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Von Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Form-Spirit Transformation
Giacomo Balla: Transformación forma-espíritu, 1918, Casa Museo Giacomo Balla, Rom
© Public Domain

Fortsetzung

– III –
Kunstvolle Verwandlungen

Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier:
I – Was ist eine Dampflokomotive?
II – Was sind Wolken?

Technisch betrachtet ist eine Dampflok eine Dampfmaschine auf Rädern. Das heißt, die Energie, die von der brennenden Kohle erzeugt und zum Erhitzen von Wasser verwendet wird, dient nicht zum Antreiben von fixierten Gerätschaften, sondern wird zur gerichteten Fortbewegung dieser Maschine selbst genutzt. Der aufsteigende Dampf ist also Resultat, nicht aber – wie ich es als Kind sehen wollte – Zweck des Betriebs dieser Apparatur.

Wie dem im Einzelnen auch sei – am Beispiel und Bild der Dampflokomotive lässt sich vor allem ein Aspekt aufzeigen, der mir hier der wichtigste ist: Sowohl in der Bewegung der Maschine selbst, wie in der von dieser Maschine erzeugten Bewegung, als auch am Ende im Aufsteigen der Wolken wird das zentrale gemeinsame Charakteristikum von Wolken und Maschinen anschaulich: Das Wesen der Transformation!

Hierin liegt ihre wesentliche Gemeinsamkeit, die allerdings selten in den Blick gerät. Zunächst treten beim Vergleichen von Maschinen und Wolken ihre Unterschiede in den Vordergrund. Denn abgesehen vom hier herausgestellten Aspekt der Transformation als solchem verhalten sich Wolken und Maschinen gegensätzlich zueinander:

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Wolken sind Maschinen keine natürlichen Phänomene, sondern von Menschen konstruierte Apparaturen, die explizit zur Hervorbringung von Transformationen dienen. Und zwar in zweifacher Weise (worin sie sich im übrigen, soweit ich es sehe, vom einfachen Werkzeug unterscheiden):

Die erste Transformation besteht im Einsatz von Materialien und Prozessen zur Erzeugung von Energie (in Form von Hitze, Druck, Bewegung o.a.) und diese dient zur Erzeugung der angestrebten zweiten Transformation, z.B. das Pressen einer Form oder den Vorwärtstrieb der Lokomotive. Das heißt, es handelt sich um eine zweckhafte und zielgerichtete Transformation, die ein definiertes Ergebnis hervorbringen soll. Abweichungen im Funktionieren oder in der hervorgebrachten Gestalt gelten als Fehler.

Eine Maschine vollzieht also grundsätzlich beabsichtigte, gerichtete und kontrollierte (zumeist zumindest) und damit vorhersehbare Modifikationen in sämtlichen Bereichen. Aufgrund ihrer steten Verbesserung und der Erfindung immer neuer Maschinerien ist die Maschine als solche zum Sinnbild geworden für die Beherrschung der Welt durch den Menschen und den von ihm angetriebenen Fortschritt.

„MASCHINE […] jede Vorrichtung zur Erzeugung oder Übertragung von Kräften, die nutzbare Arbeit leistet (,Arbeits-M.‘) oder eine Energieart in eine andere umsetzt (,Kraft-M.‘)“

Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, 14. Band, Mag–Mod, Mannheim: F.A. Brockhaus 1991, S. 271

Wie aber steht das alles nun im Verhältnis zur Kunst, um die es hier letztlich im Wesentlichen geht?

In gewisser Weise hat die Kunst an beidem Anteil – sie bewegt sich im weiten Raum zwischen den Wolken und den Maschinen und begreift in ihrem Wesen beide mit ein.

Dass ihr etwas Wolkenhaftes eigen ist, braucht fast nicht eigens angeführt zu werden. Dies wird gegen sie von Seiten der Kunst gegenüber kritisch eingestellten Zeitgenossen ins Feld geführt. Von jenen wiederum, die sie schätzen und bewundern liegt gerade darin einer ihrer wesentlichen Reize, ein großer Teil des Zaubers und des Geheimnisses, mit dem die Kunst uns Menschen in den Bann ziehen kann.

