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Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Fortsetzung
– II –
Was sind Wolken?

Zum  vorhergehenden Teil geht es hier: 
Was ist eine Dampflokomotive?

So vielfältig, wie sie in Erscheinung treten, so unterschiedlich lassen sich Wolken beschreiben oder definieren. In ihrer Eigenschaft als Naturereignisse betrachtet, können sie zunächst beschrieben werden als Phänomene natürlicher Transformationen, für deren Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsbild physikalische Gegebenheiten wie verschiedene Gemengelagen von Luft, Wasser, Temperatur, Höhenlage etc. eine Rolle spielen.

Diese natürlichen Verwandlungsphänomene vollziehen sich kontinuierlich in wechselnden Geschwindigkeiten und Intensitäten, aber stets – sofern man nicht eine höhere steuernde Macht voraussetzt – ohne eigentlichen Zweck und jegliches Ziel.

Aufgrund dieser nicht zielgerichteten und unvorhersehbaren Transformationen standen Wolken seit jeher für das Ungefähre, das Ungreifbare, das Geheimnisvolle. Von daher bildeten sie stets Projektionsflächen und Assoziationspunkte für die menschliche Vorstellungskraft.

So wie der Nachthimmel mit zahllosen Figuren bevölkert wurde, indem sinnhafte Beziehungen zwischen den Sternen gestiftet worden sind, so regen auch die permanent neu entstehenden Formationen von Wolken immer wieder aufs Neue dazu an, Figuren und Bilder darin zu sehen. Wie aus den Sternbildern glaubten Menschen auch in Wolkenbildern Bedeutungen und Zeichen erkennen zu können. Etwa das Wetter vorhersehen oder gar Vorsehungen ableiten zu können.

„Die menschliche Phantasie hat den Himmel lebendig gemacht, hat ihn mit Gestalten und Figuren bevölkert…“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 25

Wobei der wesentliche Unterschied zwischen den Sternbildern und Wolkenbildern nicht aus den Augen verloren werden darf. Sterne sind für die menschliche Wahrnehmung statisch und dauerhaft, es sind für sie Fixpunkte, weshalb sie sich zur Orientierung eignen und Sternbilder unveränderlich erscheinen. So sind sie Sinnbilder für die stabile und sinnhafte Ordnung des Kosmos geworden.

Ganz anders die Wechselhaftigkeit der Wolken. Sie bringen unablässig wechselnde Bilder hervor, die sich in kürzester Zeit wieder verflüchtigen, um andere aufscheinen zu lassen. Sie steigen auf und sinken herab wie phantastische Welten. Wolken eignen sich daher in besonderer Weise als Metapher für die permanente – damit aber auch unterschwellig beunruhigende – Veränderlichkeit der Natur an sich.

Weil sie sich jeglicher Fixierung entziehen, schienen Wolken einer wissenschaftlichen Beschreibung lange Zeit nicht zugänglich – doch wie so oft in der Menschheitsgeschichte half eines Tages ganz schlicht die genaue Beobachtung der für jeden sichtbaren Phänomene durch ein einziges aufmerksames Individuum der Menschheit auf die Sprünge:

Im Dezember 1802 stellte der junge und damals noch vollkommen unbekannte britische Meteorologe Luke Howard seine Klassifikation der Wolkenformen vor. Mit dem von ihm vorgeschlagenen Beschreibungssystem von Wolken fand er höchste Beachtung, und es hatte durchschlagende Wirkung.

Noch heute bildet seine Klassifikation die Grundlage zur Bezeichnung und wissenschaftlichen Beschreibung von Wolken – natürlich modifiziert und weiter ausdifferenziert. Die von ihm gewählten Begriffe für die Wolken sind bald Gemeingut geworden. Stratus, Cumulus oder Cirrus oder Nimbus sagen nicht nur Meteorologen etwas.

Diese Bezeichnungen allerdings beschreiben bei Howard keine festgelegten Einheiten, sie definieren nicht eine spezifische Seinsweise seines Untersuchungsgegenstandes. Es sind Begriffe, die dazu verhelfen sollen, mit Worten die Erscheinungsformen dieser Phänomene in Bewegung zu fassen! Deshalb nennt er seinen Aufsatz auch: „On the modification of clouds“ – damit verweist er schon im Titel auf das zentrale Moment der Transformation.

