen des Bildes.

Berufung und Bekenntnis

Für Max Beckmann besteht die große Herausforderung und der Auftrag des bildenden Künstlers wiederum darin, diese Wirklichkeit des Raumes als Lebenswelt in den verschiedenen Bildmedien – Malerei, Zeichnung, Graphik – zu erfassen und darzustellen.

Die Darlegung seiner Raumauffassung und der daraus resultierenden künstlerischen Notwendigkeiten bildet eine der zentralen Passagen seines 1948 gehaltenen Vortrags Drei Briefe an eine Malerin.
Wie in diesem Vortrag hat Max Beckmann sich seit seinen künstlerischen Anfängen immer wieder öffentlich zu Fragen der Kunst allgemein geäußert, zu ihrer Rolle und der des Künstlers in der Gesellschaft Stellung bezogen und über seine Malerei und sich selbst Auskunft gegeben – mal aus eigenem Antrieb, mal weil er darum gebeten wurde. Seine persönlichen künstlerischen Ansichten hat er von Beginn an mit Nachdruck öffentlich gemacht.

Auf diese programmatischen Selbstäußerungen Beckmann geht Kipphoff entsprechend in mehreren Kapiteln ausführlich ein. Dabei macht sie auch deutlich, dass er bei aller Selbstbefragung im Persönlichen in der Darlegung seiner künstlerischen Überzeugungen weder Zögern noch Zweifel kennt:
„Was Beckmann programmatisch schreibt und vorschreibt, ist so rigide wie autoritär.“ (S. 55) – Das lässt sich allerdings von ziemlich allen avantgardistischen Künstlern und ihren Manifesten sägen lässt. Hier fügen sich Beckmanns Bekenntnisse und programmatische Texte vollständig in den Kontext der zahllosen künstlerischen Manifeste der Zeit.

„Max Beckmann war immer ein dezidierter Einzelgänger mit einer deutlich artikulierten Meinung.“

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber, S. 19

Völlig richtig verweist sie zunächst darauf, dass Max Beckmann in seinen frühen Jahren „in totaler Gegnerschaft zu fast allen Künstlern“ stand, die den überkommenen Realismus ablehnten und – unter dem Banner der Abstraktion – die Kunst von ihren bisherigen Traditionen, Formen und letztlich der sichtbaren gegenständlichen Welt als Grundlage loslösen wollten. (S. 42)

Die Abstraktion im Sinne ungegenständlicher Kunst blieb ihm stets fremd, da für ihn der Mensch und sein Schicksal im Zentrum alles Strebens und Wirkens stand, weil dazu unverzichtbar auch der Raum gehörte, in dem sich alles Menschliche ereignet, und weil für ihn im Sichtbaren sich das Mysterium des Unsichtbaren offenbart.

Realität, Lebendigkeit, Raum, Individualität, Seele – das sind die Schlagwörter, die sich als Leitmotive durch seine schriftlichen Stellungnahmen ziehen. Wie bei Beckmann aus dem Eintauchen in diese Dimensionen der Existenz und des Menschlichen für ihn schließlich – durchaus in paradoxer Weise – die Transzendenz hervorgeht, die dem Kunstwerk erst Gültigkeit und Dauer verleiht, schildert Kipphoff in ihrem Essay eingehend.

„Ferne Zukunft? Gegenwart will ich, was sonst.“

Max Beckmann: Randbemerkung zu Friedrich Nietzsche: Zarathustra, zit. n. Kipphoff, S. 34

Wirken mit Worten

Angesichts des von Kipphoff geschilderten Umfangs und der Bedeutung der Schriften von Max wäre es sehr verwunderlich, wenn sie – wie es in der Ankündigung der Publikation heißt – , bisher kaum Beachtung gefunden hätten.

Im Gegenteil: Beckmann selbst hat zahlreiche Schriften schon zu Lebzeiten veröffentlichen lassen. Der größte Teil seiner überlieferten schriftlichen Äußerungen ist postum sukzessive publiziert worden.
Zudem sind einige Dokumente und Schriften wiederholt in Ausstellungskatalogen abgedruckt oder ausgiebig zitiert worden. Vor allem aus Anlass des 100. Geburtstags von Max Beckmann im Jahr 1984 wurden Bücher mit seinen Schriften erstmals veröffentlich oder neu aufgelegt.

Sowohl aus der Darstellung wie aus den herangezogenen Quellen wird in Kipphoffs Buch ersichtlich, dass Beckmanns schriftliche Zeugnisse seit jeher fester Bestandteil der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit ihm und der Würdigung und Interpretation seines künstlerischen Werkes gewesen sind. Wie mit seinen bildnerischen Werken hat Max Beckmann mit seinen Schriften und öffentlichen Reden anhaltende Resonanz gefunden.

