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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt

Max Beckmann: Königinbar, 1920, Abbildung im besprochenen Band, S. 100

Petra Kipphoff zeichnet ein Portrait des Künstlers als Autor
– II –

Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt, Teil 1
Wörter in Bildern

Schrift – als lesbares Zeugnis der Welt und als gestalterisches bildnerisches Element – gehört zu den markanten Gestaltungsmitteln in Beckmanns Malerei, stellt Petra Kipphoff in ihrem Essay fest: „Immer wieder tauchen auf den Bildern von Max Beckmann Buchstaben, Wortfetzen, einzelne Wörter, Zeilen, Noten oder ganze Schriftseiten auf, die auf ein Buch, eine Institution, eine Zeitung, ein Hotel, eine Champagnermarke hinweisen.“ (S. 10)

Ausgiebig schildert sie Beckmanns Gebrauch des Wortes in seinen bildnerischen Werken und erläutert, wie sehr insbesondere diese Schriftelemente zur Verankerung des Geschehens in der „Realität des zeitgenössischen Alltags“ (S. 13) eingesetzt werden.

Zur Sichtbarkeit der Welt gehört für den Maler auch immer schon die Lesbarkeit der Welt, sowohl im übertragenen Sinn als auch im Wörtlichen. Der Maler Beckmann schildert als genauer Beobachter die sichtbare Welt und zu dieser gehört auch die Wirklichkeit des Wortes und dessen Materialisierung in den diversen Textmedien. Sehen und Lesen gehen befruchtend und bereichernd ineinander und bilden gleichermaßen Quellen und Motive in seiner Malerei.

Der Maler als Leser

Wie seine Bilder sind Beckmanns Texte voller literarischer Anspielungen und Verweise. In ihnen offenbart er sich als intensiver Vielleser. „In der Biographie keines anderen Künstlers gibt es wohl so zahlreiche und kontinuierliche Hinweise auf eine so vielfältige Lektüre.“ (S.27)

„So ist es, meine Seele ist vollständig verseucht durch Lesen. Sie hat ihre Keuschheit verloren.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, Eintrag vom 15. oder 16. April 1904

Seine persönliche Bibliothek, die er selbst im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, umfasste in den letzten Jahren etwa 600 Bücher. Ihre Zusammenstellung gibt seine Interessen und literarischen Neigungen klar zu erkennen. Neben literarischen Werken finden sich hier Publikationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten, Natur- und Geisteswissenschaften sowie insbesondere der Philosophie und der Theosophie.  

Seinem im bildnerischen Werk allgegenwärtigen und von Kipphoff gleich zu Beginn ihres Essays herausgestellten „Hang zum Drama“ entsprechend, finden sich hier die großen Epen und Dramen der antiken Literatur, darunter Homer, Aischylos, Sophokles, ebenso wie die Stücke von William Shakespeare. Tatsächlich hat er daraus zahlreiche unmittelbare Anregungen für Themen und Motive und seinen Gemälden gefunden, insbesondere für seine großen Triptychen.

Wie für seine Altersgenossen spielten für Beckmann die philosophischen Schriften Schopenhauers und Nietzsches eine wichtige Rolle  – die er allerdings mit merklicher Distanz und zeitweiliger Ironie aufnimmt und entsprechend ausgiebig kommentiert – sowie die damals wirkungsmächtigen theosophischen Schriften der Okkultistin Helena Blavatsky, denen sich Beckmann ausgiebig widmete, allerdings – und das ist das Erstaunliche, wie Kipphoff zu Recht hervorhebt – ohne dass diese Lektüren Eingang in sein Schreiben gefunden hätten oder in irgendeiner Weise nachweisbar in seine Bildwelt eingedrungen wären.

Im Bund mit Titanen

Unter den literarischen Autoren bilden die Werke von Jean Paul mit 21 Titeln den größten Bestand in Beckmanns Bibliothek. Diese Vorliebe konstatiert Kipphoff mit einiger Verblüffung: „…aus der eigenen Zeit gefallen scheint er mit seiner Leidenschaft für Jean Paul…“ (S. 37)

Auf Jean Paul nimmt Beckmann im Unterschied zu Blavatsky in seinen Tagebüchern und Briefen häufig Bezug, und er verschafft dessen Themen und Motiven auch Auftritte in seinem bildnerischen Werk. So platziert Beckmann dessen großes Romanepos Titan auffällig in seinem Strandbild Badekabine (grün) von 1928. In anderen Werken finden sich in Bildaufbau, Themen und Motiven zahlreiche Anspielungen zu Jean Paul, besonders deutlich im Schauspieler-Triptychon, das Beckmann 1941–1942 im Amsterdamer Exil gemalt hat.

Max Beckmann: Badekabine (grün), 1928, Öl auf Leinwand   70,6 x 85,7 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne München, © CC BY-SA 4.0

Beckmanns Vorliebe für Jean Paul steht exemplarisch für sein gesamtes literarisches Interesse. Er begeistert sich für Werke, in denen die Protagonisten für das Erreichen ihrer Ambitionen äußerliche Hindernisse überwinden und innerlich mit sich selbst ringen müssen. Werke, die sich durch Vielstimmigkeit ihrer Figuren ebenso auszeichnen wie durch ihre jeweils eigene Mischung von Humor und Heiterkeit, von Absurditäten und Abgründen. Werke, in denen genaue Beobachtung und überbordende Fantasie zu gleichem Recht kommen.

Wie in der Kunst sucht er hier in großen Epen, Dramen und Romanen das Schauspiel des Lebens zu fassen. Und dementsprechend liebt er Romane, die all dies vereinigen, wie die von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, von Fjodor Dostojewski und Gustave Flaubert, von Joseph Conrad und Thomas Wolfe. Allesamt Autoren, denen selbst eine prometheische Vermessenheit, ein geradezu titanisches Streben nach Größe eigen ist.

