Fortsetzung
– III –
Kunstvolle Verwandlungen
Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier: I – Was ist eine Dampflokomotive? II – Was sind Wolken?
Technisch betrachtet ist eine Dampflok eine Dampfmaschine auf Rädern. Das heißt, die Energie, die von der brennenden Kohle erzeugt und zum Erhitzen von Wasser verwendet wird, dient nicht zum Antreiben von fixierten Gerätschaften, sondern wird zur gerichteten Fortbewegung dieser Maschine selbst genutzt. Der aufsteigende Dampf ist also Resultat, nicht aber – wie ich es als Kind sehen wollte – Zweck des Betriebs dieser Apparatur.
Wie dem im Einzelnen auch sei – am Beispiel und Bild der Dampflokomotive lässt sich vor allem ein Aspekt aufzeigen, der mir hier der wichtigste ist: Sowohl in der Bewegung der Maschine selbst, wie in der von dieser Maschine erzeugten Bewegung, als auch am Ende im Aufsteigen der Wolken wird das zentrale gemeinsame Charakteristikum von Wolken und Maschinen anschaulich: Das Wesen der Transformation!
Hierin liegt ihre wesentliche Gemeinsamkeit, die allerdings selten in den Blick gerät. Zunächst treten beim Vergleichen von Maschinen und Wolken ihre Unterschiede in den Vordergrund. Denn abgesehen vom hier herausgestellten Aspekt der Transformation als solchem verhalten sich Wolken und Maschinen gegensätzlich zueinander:
Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Wolken sind Maschinen keine natürlichen Phänomene, sondern von Menschen konstruierte Apparaturen, die explizit zur Hervorbringung von Transformationen dienen. Und zwar in zweifacher Weise (worin sie sich im übrigen, soweit ich es sehe, vom einfachen Werkzeug unterscheiden):
Die erste Transformation besteht im Einsatz von Materialien und Prozessen zur Erzeugung von Energie (in Form von Hitze, Druck, Bewegung o.a.) und diese dient zur Erzeugung der angestrebten zweiten Transformation, z.B. das Pressen einer Form oder den Vorwärtstrieb der Lokomotive. Das heißt, es handelt sich um eine zweckhafte und zielgerichtete Transformation, die ein definiertes Ergebnis hervorbringen soll. Abweichungen im Funktionieren oder in der hervorgebrachten Gestalt gelten als Fehler.
Eine Maschine vollzieht also grundsätzlich beabsichtigte, gerichtete und kontrollierte (zumeist zumindest) und damit vorhersehbare Modifikationen in sämtlichen Bereichen. Aufgrund ihrer steten Verbesserung und der Erfindung immer neuer Maschinerien ist die Maschine als solche zum Sinnbild geworden für die Beherrschung der Welt durch den Menschen und den von ihm angetriebenen Fortschritt.
Wie aber steht das alles nun im Verhältnis zur Kunst, um die es hier letztlich im Wesentlichen geht?
In gewisser Weise hat die Kunst an beidem Anteil – sie bewegt sich im weiten Raum zwischen den Wolken und den Maschinen und begreift in ihrem Wesen beide mit ein.
Dass ihr etwas Wolkenhaftes eigen ist, braucht fast nicht eigens angeführt zu werden. Dies wird gegen sie von Seiten der Kunst gegenüber kritisch eingestellten Zeitgenossen ins Feld geführt. Von jenen wiederum, die sie schätzen und bewundern liegt gerade darin einer ihrer wesentlichen Reize, ein großer Teil des Zaubers und des Geheimnisses, mit dem die Kunst uns Menschen in den Bann ziehen kann.
Andererseits hat die Kunst aber auch etwas Maschinenhaftes: Ein Kunstwerk kann – in seiner funktionellen Eigenart beschrieben – definiert werden wie eine Maschine: eine von Menschen konstruierte zweckmäßige Ordnung zur Übertragung von Kräften bzw. Umsetzung von Energien – wobei diese hier nicht materieller Art sind. Am Beispiel der Malerei formuliert handelt es zunächst um die Überführung einer mobilen Ordnung – der Farben auf der Palette – in eine feste Ordnung – der Komposition auf der Leinwand, mit dem Ziel eine bildnerische Realität zu formulieren, die wiederum spezifisch ausgerichtete, für die betrachtenden Menschen gleichermaßen erkennbare Sinn-Effekte hervorbringen soll.
Tatsächlich hat man sich früher das Funktionieren der Bilder wie Maschinen durchaus im wörtlichen Sinn vorgestellt: Nicht zufällig hießen im 19. Jahrhundert die großen als Meisterwerke konzipierten Gemälde in der französischen Kunst „Grandes machines“.
Solche gemalten Bilder sollten die Bedeutungen, die von Künstlern oder Künstlerinnen bzw. die der Institutionen, die sie dazu beauftragten, möglichst deutlich abbilden und ebenso eindeutig wie möglich auf die Menschen, die das Werk zu Gesicht bekamen, wirken. Das aber hat, wie die Geschichte gezeigt hat, so nicht funktioniert. Tatsächlich verhalten sich gemalte Bilder im Hinblick auf die Absicht der Festlegung ihrer Bedeutungen eher wolkenhaft – so festgelegt die einmal auf der Fläche organisierte Ordnung sein mag, so fertig und vollendet das Bild mit all seinen materiellen Eigenschaften als Gegenstand, als Produkt sein mag. Im Hinblick auf den Prozess der Sinn- und Bedeutungsbildung bleibt es unabgeschlossen und offen, eine Projektionsfläche für Assoziationen und ständig in Bewegung – genau wie Wolken.
