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Den Atem anhalten

Nicolas Poussin: Die Pest von Ashdod, um 1630, Öl auf Leinwand, 148 x 198 cm, Detail, Musée du Louvre, Paris

Den Atem anhalten – was zunächst sachlich verstanden, nichts anderes bedeutet, als die physische Atemtätigkeit für einige Sekunden einzustellen, wird als etablierte Redewendung meist im übertragenen Sinne verwendet: als Aufforderung an eine andere Person, sich nicht derart über etwas erregen. Gerne auch alternativ formuliert mit den Worten: „Halt’ die Luft an!“

Seit dem letzten Frühjahr hat diese Wendung unvermutet eine weitere Bedeutung erhalten: Um die Ausbreitung von Covid-19, zu vermeiden, der Krankheit, die von einem neuen Corona-Virus ausgelöst wird, werden Menschen dazu verpflichtet, Mund und Nase mit Masken zu bedecken. Damit soll der freie Fluss der Atemluft blockiert werden, im wörtlichen Sinn, der Atem angehalten werden. Masken für den Atemschutz gibt es schon länger. Bisher dienten sie durchgehend dazu, den Menschen beim Einatmen zu schützen. Jetzt wird die Barriere insbesondere gegen die ausgeatmete Luft aufgerichtet.

Die ausgestoßene Atemluft in dieser Weise anzuhalten, ist ein für die Gemeinschaft vitaler sozialer Akt. Gleichzeitig aber hat diese Maßnahme erhebliche Auswirkungen auf unser Sozialleben und die Kommunikation – vor allem die nonverbale, die aufgrund der Masken massiv behindert wird.

Auf einer anderen Ebene vollzieht sich damit zugleich eine menschheitsgeschichtlich gravierende Umkehrung in unserem Verhältnis zum Atem. Bisher galt: Atem spendet und erhält Leben, das macht ihn aus. Was atmet lebt und es lebt nur solange es atmet. Die verbreitete Sorge, dass der Atem Krankheiten übertrage, ist von der modernen Medizin der Welt des Aberglaubens zugeschlagen worden. Nun aber bestätigt sie sich. Denn die Atemluft gilt als größter Risikofaktor für die Übertragung der neuen Krankheit. Der lebensspendende und lebenserhaltende Odem kann tatsächlich krank machen, er mutiert zur Todesgefahr.

Atemluft-Schutzhüllen für das Spielen der Querflöte vom US-amerikanischen Hersteller McCormick, vorgestellt in der Zeitschrift Sonic. Sax and Brass, 6, 2020, S. 12

Damit wird der Atem selbst als Thema höchst akut.

Es ist immer wieder erstaunlich, in welcher Weise manchmal Ideen und Themen, die einem über längere Zeiträume so interessant, bedenkenswert und wichtig erscheinen, dass man Material dazu sammelt und Projekte darüber konzipiert, mit der Zeit wachsende Aufmerksamkeit gewinnen oder plötzlich unvermutete und bedrängende Aktualität bekommen. Die künstlerische Beschäftigung mit dem Atem ist für mich seit langem eines dieser Themen – eines, für das ich dementsprechend die Realisierung als Ausstellungs- und Publikationsprojekt ins Auge gefasst habe und weiter verfolge.

Was den Atem – neben seinen existenziellen und daher auch symbolischen Bedeutungen wie seinem funktionellen Gebrauch, etwa in der Musik (Blasinstrumente) – für die Bildende Kunst besonders interessant macht, ist der Umstand, dass er üblicherweise unsichtbar ist. Allein schon ihn sichtbar zu machen, ist also eine künstlerische Herausforderung. Das gilt insbesondere für das statische Bild in Zeichnung und Malerei.