Howard „gestand den Wolken ihre Mobilität zu, statt zu erwarten, dass sie der Wissenschaft zu Gefallen still hielten“, schreibt dazu der Wissenschaftshistoriker Richard Hamblyn in seinem erhellenden Buch Die Erfindung der Wolken. Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmesl erforschte, Insel Verlag 2001 (S. 141). Indem Luke Howard anerkannte, dass Auflösung und Entstehung eines sind, konnte er das Phänomen neu definieren, als „eine Serie von sich selbst auflösenden Vergänglichkeiten“ (S. 142).

Was heute als naheliegende Schlussfolgerung aus den Beobachtungen erscheinen mag, markiert historisch einen epochalen Schritt. Denn genau darin – in der Betonung des Ereignishaften und der permanenten Transformation – liegt das Besondere an Howards Vorgehen und Ergebnis. Dies war es, was ihm die Bewunderung einer ganzen Epoche einbrachte.

„Die Modifikation der Wolken war ein bedeutender neuer Gedanke, der die Zuhörer regelrecht überwältigte“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 48

Howard formulierte seine Thesen in einer Zeit, in der Wolken auch in der Dichtung und Malerei allgemein ein herausragendes Thema waren. Dieser Zusammenhang gehört zu den häufig zu beobachtenden Konjunkturen in der Geschichte menschlicher Entdeckungen und Erfindungen, Fantasien und Fiktionen. Wolken hatten Eigenschaften, die in dieser Zeit sowohl das wissenschaftliche Interesse auf sich zogen als auch die schöpferische Imagination befeuerten:

Der Dichter Samuel Taylor Coleridge wohnte Howards Vortrag bei, um, wie er sagte, „seinen Vorrat an Metaphern zu erweitern.“ Nicht zuletzt hat Johann Wolfgang Goethe ihm mit „Howards Ehrengedächtnis“ einen ganzen Gedichtzyklus gewidmet, der dessen Wolkennamen Cirrus, Stratus, Cumulus, Nimbus aufnimmt.

Zahlreiche Maler wie John Constable und Alexander Cozens suchten nach adäquaten malerischen Formen zur Darstellung der Wandelbarkeit der Wolken – und hier trat zum ersten Mal in der Kunstgeschichte der frei schwebende, hingeworfene Fleck in den Fokus einer systematischen bildnerischen Ästhetik, der es nicht mehr um die Fixierung von Formen ging, sondern um die Verbildlichung der dynamischen Prozesse in Natur und Kunst als solcher. Ein einziger Blick auf das Gemälde Rain, Steam and Speed von William Turner offenbart die explosive Wucht dieses Prozesses.

Joseph Mallord Wiliam Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 121,8 cm. National Gallery, London

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Luke Howard wie die unterschiedlichen poetischen und malerischen Werke führen vor Augen, wozu eine genaue Beobachtung fähig ist, wie sie Ordnungsprinzipien und Wandlungsprozesse scheinbar chaotischer Erscheinungsformen aufdecken und anschaulich machen kann.

Gleichzeitig wird deutlich wie das Zusammenspiel von forschender Naturbeobachtung, schöpferischer Phantasie und menschlicher Kreativität wissenschaftliche Erkenntnis befördert, neue ästhetische Prinzipien und Formen ermöglicht und technische Erfindungen hervorbringt. Aus dieser Perspektive ist es kein Zufall, dass zu Beginn eben des Jahres 1802, in dem Howard die Erkenntnisse seiner Naturbeobachtungen präsentierte, der englische Ingenieur Richard Trevithick die erste Lokomotive der Welt zum Patent anmeldete und zum Laufen brachte.

Das allgemein um sich greifende Interesse für die Beobachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen, das sich in all diesen Entwicklungen manifestiert, ist selbst wiederum exemplarischer Ausdruck des fundamentalen Epochenwandels von der Neuzeit zur Moderne – einer neuen Zeit, für die nicht mehr die statische Ordnung der Sternbilder als Sinnbild taugt, sondern die rasante Wandelbarkeit der Wolken.

Fortsetzung folgt hier:  III – Kunstvolle Verwandlungen