Die literarischen Vorlieben Beckmanns lassen sich in einem Satz von Kipphoff zusammenfassen: „Auch in den wörtlichen Bildern hat Beckmann eine Vorliebe für das Grandiose, dazu noch das Phantastische.“ (S. 68)

Dieser Satz stimmt genauso für seine Lektüren wie für seine eigene Art zu schreiben, die Kipphoff mit diesen Worten charakterisiert. Immer wieder steigen neben nüchternen Schilderungen und schlichten Beobachtungen bewegte Bilder auf, lebhaft erzählt, dramatische Szenen mit phantastischen Motiven, mal poetisch, mal drastisch, mal grotesk. In seinen Tagebücher und Briefe findet sich eine Fülle solcher Szenen.

Krasse Dramen

Das gilt auch für seine literarischen Dichtungen. In den zwanziger Jahren schrieb er das Schauspiel Das Hotel und die Komödie Ebbi, für Kipphoff „zwei krasse kleine Dramen“, in denen er sich den Abgründen der Gesellschaft zwischen Luxus und Elend, Vergnügen und Verbrechen annimmt, also genau jenen Themen, die auch sein bildnerisches Werk beherrschen.

„Ich liebe das Erhabene und das Lächerliche. Das Normale und das Groteske. Jede Form des Lebens, denn meine Sehnsucht ist, etwas Lebendiges zu machen.“

Max Beckmann in seinem Beitrag zur Umfrage „Das neue Programm“ der Zeitschrift Kunst und Künstler, Nr. 12, 1914, zit.n. Kipphoff, S. 47

Wobei Kipphoff zum Schluss kommt, dass Beckmanns Darstellungen in Bildern denen im Text überlegen sind, dass „der Künstler dieses Kräftemessen mit dem Autor gewinnt.“ (S. 70) Außerdem bleibe in allem Literarischen und auf alles Literarische der Blick des Malers beherrschend. Genauso wie in der Wahrnehmung der Dramen des Lebens. Kipphoff zeigt, wie Beckmann „im Text immer auch als Maler reagiert“. (S. 75)

Artist und Schauspieler

Der Maler wiederum agiert durchgehend als Dramatiker. Die Welt ist für Max Beckmann eine Bühne, auf der das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird. Seine Sehnsucht etwas Lebendiges zu machen realisiert der Maler Max Beckmann als Autor von Bühnenstücken in Bildern. Hier vollzieht sich das menschliche Schicksal als Rollenspiel, mal als Tragödie, mal als Komödie, mal als Farce, mal als Zirkusnummer in der Manege.

Der Künstler Beckmann versteht sich dabei nicht als Regisseur oder Zirkusdirektor, der hinter der Bühne das Regime führt, er sieht sich selbst als Figur in diesem Spiel. Als Artist oder Schauspieler seiner selbst tritt er in seinen zahlreichen Selbstbildnissen in seinem Werk auf. Allein oder im Ensemble spielt er in wechselnden Kulissen die unterschiedlichsten Rollen in den kleinen und großen Dramen des Lebens.
Kipphoffs eindringlicher Essay vermittelt das Bild eines Künstlers, dessen gesamtes Weltverständnis theatralisch ist und der seinen Ausdruck dafür gleichermaßen in sprachlichen wie in bildnerischen Gestaltungsformen sucht.

Das Mysterium des Raums

Wobei für Beckmann das Bild dem Text gegenüber einen entscheidenden Vorzug hat: Theater und Zirkus, Bühne und Manege werden in ihm nicht nur metaphorisch zu evoziert. Das Bild macht sie in ihrer Eigenschaft als real existierende Räume anschaulich, in denen das Schauspiel des Lebens aufgeführt wird.
Damit kommt hier die Dimension ins Spiel, die für Beckmanns Welt- und Kunstverständnis fundamental ist: der Raum.

„Zeit ist eine Erfindung der Menschen, Raum ist der Palast der Götter.“

Max Beckmann: Drei Briefe an eine Malerin, 1948, zit. n. Kipphoff, S. 113

Der Raum ist für ihn die unfassbare Realität, der jede Erscheinung, jedes Erleben zugrunde liegt: „Raum, dessen wesentliche Bedeutung identisch ist mit Individualität, oder das, was die Menschen Gott nennen. Denn im Anfang war der Raum, diese unheimliche und nicht auszudenkende Allgewalt.“ Dieses Mysterium des Raumes sinnlich erlebbar und begreifbar zu machen, darin besteht für Beckmann das besondere Vermögen des Bildes.

Berufung und Bekenntnis

Für Max Beckmann besteht die große Herausforderung und der Auftrag des bildenden Künstlers wiederum darin, diese Wirklichkeit des Raumes als Lebenswelt in den verschiedenen Bildmedien – Malerei, Zeichnung, Graphik – zu erfassen und darzustellen.

Die Darlegung seiner Raumauffassung und der daraus resultierenden künstlerischen Notwendigkeiten bildet eine der zentralen Passagen seines 1948 gehaltenen Vortrags Drei Briefe an eine Malerin.
Wie in diesem Vortrag hat Max Beckmann sich seit seinen künstlerischen Anfängen immer wieder öffentlich zu Fragen der Kunst allgemein geäußert, zu ihrer Rolle und der des Künstlers in der Gesellschaft Stellung bezogen und über seine Malerei und sich selbst Auskunft gegeben – mal aus eigenem Antrieb, mal weil er darum gebeten wurde. Seine persönlichen künstlerischen Ansichten hat er von Beginn an mit Nachdruck öffentlich gemacht.