Andererseits hat die Kunst aber auch etwas Maschinenhaftes: Ein Kunstwerk kann – in seiner funktionellen Eigenart beschrieben – definiert werden wie eine Maschine: eine von Menschen konstruierte zweckmäßige Ordnung zur Übertragung von Kräften bzw. Umsetzung von Energien – wobei diese hier nicht materieller Art sind. Am Beispiel der Malerei formuliert handelt es zunächst um die Überführung einer mobilen Ordnung – der Farben auf der Palette – in eine feste Ordnung – der Komposition auf der Leinwand, mit dem Ziel eine bildnerische Realität zu formulieren, die wiederum spezifisch ausgerichtete, für die betrachtenden Menschen gleichermaßen erkennbare Sinn-Effekte hervorbringen soll.

Tatsächlich hat man sich früher das Funktionieren der Bilder wie Maschinen durchaus im wörtlichen Sinn vorgestellt: Nicht zufällig hießen im 19. Jahrhundert die großen als Meisterwerke konzipierten Gemälde in der französischen Kunst „Grandes machines“.

Solche gemalten Bilder sollten die Bedeutungen, die von Künstlern oder Künstlerinnen bzw. die der Institutionen, die sie dazu beauftragten, möglichst deutlich abbilden und ebenso eindeutig wie möglich auf die Menschen, die das Werk zu Gesicht bekamen, wirken. Das aber hat, wie die Geschichte gezeigt hat, so nicht funktioniert. Tatsächlich verhalten sich gemalte Bilder im Hinblick auf die Absicht der Festlegung ihrer Bedeutungen eher wolkenhaft – so festgelegt die einmal auf der Fläche organisierte Ordnung sein mag, so fertig und vollendet das Bild mit all seinen materiellen Eigenschaften als Gegenstand, als Produkt sein mag. Im Hinblick auf den Prozess der Sinn- und Bedeutungsbildung bleibt es unabgeschlossen und offen, eine Projektionsfläche für Assoziationen und ständig in Bewegung – genau wie Wolken.

Francis Picabia: Machine tournez vite, 1916/1918, Washington, National Gallery of Art
© Rice University, Department of Art History, https://hdl.handle.net/1911/85870. Foto: William A. Camfield

Es ist wiederum genau diese Eigenart des Bildcharakters, die Fähigkeit zu permanenter Transformation, die in der Moderne zahlreiche avantgardistische Kunstbewegungen zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Konzepte gewählt haben.

Das Kunstwerk soll nicht das eindimensionale finale Produkt einer Maschine sein, sondern wird nun eher verstanden als das energetische Moment, das sich im im oben beschriebenen ersten Transformationsprozess vollzieht, also – noch einmal mit der Dampflok gesprochen – es wird aufgefasst wie die Flamme, die aus der Erhitzung der Kohle aufsteigt und den Dampfdruck erzeugt.

Womit wiederum die zweite Transformation ausgelöst wird, die nun aber zwei Wirkungen hervorbringt, einerseits die Erkennbarkeit der sinnhaft geordneten Darstellung – bei der Lokomotive die intendierte ausgerichtete Bewegung – andererseits den Nebeneffekt all der ungeplanten und unvorhersehbaren möglichen Assoziationen, Bedeutungen, Sinnschichten, die mit jeder neuen Betrachtung des Werkes aus diesem hervorgehen und seine Betrachtungsmöglichkeiten variieren und verwandeln und ihm ein quasi magisches Eigenleben verleihen – vergleichbar den aus dem Schornstein aufsteigenden und unaufhörlich bewegten Wolkenbildern, die den besonderen Zauber dieser fahrenden Maschinen ausmachten.

Was sich hier – beispielhaft am Feld der Malerei dargestellt – im Gebiet der Kunst vollzieht, das sind in gewisser Weise Umstülpungen und Umwertungen im Umgang und im Gebrauch der Kunst und ihrer jeweiligen Bedeutung.

Kunst sollte als Metamorphose betrachtet werden, als beständige Umwandlung.

Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst

Solche Umwertungen finden aber aber keineswegs nur in der Kunst oder Poesie statt. Sie sind nicht darauf beschränkt.