Es ist wiederum genau diese Eigenart des Bildcharakters, die Fähigkeit zu permanenter Transformation, die in der Moderne zahlreiche avantgardistische Kunstbewegungen zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Konzepte gewählt haben.
Das Kunstwerk soll nicht das eindimensionale finale Produkt einer Maschine sein, sondern wird nun eher verstanden als das energetische Moment, das sich im im oben beschriebenen ersten Transformationsprozess vollzieht, also – noch einmal mit der Dampflok gesprochen – es wird aufgefasst wie die Flamme, die aus der Erhitzung der Kohle aufsteigt und den Dampfdruck erzeugt.
Womit wiederum die zweite Transformation ausgelöst wird, die nun aber zwei Wirkungen hervorbringt, einerseits die Erkennbarkeit der sinnhaft geordneten Darstellung – bei der Lokomotive die intendierte ausgerichtete Bewegung – andererseits den Nebeneffekt all der ungeplanten und unvorhersehbaren möglichen Assoziationen, Bedeutungen, Sinnschichten, die mit jeder neuen Betrachtung des Werkes aus diesem hervorgehen und seine Betrachtungsmöglichkeiten variieren und verwandeln und ihm ein quasi magisches Eigenleben verleihen – vergleichbar den aus dem Schornstein aufsteigenden und unaufhörlich bewegten Wolkenbildern, die den besonderen Zauber dieser fahrenden Maschinen ausmachten.
Was sich hier – beispielhaft am Feld der Malerei dargestellt – im Gebiet der Kunst vollzieht, das sind in gewisser Weise Umstülpungen und Umwertungen im Umgang und im Gebrauch der Kunst und ihrer jeweiligen Bedeutung.
Solche Umwertungen finden aber aber keineswegs nur in der Kunst oder Poesie statt. Sie sind nicht darauf beschränkt.
Auch die Wissenschaften, die Politik, das Wirtschaftsleben sind genauso davon betroffen, allerdings häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch hier treten neben den angepeilten und kontrollierten Effekten von Entscheidungen und Maßnahmen zuhauf überraschende Wendungen und Neubewertungen auf – die wiederum erst kreative Räume im wissenschaftlichen und technischen, im politischen und wirtschaftlichen Raum öffnen. Als Beispiel sei hier eine neuere Umwertung genannt, von der wir alle unvermeidlich betroffen sind: die von den Wolken zur Cloud.
Wie dargestellt galten Wolken aufgrund ihrer Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit über Jahrhunderte Sinnbild der Unsicherheit, des Ungefähren, des Gefahrbringenden (etwa von Gewitter und Sturm) sowie des selbst Gefährdeten und vollkommen Unbeständigen.
Doch nun, mit der Ausweitung des neuen, von Menschen geschaffenen digitalen Raums hat sich mit dem Bild und der Bedeutung der Wolke eine bemerkenswerte Transformation vollzogen. Nun wird sie – auf Englisch, der globalen Universalsprache und in den generell umfassenden Konzepte bezeichnenden Kollektivsingular überführt – als „Cloud“ zum Sinnbild der Sicherheit, der Bewahrung, der Kontinuität, der Verfügbarkeit und des permanenten Zugriffs auf alles, was unter dem Begriff Daten zusammengefasst wird.
Das wiederum kann inzwischen wohl tatsächlich alles sein, was sich Menschen ersonnen haben. Sobald irgendeine Manifestation davon für die Speicherung auf digitalen Geräten erzeugt oder dort eingespeist wird, transformiert der Akt der digitalen Speicherung diese in das unendlich gleichmachende Rauschen von Nullen und Einsen, so einzigartig und unvergleichlich ein einzelner Mensch oder eine Sache, eine Idee oder ein Programm oder was auch immer sein mag.
Und immer mehr dieser für einzelne Menschen oder Gruppen oder die gesamte Menschheit bedeutenden und wertvollen Daten werden von ihnen nun dieser Cloud anvertraut. Was für eine Vorstellung bei genauerer Betrachtung – ausgerechnet die Wolke wird auserkoren als Inbegriff der Bewahrung, Sicherheit und Dauerhaftigkeit. Ausgerechnet sie soll uns als stets verfügbarer, zuverlässiger Speicherraum unseres Wissens dienen, sie soll unsere persönlichen und gemeinsamen Schätze bewahren und Werte erhalten, sie soll zu unserem Gedächtnis werden und unser weiteres Funktionieren sichern sowie unserem Leben die Zukunft.
Damit wird sie zu einem Teil von uns, einem Teil unseres Denkens, unseres Gehirns. Und hier trifft sich wiederum dieser aktuelle Trend mit den ältesten mythologischen Vorstellungen des Menschen – denn einst, in der nordischen Mythologie, ging man davon aus, dass die Wolken gebildet würden aus den Gehirnen der Riesen.
Und heute bildet die Cloud für uns ein Riesenhirn – und tatsächlich sind sich ja Hirn und Wolke in ihren gerundeten Formen morphologisch ähnlich – und das führt uns zum Schluss, der im Zitat eines berühmten Bonmots des dadaistischen Künstlers Francis Picabia bestehen soll, Dieser konstatierte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ – So bleibt mir hier zum Schluss also nur noch, allen beim weiteren Denken und Betrachten eine gute Kurvenlage zu wünschen.
Anmerkung:
Dieser Essay geht zurück auf die Keynote zur Eröffnung der zweiten Ausstellung Kunst am Campus ebenfalls mit dem Titel „Von Wolken und Maschinen“ am Hochschulstandort Tuttlingen der Hochschule Furtwangen University am 22.03.2016, mit Werken aus Kursen der Jugendkunstschule Zebra in Tuttlingen – Eine großartige Initiative, die technische Ausbildung und freies kreatives Gestalten junger Menschen zusammenbringt.