Auf diese programmatischen Selbstäußerungen Beckmann geht Kipphoff entsprechend in mehreren Kapiteln ausführlich ein. Dabei macht sie auch deutlich, dass er bei aller Selbstbefragung im Persönlichen in der Darlegung seiner künstlerischen Überzeugungen weder Zögern noch Zweifel kennt:
„Was Beckmann programmatisch schreibt und vorschreibt, ist so rigide wie autoritär.“ (S. 55) – Das lässt sich allerdings von ziemlich allen avantgardistischen Künstlern und ihren Manifesten sägen lässt. Hier fügen sich Beckmanns Bekenntnisse und programmatische Texte vollständig in den Kontext der zahllosen künstlerischen Manifeste der Zeit.

„Max Beckmann war immer ein dezidierter Einzelgänger mit einer deutlich artikulierten Meinung.“

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber, S. 19

Völlig richtig verweist sie zunächst darauf, dass Max Beckmann in seinen frühen Jahren „in totaler Gegnerschaft zu fast allen Künstlern“ stand, die den überkommenen Realismus ablehnten und – unter dem Banner der Abstraktion – die Kunst von ihren bisherigen Traditionen, Formen und letztlich der sichtbaren gegenständlichen Welt als Grundlage loslösen wollten. (S. 42)

Die Abstraktion im Sinne ungegenständlicher Kunst blieb ihm stets fremd, da für ihn der Mensch und sein Schicksal im Zentrum alles Strebens und Wirkens stand, weil dazu unverzichtbar auch der Raum gehörte, in dem sich alles Menschliche ereignet, und weil für ihn im Sichtbaren sich das Mysterium des Unsichtbaren offenbart.

Realität, Lebendigkeit, Raum, Individualität, Seele – das sind die Schlagwörter, die sich als Leitmotive durch seine schriftlichen Stellungnahmen ziehen. Wie bei Beckmann aus dem Eintauchen in diese Dimensionen der Existenz und des Menschlichen für ihn schließlich – durchaus in paradoxer Weise – die Transzendenz hervorgeht, die dem Kunstwerk erst Gültigkeit und Dauer verleiht, schildert Kipphoff in ihrem Essay eingehend.

„Ferne Zukunft? Gegenwart will ich, was sonst.“

Max Beckmann: Randbemerkung zu Friedrich Nietzsche: Zarathustra, zit. n. Kipphoff, S. 34

Wirken mit Worten

Angesichts des von Kipphoff geschilderten Umfangs und der Bedeutung der Schriften von Max wäre es sehr verwunderlich, wenn sie – wie es in der Ankündigung der Publikation heißt – , bisher kaum Beachtung gefunden hätten.

Im Gegenteil: Beckmann selbst hat zahlreiche Schriften schon zu Lebzeiten veröffentlichen lassen. Der größte Teil seiner überlieferten schriftlichen Äußerungen ist postum sukzessive publiziert worden.
Zudem sind einige Dokumente und Schriften wiederholt in Ausstellungskatalogen abgedruckt oder ausgiebig zitiert worden. Vor allem aus Anlass des 100. Geburtstags von Max Beckmann im Jahr 1984 wurden Bücher mit seinen Schriften erstmals veröffentlich oder neu aufgelegt.

Sowohl aus der Darstellung wie aus den herangezogenen Quellen wird in Kipphoffs Buch ersichtlich, dass Beckmanns schriftliche Zeugnisse seit jeher fester Bestandteil der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit ihm und der Würdigung und Interpretation seines künstlerischen Werkes gewesen sind. Wie mit seinen bildnerischen Werken hat Max Beckmann mit seinen Schriften und öffentlichen Reden anhaltende Resonanz gefunden.

Mit ihrem Buch hat Petra Kipphoff als Erste die Schriften Max Beckmanns in den Fokus gerückt und sie in ihrer besonderen Eigenart gewürdigt. In ihrem feinsinnigen Essay führt Kipphoff nachdrücklich vor Augen, wie essentiell für Beckmann das Schreiben und das Gestalten in Worten waren, als Instrumente der Selbstverständigung und als schöpferische Ausdrucksmittel.

Buch Cover Beckmann Schreiber

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber.
Springe: zu Klampen 2021
128 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86674-805-7
Preis 20,- € Hardcover, 15,99 € E-Book
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Buchvorstellung Kunstgeschichte

Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt

Max Beckmann: Selbst im Hotel, Blatt 1 der Mappe Berliner Reise, 1922
Abbildung im besprochenen Band, S. 100

Petra Kipphoff zeichnet ein Portrait des Künstlers als Autor
– I –

Durchdrungen von einer Stimmung des Aufbruchs und Neuanfangs suchten junge Künstlerinnen und Künstler in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nach neuen Ausdrucksformen. Mit ihnen etablierte sich eine künstlerische Avantgarde, der es nicht mehr darum ging, die Welt darzustellen, so wie sie war mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten, oder so wie sie ist, in ihrer Wirklichkeit im Hier und Jetzt.

Nein, sie zielte auf die Zukunft. Mit einer neu zu erschaffenden Kunst sollte auch die neue Gesellschaft gestaltet und den einzelnen Menschen eine neue, bessere Welt ermöglicht werden.

Dieser universelle Anspruch musste genauso begründet werden wie die damit neu entstehenden bildnerischen Formen und ihre Grundlagen, umso mehr, je deutlicher sich diese von bisherigen künstlerischen Ausdrucksformen unterschieden.