Auch die Wissenschaften, die Politik, das Wirtschaftsleben sind genauso davon betroffen, allerdings häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch hier treten neben den angepeilten und kontrollierten Effekten von Entscheidungen und Maßnahmen zuhauf überraschende Wendungen und Neubewertungen auf – die wiederum erst kreative Räume im wissenschaftlichen und technischen, im politischen und wirtschaftlichen Raum öffnen. Als Beispiel sei hier eine neuere Umwertung genannt, von der wir alle unvermeidlich betroffen sind: die von den Wolken zur Cloud.

Wie dargestellt galten Wolken aufgrund ihrer Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit über Jahrhunderte Sinnbild der Unsicherheit, des Ungefähren, des Gefahrbringenden (etwa von Gewitter und Sturm) sowie des selbst Gefährdeten und vollkommen Unbeständigen.

Doch nun, mit der Ausweitung des neuen, von Menschen geschaffenen digitalen Raums hat sich mit dem Bild und der Bedeutung der Wolke eine bemerkenswerte Transformation vollzogen. Nun wird sie – auf Englisch, der globalen Universalsprache und in den generell umfassenden Konzepte bezeichnenden Kollektivsingular überführt – als „Cloud“ zum Sinnbild der Sicherheit, der Bewahrung, der Kontinuität, der Verfügbarkeit und des permanenten Zugriffs auf alles, was unter dem Begriff Daten zusammengefasst wird.

Das wiederum kann inzwischen wohl tatsächlich alles sein, was sich Menschen ersonnen haben. Sobald irgendeine Manifestation davon für die Speicherung auf digitalen Geräten erzeugt oder dort eingespeist wird, transformiert der Akt der digitalen Speicherung diese in das unendlich gleichmachende Rauschen von Nullen und Einsen, so einzigartig und unvergleichlich ein einzelner Mensch oder eine Sache, eine Idee oder ein Programm oder was auch immer sein mag.

Und immer mehr dieser für einzelne Menschen oder Gruppen oder die gesamte Menschheit bedeutenden und wertvollen Daten werden von ihnen nun dieser Cloud anvertraut. Was für eine Vorstellung bei genauerer Betrachtung – ausgerechnet die Wolke wird auserkoren als Inbegriff der Bewahrung, Sicherheit und Dauerhaftigkeit.  Ausgerechnet sie soll uns als stets verfügbarer, zuverlässiger Speicherraum unseres Wissens dienen, sie soll unsere persönlichen und gemeinsamen Schätze bewahren und Werte erhalten, sie soll zu unserem Gedächtnis werden und unser weiteres Funktionieren sichern sowie unserem Leben die Zukunft.

Damit wird sie zu einem Teil von uns, einem Teil unseres Denkens, unseres Gehirns. Und hier trifft sich wiederum dieser aktuelle Trend mit den ältesten mythologischen Vorstellungen des Menschen – denn einst, in der nordischen Mythologie, ging man davon aus, dass die Wolken gebildet würden aus den Gehirnen der Riesen.

„Der nordischen Mythologie zufolge wurden die Wolken bekanntlich gebildet aus des Riesen Hirn. Und wahrlich, es gibt kein besser´ Sinnbild für die Wolken denn Gedanken und kein bess’res für Gedanken denn Wolken – Wolken sind ja Hirngespinste und Gedanken, was sind sie anderes? Sieh, darum wird man alles andern müde, doch der Wolken nicht…“

Søren Kierkegaard: „Das Spätjahr ist der Wolken Zeit“

Und heute bildet die Cloud für uns ein Riesenhirn – und tatsächlich sind sich ja Hirn und Wolke in ihren gerundeten Formen morphologisch ähnlich – und das führt uns zum Schluss, der im Zitat eines berühmten Bonmots des dadaistischen Künstlers Francis Picabia bestehen soll, Dieser konstatierte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ – So bleibt mir hier zum Schluss also nur noch, allen beim weiteren Denken und Betrachten eine gute Kurvenlage zu wünschen.