Im Zeitbild der Film- und Videokünste gilt zwar dieselbe Herausforderung für den Atem als solchen. Doch unmittelbar veranschaulichen lässt sich der Akt des Atmens, in dem das unablässige und mal mehr, mal weniger stetige Einholen und Herauslassen der Luft den atmenden Organismus bewegt. Im Tonfilm (wie in den akustischen Künsten) kommt die Aufnahme der Atemlaute hinzu.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), um 1570/72, Öl auf Leinwand, 60,5 x 50,5 cm, Museo e Real Bosco di Capodimonte, Collezione Farnese, Neapel,
Foto: Lucio Romano

Das Museo di Capodimonte in Neapel beherbergt ein kleines Gemälde, in dem es offensichtlich genau darum geht: Den unsichtbaren Atem anschaulich zu machen und zugleich sein lebensspendendes Wesen mit den Mitteln der Malerei vor Augen zu führen. Es stammt von El Greco (1541–1614) und zeigt einen Jungen, der in der einen Hand einen glühenden Holzscheit hält und in der anderen eine Kerze. Er ist dabei diese anzuzünden, indem er Kerzendocht und Glut aneinanderhält und gleichzeitig seine Atemluft darauf bläst.

Sowohl motivisch als auch kompositorisch handelt es sich um ein Bild von höchster Konzentration und Genauigkeit. Der Blick des Jungen ist auf den glühenden Holzscheit gerichtet. Seine Pupillen sind unter den gesenkten Lidern bei genauem Hinsehen erkennbar. In dieselbe Richtung zielt er mit dem Strom des Atems, den er durch die schmale Öffnung seiner Lippen schickt. Um der Luft genug Tempo und Druck mitzugeben, hat er die Lippenmuskeln angespannt und zugespitzt, so dass sie sich zu einem roten Rund formen.

Die konzentrierte Spannung, mit der er dies tut, drückt sich auch in der Kontraktion der Nasenflügel und den leicht angehobenen Augenbrauen aus. Sie zielt darauf, das rechte Maß zu finden, damit die Glut ausreichend angefacht, das entstehende Feuer aber nicht gleich wieder ausgeblasen wird. All diese Details, in denen unmittelbar spürbar wird, wie der Junge seinen Atem kontrolliert, sind mit großer Genauigkeit wiedergegeben.

Leicht oberhalb der Bildmitte in die Mittelachse gesetzt, bildet der Mund des Jungen kompositorisch den Mittelpunkt des Bildes. Der Rotton der Lippen korrespondiert mit der Röte der Glut. Dort tritt der Luftstrom hervor, hier trifft er auf sein Ziel. Alles fokussiert sich auf diesen Punkt, in dem der Blick, der Atem, die Spitze vom Docht der Kerze und die brennende Glut des Holscheits in den haltenden Händen zusammentreffen.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), Detail

Hier liegt der Brennpunkt der innerbildlichen Dramaturgie, der Punkt, an dem sich alles weitere entzündet, was dieses Bild ausmacht. An dieser Stelle kulminiert der – mit Lessing gesprochen – fruchtbare Augenblick der Darstellung, in dem sich Weltschöpfung und Verwandlung ereignen.

Unsichtbares wird sichtbar gemacht – neben dem Atem, der hier veranschaulicht wird, gilt dies auch für die dargestellte Szene selbst. Der Atemstrom bringt die glimmende Glut zum Leuchten und so erst das Licht ins Dunkel, in dem sonst nichts zu sehen wäre. Mit dem Licht entsteht die Wärme – anschaulich im reichen Schimmern der warmen Gelb-Orange-Rosa-Rottöne. Es ist keine Frage, dass damit in einem christlichen oder zumindest mit der christlichen Offenbarung vertrauten Umfeld, die Assoziation mit der göttlichen Weltschöpfung evoziert wird: Es werde Licht.

Zugleich findet in der Szene eine Verwandlung des Lichtes statt – vom vorübergehenden Aufflackern der Glut, die nur bei kraftvollem Luftstrom aufscheint, in das dauerhaftere Leuchten der Kerzenflamme, für das ein starker Luftstrom eine Gefahr darstellt, die es zum Erlöschen bringen kann.