Es ging letztlich darum, sich selbst und anderen gegenüber zu erklären und sich zu vergewissern, und damit die jeweils eigene Legitimation als Künstler oder Künstlerin zu erbringen, sei es für sich alleine oder in einer Gruppe mit Gleichgesinnten.

Daraus ergab sich die enorme, ja explosive Zunahme schriftlicher Äußerungen bildender Künstler und Künstlerinnen, die zu den auffälligsten Entwicklungen der Kunst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehört. Das Zeitalter der Avantgarde ist auch die Ära der künstlerischen Bekenntnisse und Manifeste.

Max Beckmann, 1884 in Leipzig geboren und 1950 in New York gestorben, gehört unter den Künstlern dieser Generation zu jenen, die besonders viel geschrieben haben und darin Wesentliches zu ihrem bildnerischen Werk hinzugefügt haben. Dazu gehören insbesondere Tagebücher, umfangreiche Briefkorrespondenzen, programmatische Texte über Kunst und Künstlerschaft sowie dramatische Texte für die Bühne.

Diesem schriftlichen Kosmos des Künstlers widmet sich die Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin Petra Kipphoff in ihrem Buch Max Beckmann. Der Maler als Schreiber, das im November im Verlag zu Klampen erschienen ist.

Selberlebensbeschreibungen – Tagebücher und Briefe

Auswahl von Archivalien aus der Schenkung der Max Beckmann Nachlässe, Max Beckmann Archiv, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
© Bayerische Staatsgemäldesammlungen

„Max Beckmann, der Maler, Zeichner und Graphiker war auch ein lebenslanger Schreiber, ein vielfältiger und eigensinniger Autor“, stellt Kipphoff gleich eingangs fest – und dies zuallererst und am umfassendsten in Tagebüchern und Briefen, die bei ihm „von einer Kontinuität und Intensität sind, die sich wie von selbst zu einem Roman in eigener Sache, zu einem autobiographischen Drama fügen“ (S. 7).

„Ich glaube, dass ich alles erreichen werde, was ich will. Alles. Nur weiß ich nicht bestimmt, ob ich mich immer darüber freuen werde.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, München/Zürich: Piper 1984, S. 10. Erstausgabe Berlin: Bruno Cassirer 1916

Max Beckmann führte Tagebuch von seiner Jugendzeit bis zum Tag vor seinem Tod. Das früheste der von seiner Hand erhaltenen Tagebücher setzt am 14. August 1903 ein und schon in den ersten Zeilen der Eintragungen beginnt das von Kipphoff konstatierte „autobiographische Drama“. Denn sein Nachdenken über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt und zur Kunst ist von Anfang an durchwirkt von seinen Gefühlen zu Minna Tube, die er 1902 als Kommilitonin in Weimar kennengelernt hatte und 1906 heiraten sollte.

Das Selbstgespräch im Tagebuch spiegelt den persönlichen und künstlerischen Austausch zwischen ihnen und das Auf und Ab der Beziehung mit den Sehnsüchte und schönen Erwartungen, den Spannungen und Enttäuschungen. Beckmann kann nicht damit umgehen, dass sie sich ihre eigene Selbständigkeit bewahrt und offenbar nicht gewillt ist, diese für ihn aufzugeben. Er fühlt sich geliebt, aber nicht genug, vor allem letztlich wohl nicht bedingungslos, nicht absolut genug.

In seinen Notizen wechseln sich Zweifeln und Hadern ab mit klarer Entschiedenheit und einer mal trotzig klingenden, mal arrogant wirkenden Selbstgewissheit. Sie kommt in zahlreichen apodiktischen Statements zum Ausdruck, die neben seinen Tagebüchern auch seine Briefe sowie die programmatischen Äußerungen und öffentlichen Stellungnahmen als Künstler charakterisieren werden.

„Ich kann keine Kompromisse vertragen.“

Max Beckmann: Frühe Tagebücher, S. 9.

Wie in seinen Tagebüchern vermittelt der junge Beckmann in seinen Briefen das Bild eines Menschen, der sich dem intensiven Erleben der Welt hingeben will, der davon emotional bewegt und ergriffen wird, der zwischen guten und schlechten Gefühlen, zwischen Gewissheiten und Zweifeln hin und her gerissen ist — der aber letztlich unerschütterlich ist in seinem Überzeugungen und im Kern unberührt bleibt, wie tiefgreifend und einschneidend seine Erlebnisse und Erfahrungen auch sein mögen.

Markantes Zeugnis dieser Haltung sind seine Briefe aus dem Ersten Weltkrieg. Dass diese für ihn mehr waren als private Mitteilungen für seine Frau Minna, an die sie ursprünglich gerichtet waren, belegt der Umstand, dass diese zwischen September 1914 und Juni 1915 geschriebenen Briefe schon 1916 im Verlag Bruno Cassirer in Berlin veröffentlicht worden sind.

Beckmann begibt sich erlebnishungrig und frohgemut mit offenen Augen und empfänglichen Sinnen in das Abenteuer des Krieges. Knapp, aber lebendig schildert er Atmosphärisches und Stimmungen, Begebenheiten unterschiedlichster Art, mal amüsant, mal grotesk, sowie die Ereignisse und Erfahrungen des Krieges.

In den Schilderungen von Verletzten und Sterbenden zeigt er sich berührt und mitfühlend, und von den Grausamkeiten des Krieges „berichtet er in seinen Briefen mit einer gnadenlosen Genauigkeit“ (S. 19). Doch stets schreibt er davon so, als zeichne er nur sachlich auf, was um ihn herum geschieht – distanziert, mit oft spöttischen Zwischentönen oder ironischen Nachsätzen, so dass der Eindruck entsteht, ihn könne all dies nicht wirklich etwas anhaben.