Anmerkung: 
Dieser Essay geht zurück auf die Keynote zur Eröffnung der zweiten Ausstellung Kunst am Campus ebenfalls mit dem Titel „Von Wolken und Maschinen“ am Hochschulstandort Tuttlingen der Hochschule Furtwangen University am 22.03.2016, mit Werken aus Kursen der Jugendkunstschule Zebra in Tuttlingen – Eine großartige Initiative, die technische Ausbildung und freies kreatives Gestalten junger Menschen zusammenbringt.
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Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Fortsetzung
– II –
Was sind Wolken?

Zum  vorhergehenden Teil geht es hier: 
Was ist eine Dampflokomotive?

So vielfältig, wie sie in Erscheinung treten, so unterschiedlich lassen sich Wolken beschreiben oder definieren. In ihrer Eigenschaft als Naturereignisse betrachtet, können sie zunächst beschrieben werden als Phänomene natürlicher Transformationen, für deren Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsbild physikalische Gegebenheiten wie verschiedene Gemengelagen von Luft, Wasser, Temperatur, Höhenlage etc. eine Rolle spielen.

Diese natürlichen Verwandlungsphänomene vollziehen sich kontinuierlich in wechselnden Geschwindigkeiten und Intensitäten, aber stets – sofern man nicht eine höhere steuernde Macht voraussetzt – ohne eigentlichen Zweck und jegliches Ziel.

Aufgrund dieser nicht zielgerichteten und unvorhersehbaren Transformationen standen Wolken seit jeher für das Ungefähre, das Ungreifbare, das Geheimnisvolle. Von daher bildeten sie stets Projektionsflächen und Assoziationspunkte für die menschliche Vorstellungskraft.

So wie der Nachthimmel mit zahllosen Figuren bevölkert wurde, indem sinnhafte Beziehungen zwischen den Sternen gestiftet worden sind, so regen auch die permanent neu entstehenden Formationen von Wolken immer wieder aufs Neue dazu an, Figuren und Bilder darin zu sehen. Wie aus den Sternbildern glaubten Menschen auch in Wolkenbildern Bedeutungen und Zeichen erkennen zu können. Etwa das Wetter vorhersehen oder gar Vorsehungen ableiten zu können.

„Die menschliche Phantasie hat den Himmel lebendig gemacht, hat ihn mit Gestalten und Figuren bevölkert…“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 25

Wobei der wesentliche Unterschied zwischen den Sternbildern und Wolkenbildern nicht aus den Augen verloren werden darf. Sterne sind für die menschliche Wahrnehmung statisch und dauerhaft, es sind für sie Fixpunkte, weshalb sie sich zur Orientierung eignen und Sternbilder unveränderlich erscheinen. So sind sie Sinnbilder für die stabile und sinnhafte Ordnung des Kosmos geworden.

Ganz anders die Wechselhaftigkeit der Wolken. Sie bringen unablässig wechselnde Bilder hervor, die sich in kürzester Zeit wieder verflüchtigen, um andere aufscheinen zu lassen. Sie steigen auf und sinken herab wie phantastische Welten. Wolken eignen sich daher in besonderer Weise als Metapher für die permanente – damit aber auch unterschwellig beunruhigende – Veränderlichkeit der Natur an sich.

Weil sie sich jeglicher Fixierung entziehen, schienen Wolken einer wissenschaftlichen Beschreibung lange Zeit nicht zugänglich – doch wie so oft in der Menschheitsgeschichte half eines Tages ganz schlicht die genaue Beobachtung der für jeden sichtbaren Phänomene durch ein einziges aufmerksames Individuum der Menschheit auf die Sprünge:

Im Dezember 1802 stellte der junge und damals noch vollkommen unbekannte britische Meteorologe Luke Howard seine Klassifikation der Wolkenformen vor. Mit dem von ihm vorgeschlagenen Beschreibungssystem von Wolken fand er höchste Beachtung, und es hatte durchschlagende Wirkung.

Noch heute bildet seine Klassifikation die Grundlage zur Bezeichnung und wissenschaftlichen Beschreibung von Wolken – natürlich modifiziert und weiter ausdifferenziert. Die von ihm gewählten Begriffe für die Wolken sind bald Gemeingut geworden. Stratus, Cumulus oder Cirrus oder Nimbus sagen nicht nur Meteorologen etwas.