Die Verwandlung von etwas Momentanem in etwas Beständiges bildet überhaupt ein zentrales Motiv dieses Werkes. Es ist ein Augenblicksbild, das lauter flüchtigen Elementen – der Kontraktion der Gesichtsmuskeln, dem dadurch bewirkten Atemstrom, der Geste der Hände, der Berührung von Scheit und Docht, dem Lichtschein der Glut, dem fließenden Wachs – Beständigkeit verleiht.

Dies geschieht mit den Mitteln der Malerei.

Im Medium der Malerei werden sie alle transformiert, indem sie – im wörtlichen Sinn – materialisiert werden. Besonders anschaulich gelingt dies dem Maler in der Erfassung des an sich körperlosen Lichts. Je lichter die Stellen im Bild, desto deckender und pastoser der Farbauftrag. Dieser ist für sich selbst ein bemerkenswertes Ereignis in diesem Gemälde. Es ist geradezu verblüffend, mit welch lockerem Pinselstrich all die präzisen Details – wie z. B. die gespitzten Lippen – gemalt sind.

Mit diesem Gemälde demonstriert El Greco die Macht der Malerei (und mithin des Malers, der sie beherrscht und zum Ausdruck bringt), Licht werden zu lassen, Dinge lebendig erscheinen zu lassen sowie dem Augenblick Dauer zu verleihen. Er zeigt, sie kann – in bezwingender Weise – den Atem anhalten.

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Kunstgeschichte

Zwischen Triumph und Desaster

Max Beckmann: Selbstbildnis mit Sektglas, 1919, Öl auf Leinwand, 1919, 65,2 x 55,2 cm, Städel Museum Frankfurt a.M.
© CC BY-SA 4.0

Max Beckmann
Zwei Selbstbildnisse
Zwei Museumserwerbungen
– II –

Zwei bedeutende Selbstbildnisse von Max Beckmann haben vor Wochen ihre endgültige Bleibe in zwei öffentlichen Museen gefunden. Darüber ist ausgiebig berichtet worden. In diesem Blog ist dazu auch schon ein Beitrag mit Überlegungen zu den musealen Rahmenbedingungen der beiden Erwerbungen erschienen. Er findet sich hier.

Bemerkenswerte Zusammenhänge finden sich allerdings nicht nur im Hinblick auf den musealen Aspekt der Erwerbungen. Sie sind auch thematisch aufs Engste verbunden. Es handelt sich bei diesen beiden Gemälden von Max Beckmann um zwei herausragende Selbstbildnisse. Herausragend sind sie – neben ihrer künstlerischen Qualität allein schon deshalb, weil Beckmann seiner jeweiligen Lebenssituation in ihnen exemplarisch bildlichen Ausdruck gegeben hat.

Diese könnten kaum gegensätzlicher sein. Gleitet in der vergleichenden Betrachtung der beiden Selbstbilder der Blick vom Selbstbildnis Florenz aus dem Jahr 1907 zum Selbstbildnis mit Sektglas von 1919, dann offenbart sich darin drastisch Beckmanns abrupter Wandel seiner Lebenswirklichkeit vom Triumph zum Desaster.

Das erste Selbstbildnis malte Max Beckmann während seines halbjährigen Aufenthaltes als Stipendiat in der Villa Romana in Florenz. Frontal ausgerichtet, den betrachtenden Blick mit dem eigenen – leicht herablassend – direkt erwidernd, im schwarzen Anzug ein Mann von Welt, selbstgewiss und lässig mit der Zigarette in der Hand.