Selten das Eingeständnis wirklich angegriffen zu sein, wie im Mai 1915: „Albert Weisgerber im Westen gefallen. Es hat mich sehr erschüttert. Auch daß es mir noch immer so gut geht. R. schrieb sehr traurig.“ (Brief vom 19.05.1915)

Tatsächlich aber ging es ihm gar nicht mehr so gut. Nirgends in den Briefen lässt er durchscheinen, wie der Krieg ihn selbst angriff, wie nahe er ihm ging und er dem Zusammenbruch war, der im Juli 1915 sein Kriegsabenteuer beenden sollte, das aus dem jungen Künstler einen anderen Menschen gemacht hatte.

„Ich habe gezeichnet. Das sichert gegen Tod und Gefahr.“

Max Beckmann: Brief an MInna Beckmann-Tube, 3. Oktober 1914, in: Max Beckmann: Briefe im Kriege, München: Piper 1984, S. 13

Aufmerksam folgt Kipphoff den Kontinuitäten und Wandlungen von Duktus und Tonfall in den Aufzeichnungen der Tagebüchern und seinen Briefen. Schön die Ausführungen über das „Dreibuchstaben-Nichtwort“ „tja“ und den Einsatz der in den späten Tagebüchern und Briefen häufig verwendeten Punktfolgen und Gedankenstriche. Kipphoff versteht das Wörtchen „tja“ wie auch die Gedankenstriche als Markierungen eines Innehaltens, als „Pausenzeichen“.

Wo der junge Beckmann offensichtlich den Eindruck vermitteln will, sich von nichts aufhalten zu lassen und zu allem etwas zu sagen zu haben und letztlich immer schon Bescheid zu wissen, hat sich beim älteren das Drängen gelegt. Ohne meinen zu müssen lässt er den Moment gewähren und gibt selbst der Sprachlosigkeit Raum.

Fortsetzung hier: 
Lebensdramen – von Max Beckmann in Wörtern gemalt, Teil 2
Buch Cover Beckmann Schreiber

Petra Kipphoff: Max Beckmann. Der Maler als Schreiber.
Springe: zu Klampen 2021
128 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86674-805-7
Preis 20,- € Hardcover,
15,99 € E-Book
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Jahrestag Kunstgeschichte

Logenplatz Weltuntergang

Max Beckmann: Die Loge, 1928, Öl auf Leinwand, 121,2 x 84,8 cm, Staatsgalerie Stuttgart.
© CC BY-SA 4.0

Zum Geburtstag von
Max Beckmann
(12. Februar 1884)

Das Datum des heutigen Tages, 12.02.2021, weist eine Eigentümlichkeit auf, die besonders geeignet ist, sich dem Werk von Max Beckmann zuzuwenden, der an diesem Tag vor 137 Jahren in Leipzig geboren wurde: Von vorne wie von hinten gelesen ergeben die Ziffern dieselbe Folge und mithin dasselbe Datum. Es ist – bildlich gesprochen – ein Spiegeldatum (in Bezug auf die schriftliche Zahlenfolge bezogen wird dies als Palindrom bezeichnet).

Max Beckmann hat sich in seinem Werk einen eigenen Kosmos aus Mythologie und Geschichtserfahrung geschaffen, in dem Spiegelungen jeglicher Art, als Vorstellung oder Idee, als Thema und Motiv, eine herausragende Rolle spielen, wie jetzt leicht im Werkverzeichnis zu sehen ist. Wie wohl kein anderer und keine andere unter den großen künstlerischen Individuen des 20. Jahrhunderts versteht er das gemalte Bild als eine Bühne, als ein imaginiertes Theater, auf dem von den großen Gefühlen und Dramen des Menschen, seinen Leidenschaften und Katastrophen erzählt wird.

Die Abstraktion im Sinne ungegenständlicher Kunst blieb ihm fremd, da für ihn der Mensch und sein Schicksal im Zentrum alles Strebens und Wirkens stand – dazu gehörte für ihn unverzichtbar auch der Raum, in der sich alles Menschliche ereignet – und der für ihn ein großes Mysterium darstellte. Diesen Raum im Medium der Malerei erst zu schaffen, ihn als Lebenswelt im Bild zur Wirkung zu bringen, darin sah Beckmann die eigentliche Aufgabe und Fähigkeit künstlerischen Abstraktionsvermögens.

„Es handelt sich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen, und diese Realität in Malerei zu übersetzen. – Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. – Das mag vielleicht paradox klingen, – es ist aber wirklich die Realität – die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!“

Max Beckmann: „Über meine Malerei“, Rede gehalten in der Ausstellung Twentieth Century German Art in den New Burlington Galleries, London, 21.07.1938

Seine Karriere begann Beckmann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Berlin, wo er kraftstrotzend und voller Selbstbewusstsein als junger Maler mit höchsten Ambitionen die Bühne der Öffentlichkeit betrat. Die schnell wachsende Anerkennung bestärkte ihn zusätzlich. Das Selbstbildnis mit Zigarette, das er 1907 als Stipendiat der Villa Romana in Florenz gemalt hat, zeugt ebenso davon wie die Themen und Dimensionen seiner Werke.

Figurenreiche Großformate, die sich ebenso klassischen Geschichten der Historienmalerei widmen – etwa Sintflut, 1908, oder Amazonenschlacht, 1911 – wie aktuellen Ereignissen – so Szene aus dem Untergang von Messina, 1909 (durch ein Erdbeben – siehe dazu: Drama am Ätna), oder Untergang der Titanic, 1912.