Diese Bezeichnungen allerdings beschreiben bei Howard keine festgelegten Einheiten, sie definieren nicht eine spezifische Seinsweise seines Untersuchungsgegenstandes. Es sind Begriffe, die dazu verhelfen sollen, mit Worten die Erscheinungsformen dieser Phänomene in Bewegung zu fassen! Deshalb nennt er seinen Aufsatz auch: „On the modification of clouds“ – damit verweist er schon im Titel auf das zentrale Moment der Transformation.

Howard „gestand den Wolken ihre Mobilität zu, statt zu erwarten, dass sie der Wissenschaft zu Gefallen still hielten“, schreibt dazu der Wissenschaftshistoriker Richard Hamblyn in seinem erhellenden Buch Die Erfindung der Wolken. Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmesl erforschte, Insel Verlag 2001 (S. 141). Indem Luke Howard anerkannte, dass Auflösung und Entstehung eines sind, konnte er das Phänomen neu definieren, als „eine Serie von sich selbst auflösenden Vergänglichkeiten“ (S. 142).

Was heute als naheliegende Schlussfolgerung aus den Beobachtungen erscheinen mag, markiert historisch einen epochalen Schritt. Denn genau darin – in der Betonung des Ereignishaften und der permanenten Transformation – liegt das Besondere an Howards Vorgehen und Ergebnis. Dies war es, was ihm die Bewunderung einer ganzen Epoche einbrachte.

„Die Modifikation der Wolken war ein bedeutender neuer Gedanke, der die Zuhörer regelrecht überwältigte“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 48

Howard formulierte seine Thesen in einer Zeit, in der Wolken auch in der Dichtung und Malerei allgemein ein herausragendes Thema waren. Dieser Zusammenhang gehört zu den häufig zu beobachtenden Konjunkturen in der Geschichte menschlicher Entdeckungen und Erfindungen, Fantasien und Fiktionen. Wolken hatten Eigenschaften, die in dieser Zeit sowohl das wissenschaftliche Interesse auf sich zogen als auch die schöpferische Imagination befeuerten:

Der Dichter Samuel Taylor Coleridge wohnte Howards Vortrag bei, um, wie er sagte, „seinen Vorrat an Metaphern zu erweitern.“ Nicht zuletzt hat Johann Wolfgang Goethe ihm mit „Howards Ehrengedächtnis“ einen ganzen Gedichtzyklus gewidmet, der dessen Wolkennamen Cirrus, Stratus, Cumulus, Nimbus aufnimmt.

Zahlreiche Maler wie John Constable und Alexander Cozens suchten nach adäquaten malerischen Formen zur Darstellung der Wandelbarkeit der Wolken – und hier trat zum ersten Mal in der Kunstgeschichte der frei schwebende, hingeworfene Fleck in den Fokus einer systematischen bildnerischen Ästhetik, der es nicht mehr um die Fixierung von Formen ging, sondern um die Verbildlichung der dynamischen Prozesse in Natur und Kunst als solcher. Ein einziger Blick auf das Gemälde Rain, Steam and Speed von William Turner offenbart die explosive Wucht dieses Prozesses.

Joseph Mallord Wiliam Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 121,8 cm. National Gallery, London

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Luke Howard wie die unterschiedlichen poetischen und malerischen Werke führen vor Augen, wozu eine genaue Beobachtung fähig ist, wie sie Ordnungsprinzipien und Wandlungsprozesse scheinbar chaotischer Erscheinungsformen aufdecken und anschaulich machen kann.

Gleichzeitig wird deutlich wie das Zusammenspiel von forschender Naturbeobachtung, schöpferischer Phantasie und menschlicher Kreativität wissenschaftliche Erkenntnis befördert, neue ästhetische Prinzipien und Formen ermöglicht und technische Erfindungen hervorbringt. Aus dieser Perspektive ist es kein Zufall, dass zu Beginn eben des Jahres 1802, in dem Howard die Erkenntnisse seiner Naturbeobachtungen präsentierte, der englische Ingenieur Richard Trevithick die erste Lokomotive der Welt zum Patent anmeldete und zum Laufen brachte.