Max Beckmann: Selbstbildnis Florenz, 1907, Öl auf Leinwand, 98 x 90 cm, Hamburger Kunsthalle
Foto: Hamburger Kunsthalle, Elke Walford

Wie in diesem Selbstbildnis spricht sich in seiner Malerei und seinen überlieferten Äußerungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg das unerschütterliche Selbstbewusstseins einer Künstlerpersönlichkeit aus, die von sich selbst überzeugt ist und die angemessene Anerkennung gefunden hat. Dieser Beckmann begibt sich im Herbst 1914 als freiwilliger Sanitätssoldat in den Krieg.

„Ich hoffe noch viel zu erleben und bin froh.“

Max Beckmann in einem Brief aus dem Feld an seine Frau Minna Tube, 14.09.1914

In seinen ersten Wochen erlebt er diesen Krieg noch in einem pathetischen Überschwang, der ihn in Briefen schreiben lässt von „verzauberten und glühenden Dingen“, vom „wunderbar großartigen Geräusch der Schlacht“. An dieser selbst nahm er aber nicht teil, er war als Sanitärsoldat hinter der Front stationiert. Er hofft auf reiche künstlerische Beute, gleichwohl spürt er die Ambivalenz dieser gesteigerten Erregung: „Für mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbequemes. Hier kriegt meine Kunst zu fressen.“ (Brief an Minna Tube, 18.05.1915)

Doch schon bald hatte der Krieg ihm derart viel zu Fressen gegeben, dass sein Maul gestopft war und er den Fraß nicht mehr verdauen konnte. Im Juli 1915 folgte der Nervenzusammenbruch. Erschüttert und gebrochen beginnt der Kriegsversehrte als Maler noch einmal ganz von vorne. Zuerst versucht er, sich das Grauen der Kriegshölle von Leib und Seele zu malen.

Was diese aus ihm gemacht hat, offenbart ein Blick auf sein Selbstbildnis mit rotem Schal von 1917 und der Vergleich seiner Auferstehungsbilder. Die erste Auferstehung entstand davor, 1908–1909. Mit der zweiten Auferstehung, die er 1916 begonnen hat, ist er nie fertig geworden. (Alle drei Gemälde befinden sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart.)

Von dieser Katastrophe ist das Selbstbildnis mit Sektglas ebenfalls noch vollständig durchdrungen. Wieder der Mann von Welt, im Anzug und mit Zigarre. Doch jetzt klemmt – offensichtlich um Jahre gealtert – der Herr im Anzug sitzend zwischen Stuhl und Tisch, eingezwängt und zusammengefaltet, verspannt, verkrampft, die Gesichtszüge entgleist – und noch konterkariert vom Durchblick auf eine hämische Fratze dahinter.

„In a while will the smile on my face turn to plaster, Stick around while the clown who is sick does the trick of disaster.”

Neil Young: Mister Soul, 1966

Champagnerflasche und das gefüllte überschäumende Glas scheinen von einem Anlass zum Feiern zu erzählen, doch welcher könnte das sein, angesichts der zynischen Verbitterung, die aus dem Bild spricht, außer jenem, schlicht überlebt zu haben.

Im Zuge der Regeneration gewinnt er wieder Kraft und Zutrauen, was wiederum schnell in künstlerischen Ambitionen und realisierten Werken zum Ausdruck kommt. Er entwickelt einen dynamisch vitalen Individualstil, in dem er bevorzugt komplexe erzählerische und symbolische Kompositionen gestaltet – so wie mit Vorliebe schon in seinem Frühwerk.

Ein Aspekt seines Werkes wird von nun an allerdings eine völlig andere Grundlage und Dringlichkeit haben: Der katastrophische Zug, der in den frühen Werken seinen thematischen Neigungen und Interessen entspricht ohne selbst in irgendeiner Weise davon betroffen zu sein, wird nun – und im Erleiden der späteren Grausamkeiten Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg – zum unmittelbaren Zeugnis der eigenen bedrohten Existenz. Sein individuelles Schicksal wird zum exemplarischen Ausdruck der Lebenswirklichkeit im katastrophischen 20. Jahrhundert.