Anlass von großen Dramen und Katastrophen zu erzählen, sollte er zeitlebens genug finden – und wie ungeheuerlich manche sein würden, davon hatte der kühne Kunstjüngling genauso wenig eine Vorstellung wie alle anderen. Noch ahnte er nicht, dass er zu jener Generation in Deutschland gehören wird, in deren Lebenszeit die drei größten Katastrophen des Jahrhunderts sich ereigneten – die beiden Weltkriege und die Nazi-Diktatur,  die ihn wie so viele andere Menschen zwang, das Land zu verlassen, weil sie aufgrund ihrer Herkunft, ihres jüdischen Glaubens, ihrer politischen Haltung oder ihres Wirkens bedroht oder verfolgt wurden.

„Das Leben ist immerhin schwierig, ich glaube diese Neuigkeit dürfte nun doch schon allgemein bekannt sein.“

Max Beckmann: „Über meine Malerei“

Als er dies im Jahr 1938 sagte, stand das Schlimmste für ihn und die meisten anderen noch bevor. Genau ein Jahr zuvor war er mit seiner Frau Mathilde, genannt „Quappi“, gleich nachdem sie Adolf Hitlers Rede zur Eröffnung der Femeschau „Entartete Kunst“ gehört hatten, aus Berlin nach Amsterdam geflohen, wo sie beide bis Kriegsende im Exil leben sollten.

Max und Quappi Beckmann überlebten Exil und Krieg, hatten stets Freunde und Unterstützer, die ihnen in kritischen Situationen während dieser Zeit halfen und auch in der Zeit danach, als es galt, noch einmal neu anzufangen. Sie unternahmen diesen Neuanfang in den Vereinigten Staaten. Dort organisierten Freunde Ausstellungen mit seinen Werken und sie verhalfen ihm zu Lehraufträgen an amerikanischen Kunsthochschulen.

In kaum mehr als zwei Jahren lehrte er – einmal quer durch die USA – an der Washington University Art School in St. Louis, der Kunstschule der Universität in Boulder, Colorado, dem Mills College in Oakland, California, sowie der American Art School und Brooklyn Museum Art School in New York.

Der kunsthistorische Rang seiner Malerei war inzwischen international unbestritten. Seine wichtigsten Werke haben bald den Weg in die großen Museen Europas und der USA gefunden.

Beckmann hatte seit Kriegsende mehrere Berufungen von deutschen Kunsthochschulen erhalten, die er sämtlich ablehnte. Er lebte zuletzt in New York und sollte Deutschland bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1950, im Alter von 66 Jahren, nicht mehr betreten.

„Die neue Idee, die der Künstler und mit ihm zu gleicher Zeit die Menschheit zu formen hat, ist Selbstverantwortung.“

Max Beckmann: „Der Künstler im Staat“, in: Europäische Revue, Nr. 3, 1927, S. 288
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Kunstgeschichte

Zwischen Triumph und Desaster

Max Beckmann: Selbstbildnis mit Sektglas, 1919, Öl auf Leinwand, 1919, 65,2 x 55,2 cm, Städel Museum Frankfurt a.M.
© CC BY-SA 4.0

Max Beckmann
Zwei Selbstbildnisse
Zwei Museumserwerbungen
– II –

Zwei bedeutende Selbstbildnisse von Max Beckmann haben vor Wochen ihre endgültige Bleibe in zwei öffentlichen Museen gefunden. Darüber ist ausgiebig berichtet worden. In diesem Blog ist dazu auch schon ein Beitrag mit Überlegungen zu den musealen Rahmenbedingungen der beiden Erwerbungen erschienen. Er findet sich hier.

Bemerkenswerte Zusammenhänge finden sich allerdings nicht nur im Hinblick auf den musealen Aspekt der Erwerbungen. Sie sind auch thematisch aufs Engste verbunden. Es handelt sich bei diesen beiden Gemälden von Max Beckmann um zwei herausragende Selbstbildnisse. Herausragend sind sie – neben ihrer künstlerischen Qualität allein schon deshalb, weil Beckmann seiner jeweiligen Lebenssituation in ihnen exemplarisch bildlichen Ausdruck gegeben hat.

Diese könnten kaum gegensätzlicher sein. Gleitet in der vergleichenden Betrachtung der beiden Selbstbilder der Blick vom Selbstbildnis Florenz aus dem Jahr 1907 zum Selbstbildnis mit Sektglas von 1919, dann offenbart sich darin drastisch Beckmanns abrupter Wandel seiner Lebenswirklichkeit vom Triumph zum Desaster.

Das erste Selbstbildnis malte Max Beckmann während seines halbjährigen Aufenthaltes als Stipendiat in der Villa Romana in Florenz. Frontal ausgerichtet, den betrachtenden Blick mit dem eigenen – leicht herablassend – direkt erwidernd, im schwarzen Anzug ein Mann von Welt, selbstgewiss und lässig mit der Zigarette in der Hand.

Max Beckmann: Selbstbildnis Florenz, 1907, Öl auf Leinwand, 98 x 90 cm, Hamburger Kunsthalle
Foto: Hamburger Kunsthalle, Elke Walford

Wie in diesem Selbstbildnis spricht sich in seiner Malerei und seinen überlieferten Äußerungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg das unerschütterliche Selbstbewusstseins einer Künstlerpersönlichkeit aus, die von sich selbst überzeugt ist und die angemessene Anerkennung gefunden hat. Dieser Beckmann begibt sich im Herbst 1914 als freiwilliger Sanitätssoldat in den Krieg.