Das allgemein um sich greifende Interesse für die Beobachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen, das sich in all diesen Entwicklungen manifestiert, ist selbst wiederum exemplarischer Ausdruck des fundamentalen Epochenwandels von der Neuzeit zur Moderne – einer neuen Zeit, für die nicht mehr die statische Ordnung der Sternbilder als Sinnbild taugt, sondern die rasante Wandelbarkeit der Wolken.

Fortsetzung folgt hier:  III – Kunstvolle Verwandlungen

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Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Gustav Kampmann: Eisenbahn am Abend, um 1895, Lithographie

– I –

Was ist eine Dampflokomotive?

Meine Kindheitserfahrungen unterscheiden sich – was niemanden wundern wird – wie die aller älteren und mit mir Gleichaltrigen in einigen Dingen von der jungen Generation, die jetzt aus der Schule kommt und in die Ausbildung geht, ein Studium beginnt, direkt in das Berufsleben einsteigt oder auch einen völlig anderen Lebensplan verfolgt.

In meiner Kindheit und Jugend gab es nur drei Fernsehprogramme. Deren Sendezeit begann ab etwa 17 Uhr und sie endete mit dem Sendeschluss nach Mitternacht. In den vielen Stunden dazwischen konnten wir uns ausführlich der Betrachtung des Testbilds hingeben, allerdings nur solange wie der dazugehörige Testton auszuhalten war (für all jene, die noch keine Gelegenheit dazu hatten, hier ein exemplarisches Testbild).

Es gab zwar die ersten Personal-Computer, doch kaum jemand in unserem Umfeld hatte davon genauere Kenntnis oder besaß gar einen. Die ersten Geräte dieser Art, die ich persönlich zu sehen bekam, waren ein ZX 81 und ein Commodore 64, die in der Oberstufe von Schulkameraden in den Physik-Unterricht mitgebracht wurden. Erst im Studium lernte ich den Umgang damit und erwarb meinen ersten eigenen Computer (auf Empfehlung meines besten Freundes einen, auf dem ein buntes Äpfelchen als Logo angebracht war).

Schließlich fand sich auch, gegen Ende meines Studiums, das Internet ein. Es gäbe noch einiges mehr aufzuzählen, ich möchte hier aber nur noch von einer Sache sprechen: Durch meine Kindheit fuhren alltäglich noch Dampflokomotiven.

Das war damals etwas sehr Aufregendes für uns Kinder. Ganze Nachmittage verbrachten wir damit, im Gras am Bahndamm sitzend auf den nächsten Zug zu warten, damit dieser dann wie all die anderen zuvor mit großem Lärm und dem charakteristischen rhythmischen Stampfen über uns hinweg stob.

Wir legten uns so nah wie möglich an die Gleise, und fest ins Gras gepresst, den Kopf hochgestreckt konnten wir so, da bei der Dampflok die Maschinerie außen sichtbar liegt, genau das Zusammenspiel des heftig und präzise treibenden Gestänges mit den gleichmäßig rollenden Rädern sehen. Drüber der dunkelschwarze Leib aus dem sich wiederum ein zumeist weißes und zunächst schmales, dann sich mit der Höhe ausbreitendes und farblich reicher schimmerndes Gewölk erhob.

Manchmal ging es steil, fast stehend nach oben, manchmal schien es schräg hinterhergezogen und einige Male sank es, dunstig und grau, aschenartig auf uns herab – dann rannten wir schnell raus aus der dunklen Wolke, weil das nicht ganz geheuer war.

Unter all dem, was mich damals faszinierte, ist mir immer besonders der immense Kontrast zwischen dem, was sich da ganz unten abspielte und dem, was sich da oben ereignete, in lebhafter Erinnerung geblieben.

Dass die Lokomotive einen Zug hinter sich zog und mit ihm Menschen von einem Ort an einen anderen – was schließlich der Zweck ihrer ingeniösen Konstruktion und das Ziel ihres Einsatzes war – kam mir kaum in den Sinn.

Hätte mich jemand gefragt, was eine Dampflokomotive ist, ich hätte geantwortet:
Eine Maschine zur Herstellung von Wolken.

– Fortsetzung folgt hier: Was sind Wolken?