Mit ihrem Buch hat Petra Kipphoff als Erste die Schriften Max Beckmanns in den Fokus gerückt und sie in ihrer besonderen Eigenart gewürdigt. In ihrem feinsinnigen Essay führt Kipphoff nachdrücklich vor Augen, wie essentiell für Beckmann das Schreiben und das Gestalten in Worten waren, als Instrumente der Selbstverständigung und als schöpferische Ausdrucksmittel.

Buch Cover Beckmann Schreiber

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber.
Springe: zu Klampen 2021
128 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86674-805-7
Preis 20,- € Hardcover, 15,99 € E-Book
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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt

Max Beckmann: Selbst im Hotel, Blatt 1 der Mappe Berliner Reise, 1922
Abbildung im besprochenen Band, S. 100

Petra Kipphoff zeichnet ein Portrait des Künstlers als Autor
– I –

Durchdrungen von einer Stimmung des Aufbruchs und Neuanfangs suchten junge Künstlerinnen und Künstler in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nach neuen Ausdrucksformen. Mit ihnen etablierte sich eine künstlerische Avantgarde, der es nicht mehr darum ging, die Welt darzustellen, so wie sie war mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten, oder so wie sie ist, in ihrer Wirklichkeit im Hier und Jetzt.

Nein, sie zielte auf die Zukunft. Mit einer neu zu erschaffenden Kunst sollte auch die neue Gesellschaft gestaltet und den einzelnen Menschen eine neue, bessere Welt ermöglicht werden.

Dieser universelle Anspruch musste genauso begründet werden wie die damit neu entstehenden bildnerischen Formen und ihre Grundlagen, umso mehr, je deutlicher sich diese von bisherigen künstlerischen Ausdrucksformen unterschieden.

Es ging letztlich darum, sich selbst und anderen gegenüber zu erklären und sich zu vergewissern, und damit die jeweils eigene Legitimation als Künstler oder Künstlerin zu erbringen, sei es für sich alleine oder in einer Gruppe mit Gleichgesinnten.

Daraus ergab sich die enorme, ja explosive Zunahme schriftlicher Äußerungen bildender Künstler und Künstlerinnen, die zu den auffälligsten Entwicklungen der Kunst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehört. Das Zeitalter der Avantgarde ist auch die Ära der künstlerischen Bekenntnisse und Manifeste.

Max Beckmann, 1884 in Leipzig geboren und 1950 in New York gestorben, gehört unter den Künstlern dieser Generation zu jenen, die besonders viel geschrieben haben und darin Wesentliches zu ihrem bildnerischen Werk hinzugefügt haben. Dazu gehören insbesondere Tagebücher, umfangreiche Briefkorrespondenzen, programmatische Texte über Kunst und Künstlerschaft sowie dramatische Texte für die Bühne.

Diesem schriftlichen Kosmos des Künstlers widmet sich die Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin Petra Kipphoff in ihrem Buch Max Beckmann. Der Maler als Schreiber, das im November im Verlag zu Klampen erschienen ist.

Selberlebensbeschreibungen – Tagebücher und Briefe

Auswahl von Archivalien aus der Schenkung der Max Beckmann Nachlässe, Max Beckmann Archiv, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
© Bayerische Staatsgemäldesammlungen

„Max Beckmann, der Maler, Zeichner und Graphiker war auch ein lebenslanger Schreiber, ein vielfältiger und eigensinniger Autor“, stellt Kipphoff gleich eingangs fest – und dies zuallererst und am umfassendsten in Tagebüchern und Briefen, die bei ihm „von einer Kontinuität und Intensität sind, die sich wie von selbst zu einem Roman in eigener Sache, zu einem autobiographischen Drama fügen“ (S. 7).

„Ich glaube, dass ich alles erreichen werde, was ich will. Alles. Nur weiß ich nicht bestimmt, ob ich mich immer darüber freuen werde.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, München/Zürich: Piper 1984, S. 10. Erstausgabe Berlin: Bruno Cassirer 1916

Max Beckmann führte Tagebuch von seiner Jugendzeit bis zum Tag vor seinem Tod. Das früheste der von seiner Hand erhaltenen Tagebücher setzt am 14. August 1903 ein und schon in den ersten Zeilen der Eintragungen beginnt das von Kipphoff konstatierte „autobiographische Drama“. Denn sein Nachdenken über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt und zur Kunst ist von Anfang an durchwirkt von seinen Gefühlen zu Minna Tube, die er 1902 als Kommilitonin in Weimar kennengelernt hatte und 1906 heiraten sollte.