„Ich hoffe noch viel zu erleben und bin froh.“

Max Beckmann in einem Brief aus dem Feld an seine Frau Minna Tube, 14.09.1914

In seinen ersten Wochen erlebt er diesen Krieg noch in einem pathetischen Überschwang, der ihn in Briefen schreiben lässt von „verzauberten und glühenden Dingen“, vom „wunderbar großartigen Geräusch der Schlacht“. An dieser selbst nahm er aber nicht teil, er war als Sanitärsoldat hinter der Front stationiert. Er hofft auf reiche künstlerische Beute, gleichwohl spürt er die Ambivalenz dieser gesteigerten Erregung: „Für mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbequemes. Hier kriegt meine Kunst zu fressen.“ (Brief an Minna Tube, 18.05.1915)

Doch schon bald hatte der Krieg ihm derart viel zu Fressen gegeben, dass sein Maul gestopft war und er den Fraß nicht mehr verdauen konnte. Im Juli 1915 folgte der Nervenzusammenbruch. Erschüttert und gebrochen beginnt der Kriegsversehrte als Maler noch einmal ganz von vorne. Zuerst versucht er, sich das Grauen der Kriegshölle von Leib und Seele zu malen.

Was diese aus ihm gemacht hat, offenbart ein Blick auf sein Selbstbildnis mit rotem Schal von 1917 und der Vergleich seiner Auferstehungsbilder. Die erste Auferstehung entstand davor, 1908–1909. Mit der zweiten Auferstehung, die er 1916 begonnen hat, ist er nie fertig geworden. (Alle drei Gemälde befinden sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart.)

Von dieser Katastrophe ist das Selbstbildnis mit Sektglas ebenfalls noch vollständig durchdrungen. Wieder der Mann von Welt, im Anzug und mit Zigarre. Doch jetzt klemmt – offensichtlich um Jahre gealtert – der Herr im Anzug sitzend zwischen Stuhl und Tisch, eingezwängt und zusammengefaltet, verspannt, verkrampft, die Gesichtszüge entgleist – und noch konterkariert vom Durchblick auf eine hämische Fratze dahinter.

„In a while will the smile on my face turn to plaster, Stick around while the clown who is sick does the trick of disaster.”

Neil Young: Mister Soul, 1966

Champagnerflasche und das gefüllte überschäumende Glas scheinen von einem Anlass zum Feiern zu erzählen, doch welcher könnte das sein, angesichts der zynischen Verbitterung, die aus dem Bild spricht, außer jenem, schlicht überlebt zu haben.

Im Zuge der Regeneration gewinnt er wieder Kraft und Zutrauen, was wiederum schnell in künstlerischen Ambitionen und realisierten Werken zum Ausdruck kommt. Er entwickelt einen dynamisch vitalen Individualstil, in dem er bevorzugt komplexe erzählerische und symbolische Kompositionen gestaltet – so wie mit Vorliebe schon in seinem Frühwerk.

Ein Aspekt seines Werkes wird von nun an allerdings eine völlig andere Grundlage und Dringlichkeit haben: Der katastrophische Zug, der in den frühen Werken seinen thematischen Neigungen und Interessen entspricht ohne selbst in irgendeiner Weise davon betroffen zu sein, wird nun – und im Erleiden der späteren Grausamkeiten Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg – zum unmittelbaren Zeugnis der eigenen bedrohten Existenz. Sein individuelles Schicksal wird zum exemplarischen Ausdruck der Lebenswirklichkeit im katastrophischen 20. Jahrhundert.

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Museum

Zwischen Triumph und Desaster

Pressekonferenz zur Neuerwerbung
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main, Norbert Miguletz

Max Beckmann
Zwei Selbstbildnisse
Zwei Museumserwerbungen
– I –

Gute Nachrichten aus der Museumswelt kann es allein angesichts der verordneten Schließungen im Zuge der Pandemie-Bekämpfung zur Zeit kaum geben. Von laufenden Ausstellungen und ihren Besuchszahlen, die normalerweise die mediale Berichterstattung bestimmen, gibt es nichts zu vermelden. Umso erfreulicher, dass im Abstand von nur wenigen Wochen das Städel Museum in Frankfurt und die Hamburger Kunsthalle jeweils einen bedeutenden Zuwachs für ihre Sammlungen verkündet haben.

Erfreulich schon deshalb, weil so deutlich wird, dass hinter den Kulissen in den Museen nicht weniger los ist als zu Öffnungszeiten und weil der Fokus auf die Museumssammlungen selbst, auf die zentralen musealen Aufgaben des Sammelns, Bewahrens und Erforschens der Kunstwerke gelegt wird – ohne die wiederum keine vernünftige Ausstellung zu denken ist.

Bemerkenswert an den aktuellen Meldungen sind die Gemeinsamkeiten und die Beziehungen zwischen den Werken und den Umständen, unter denen diese nun endgültig in die öffentlichen Museen aufgenommen werden konnten.

Beide Gemälde sind von Max Beckmann. Der 1884 in Leipzig geborene und 1950 im Alter von 66 in New York gestorbene Maler, Zeichner und Grafiker gehört zu den großen singulären Gestalten der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die meisten seiner wichtigen Werke haben Eingang in die großen Museen Europas und der USA gefunden. Nicht viele davon sind noch in Privatbesitz.

Bei den Erwerbungen beider Museen handelt es sich um Selbstbildnisse des Künstlers. In der Reihenfolge der Neuerwerbungen: Das Selbstbildnis mit Sektglas von 1919 für das Städel in Frankfurt und das Selbstbildnis Florenz von 1907 für die Hamburger Kunsthalle.

Beckmann gehört zu den Künstlerinnen und Künstlern, für die die Selbstbefragung im Medium der eigenen Malerei herausragende Bedeutung hat. Entsprechend wichtig und begehrt sind seine Selbstbildnisse. Entsprechend teuer sind sie am Kunstmarkt. (Zwei prominente Beispiele sind: Selbstbildnis mit Glaskugel von 1936, im Jahr 2005 für € 13 Mio. € ($ 16.8 Mio.) und Selbstbildnis mit Horn von 1938, im Jahr 2014 für € 25,3 Mio. ($ 22,6 Mio.) versteigert, jeweils bei Sotheby’s).

Entsprechend schwer ist es, eines für ein öffentliches Museum zu gewinnen. Wie schwer, das zeigen weitere Gemeinsamkeiten der Umstände, die diese Erwerbungen erst möglich gemacht haben:

Beide Museen verfügen über einen bedeutenden Bestand an Werken von Max Beckmann, in den sich diese Gemälde inhaltlich bestens einfügen. Beiden Häusern waren die Selbstbildnisse schon seit vielen Jahren als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt und so auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden – im Städel seit 2011, in der Hamburger Kunsthalle sogar seit 1991.

Dieser Umstand und die daraus erwachsene Verbindung sowohl der Werke als auch ihrer Eigentümer*innen zum jeweiligen Museum und seinen Verantwortlichen war eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Erwerb. Denn die Museen verfügen nicht über die finanziellen Mittel, Werke dieser Art am Kunstmarkt zu erwerben.

Das wurde auch eigens thematisiert: Beide Häuser haben in Ihren Verlautbarungen betont, dass die Eigentümer*innen ihnen beim Verkaufspreis außerordentlich entgegengekommen sind. Am freien Markt würde der Preis für die Werke im zweistelligen Millionenbereich liegen. Im Städel, das sich nicht zum Ankaufspreis äußerte, hieß es nur, er liege „deutlich unter“ dem zu erwartenden Marktpreis, in Hamburg wurden € 4 Mio. als Ankaufspreis genannt.

Trotz des Entgegenkommens waren beide Museen darauf angewiesen, für den Ankauf von verschiedenen Seiten Förderung zu erhalten. Zum Frankfurter Ankauf trugen bei: die Bundesregierung, die Ernst von Siemens Kunststiftung, der Städelsche Museums-Verein e.V., die aufgrund ihrer Beteiligung am Ankauf zu Miteigentümern wurden, sowie die Kulturstiftung der Länder und fünf private Spender.

„Ich bin sehr dankbar für diesen großen Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten. Nur dieses – für Frankfurt so typische – gemeinschaftliche Engagement hat es möglich gemacht, dass dieses Meisterwerk nun für immer dort bleiben kann, wo es auch entstanden ist.“

Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums

In Hamburg beteiligten sich die Stiftung Hamburger Kunstsammlungen und ebenfalls die Ernst von Siemens Kunststiftung am Erwerb, sind hier ebenfalls Miteigentümer. Unterstützt wurden sie von der Campe’schen Historischen Kunststiftung, der Kulturstiftung der Länder und der Hermann Reemtsma Stiftung.

Schließlich ist dieser Ankauf für beide Museen die jeweils teuerste Erwerbung, die sie überhaupt gemacht haben. Was noch einmal die bescheidenen Möglichkeiten der öffentlichen Museen in Deutschland verdeutlicht. Trotz ihres für deutsche Verhältnisse enormen Preises sind die Werke von Max Beckmann im internationalen Vergleich und im Verhältnis zu seiner kunsthistorischen Bedeutung geradezu günstig (man schaue sich zum Vergleich eines der aktuellen Rankings der teuersten Werke der Welt an).

Max Beckmann: Selbstbildnis Florenz, 1907, im Teppenhaus der Hamburger Kunsthalle
Foto: Hamburger Kunsthalle, Sinje Hasheider

Die Parallelität der Umstände, Ereignisse und Wege zum Erwerb dieser beiden Kunstwerke für öffentliche Museen steht also ebenso exemplarisch für deren finanzielle Situation und ihre völlig unzureichenden Ankaufsetats wie für die daraus erwachsene Förderkultur, in der die verschiedenen politischen Ebenen (Bund und Länder, Kommunen, öffentliche Körperschaften) mit öffentlichen und privaten Stiftungen (die sich entweder allgemein die Kulturförderung zur Aufgabe gesetzt haben oder sogar spezifisch die Förderung bestimmter Museen), mit den Fördervereinen der einzelnen Museen,  und schließlich engagierten Privatpersonen zusammenfinden, um es überhaupt möglich zu machen, wertvolle Kulturgüter für die Öffentlichkeit zu erhalten oder zu gewinnen.

„Das ist eine der bedeutendsten Anschaffungen für die Sammlung und ein spektakulärer Coup für die Hansestadt.“

Alexander Klar, Direktor der Hamburger Kunsthalle

Dass es häufig so gut funktioniert wie hier, ist wichtig und von großer Bedeutung für die Museen und für die gesamte Gesellschaft. Allerdings birgt gerade der Erfolg die Gefahr, dass an der strukturell ungenügende Situation der öffentlichen Kulturinstitutionen in Deutschland nichts geändert wird.

Beide Museen würdigen nun das Werk von Max Beckmann und diese Neuerwerbungen in gewichtigen Ausstellungen. Das Städel Museum zeigt mit Städels Beckmann – Beckmanns Städel. Die Frankfurter Jahre die enge Verbindung zwischen Beckmann und Frankfurt auf, wo er lange Jahre lebte, lehrte und bedeutende Werke wie das Selbstbildnis mit Sektglas schuf. (Bis 6. Juni 2021 – verlängert!)

Die Hamburger Kunsthalle widmet ihre Ausstellung Max Beckmann. weiblich – männlich den Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die in seinem Bildkosmos zum Ausdruck kommen. Es handelt sich in der Tat um ein zentrales Thema in seinem Gesamtwerk. (Bis 14. März 2021)