Das Selbstgespräch im Tagebuch spiegelt den persönlichen und künstlerischen Austausch zwischen ihnen und das Auf und Ab der Beziehung mit den Sehnsüchte und schönen Erwartungen, den Spannungen und Enttäuschungen. Beckmann kann nicht damit umgehen, dass sie sich ihre eigene Selbständigkeit bewahrt und offenbar nicht gewillt ist, diese für ihn aufzugeben. Er fühlt sich geliebt, aber nicht genug, vor allem letztlich wohl nicht bedingungslos, nicht absolut genug.

In seinen Notizen wechseln sich Zweifeln und Hadern ab mit klarer Entschiedenheit und einer mal trotzig klingenden, mal arrogant wirkenden Selbstgewissheit. Sie kommt in zahlreichen apodiktischen Statements zum Ausdruck, die neben seinen Tagebüchern auch seine Briefe sowie die programmatischen Äußerungen und öffentlichen Stellungnahmen als Künstler charakterisieren werden.

„Ich kann keine Kompromisse vertragen.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, S. 9.

Wie in seinen Tagebüchern vermittelt der junge Beckmann in seinen Briefen das Bild eines Menschen, der sich dem intensiven Erleben der Welt hingeben will, der davon emotional bewegt und ergriffen wird, der zwischen guten und schlechten Gefühlen, zwischen Gewissheiten und Zweifeln hin und her gerissen ist — der aber letztlich unerschütterlich ist in seinem Überzeugungen und im Kern unberührt bleibt, wie tiefgreifend und einschneidend seine Erlebnisse und Erfahrungen auch sein mögen.

Markantes Zeugnis dieser Haltung sind seine Briefe aus dem Ersten Weltkrieg. Dass diese für ihn mehr waren als private Mitteilungen für seine Frau Minna, an die sie ursprünglich gerichtet waren, belegt der Umstand, dass diese zwischen September 1914 und Juni 1915 geschriebenen Briefe schon 1916 im Verlag Bruno Cassirer in Berlin veröffentlicht worden sind.

Beckmann begibt sich erlebnishungrig und frohgemut mit offenen Augen und empfänglichen Sinnen in das Abenteuer des Krieges. Knapp, aber lebendig schildert er Atmosphärisches und Stimmungen, Begebenheiten unterschiedlichster Art, mal amüsant, mal grotesk, sowie die Ereignisse und Erfahrungen des Krieges.

In den Schilderungen von Verletzten und Sterbenden zeigt er sich berührt und mitfühlend, und von den Grausamkeiten des Krieges „berichtet er in seinen Briefen mit einer gnadenlosen Genauigkeit“ (S. 19). Doch stets schreibt er davon so, als zeichne er nur sachlich auf, was um ihn herum geschieht – distanziert, mit oft spöttischen Zwischentönen oder ironischen Nachsätzen, so dass der Eindruck entsteht, ihn könne all dies nicht wirklich etwas anhaben.

Selten das Eingeständnis wirklich angegriffen zu sein, wie im Mai 1915: „Albert Weisgerber im Westen gefallen. Es hat mich sehr erschüttert. Auch daß es mir noch immer so gut geht. R. schrieb sehr traurig.“ (Brief vom 19.05.1915)

Tatsächlich aber ging es ihm gar nicht mehr so gut. Nirgends in den Briefen lässt er durchscheinen, wie der Krieg ihn selbst angriff, wie nahe er ihm ging und er dem Zusammenbruch war, der im Juli 1915 sein Kriegsabenteuer beenden sollte, das aus dem jungen Künstler einen anderen Menschen gemacht hatte.

„Ich habe gezeichnet. Das sichert gegen Tod und Gefahr.“

Max Beckmann: Brief an MInna Beckmann-Tube, 3. Oktober 1914, in: Max Beckmann: Briefe im Kriege, München: Piper 1984, S. 13

Aufmerksam folgt Kipphoff den Kontinuitäten und Wandlungen von Duktus und Tonfall in den Aufzeichnungen der Tagebüchern und seinen Briefen. Schön die Ausführungen über das „Dreibuchstaben-Nichtwort“ „tja“ und den Einsatz der in den späten Tagebüchern und Briefen häufig verwendeten Punktfolgen und Gedankenstriche. Kipphoff versteht das Wörtchen „tja“ wie auch die Gedankenstriche als Markierungen eines Innehaltens, als „Pausenzeichen“.

Wo der junge Beckmann offensichtlich den Eindruck vermitteln will, sich von nichts aufhalten zu lassen und zu allem etwas zu sagen zu haben und letztlich immer schon Bescheid zu wissen, hat sich beim älteren das Drängen gelegt. Ohne meinen zu müssen lässt er den Moment gewähren und gibt selbst der Sprachlosigkeit Raum.

Fortsetzung hier: 
Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt, Teil 2
Buch Cover Beckmann Schreiber

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber.
Springe: zu Klampen 2021
128 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86674-805-7
Preis 20,- € Hardcover,
15,99 € E-Book
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