Kategorien
Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– III –

Links: Otto Dix: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Fritz Steisslinger: Selbstportrait, 1916, Öl/Lwd., 41,2 x 33,7 cm, Nachlass Fritz Steisslinger, Böblingen
Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich
Wissen was Weltkunst ist, Teil 2: Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

Von Künstlern im Krieg

oder vom Sieg des Extremismus über den Humanismus in der Kunst

Otto Dix wurde 1891 in Gera geboren. Er hatte schon früh ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein – legendär sein Spruch: „Entweder ich werde berühmt oder berüchtigt.“ – Ihm ist im Laufe seiner Karriere beides gelungen.

Dix wurde im August 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Ersatzreservist eingezogen, war aber erst ab Herbst 1915 an verschiedenen Fronten im Einsatz. Er bewies sich im Kampfgeschehen als überaus robust, erhielt 1915 das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde als Vizefeldwebel aus dem Krieg entlassen.

Für Dix war die Teilnahme am Krieg – wie für Max Beckmann – weniger eine patriotische Pflicht. Er verstand sie, wie er später rückblickend darlegte – vielmehr als Verpflichtung seiner Kunst gegenüber: als Herausforderung, die Welt und das Leben mit all seiner Gewalt und seinen Abgründen als Ganzes zu erleben und zu erfassen, und er versprach sich davon Impulse für die Entwicklung seiner Kunst und seiner Ausdrucksmittel. In einem späten Interview sagte er dazu:

„Der Krieg war eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen Fall versäumen. Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen […] Alles muß ich sehen. Alle Untiefen des Lebens muß ich selbst erleben, deswegen gehe ich in den Krieg, und deswegen habe ich mich überhaupt freiwillig gemeldet.“

Otto Dix, Gespräch mit Freunden am Bodensee, Dezember 1963, zit. n. Diether Schmidt: Otto Dix im Selbstbildnis, Berlin (Ost) 1978, S. 237

Die Erfahrung des Krieges verarbeitet Dix unmittelbar in seinem Werk. Stilistisch dem Expressionismus folgend, präsentiert er sich in seinem Selbstbildnis mit Artilleriehelm als eine zeitgenössische Version des Mannes mit dem Goldhelm von Rembrandt bzw. aus dessen Umkreis. Hier wie dort dominiert ein plastisch dekorierter Helm ein darunter zurücktretendes Gesicht – hier statt des alten Mannes ein Jüngling mit skeptisch fragendem Blick, steif und unsicher in der Haltung.

Die Spannung zwischen der Zurückhaltung im Habitus und der glühenden Farbigkeit mag das Schwanken des Künstlers zwischen seinem selbstgewissem individuellen Erlebenshunger und dem Unwohlsein angesichts der Unterwerfung unter ein ihm fremdes Regiment zum Ausdruck bringen – er ist hier offensichtlich nicht allein, sondern steht in einer Reihe mit anderen Soldaten.

Dieses Selbstbildnis stammt aus der Zeit des Beginns seines Militärdienstes. Einen Eindruck davon, wie es dem Künstler mit dem Krieg ergehen sollte, erhält man, wenn man das Bild umdreht und die Rückseite anschaut:

Links: Selbstbildnis mit Artilleriehelm, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, recto
Rechts: Selbstbildnis als Soldat, 1914, Öl auf Papier, 68 x 53 cm, Kunstmuseum Stuttgart, verso

Von blutroten Farbfetzen umschwirrt, den Helm abgeworfen, ohne Haare, den kahlen Schädel mit dem wulstigen Gesicht vorgestreckt, begegnet uns eine ungestüme und rohe Gestalt – des Menschlichen völlig entledigt, ein offenbar in die Enge getriebenes wildes Tier, schwankend zwischen Angst und Aggression – bedrängend selbst die wie ein Brandmal gesetzte riesige Signatur im Nacken des Künstlers. –

Insgesamt ein getreues und daher erschreckendes Abbild der Brutalität und Grausamkeit des Krieges – jenes von Dix benannten „entfesselten Zustands“, der offensichtlich die dünne Haut der Zivilisation vom animalischen Leib des Menschen gezogen hatte.

Mit den Worten von Siegmund Freud, der bis dahin dem Prozess der Zivilisation optimistisch gegenüber stand, damals wählte, um den Eindruck zu beschreiben: Die Menschen seien wohl doch

„nicht so tief gesunken, wie wir fürchteten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir von ihnen glaubten.“

Siegmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915.

Der Zerstörungstrieb, der im Chaos endet, ist überall am Werk. Er ist zugleich ein Signum der Epoche. Diese im eigenen Erleben vollständig zu erfassen, war das Ziel von Dix – und während seiner Kriegsjahre versuchte er unablässig eine bildnerische Sprache dafür zu finden. Etwa 600 Zeichnungen sind aus knapp drei Kriegsjahren überliefert. Darunter eine größere Zahl gemalter Deckfarbenbilder.

Oben links: Otto Dix: Sterbender Krieger, Gouache, 1915 – rechts: Leuchtkugeln, Gouache, 1917
Unten links: Schützengraben, Gouache, 1917 – rechts: Krieger mit Pfeife, Goouache, 1918

Im Überblick lassen sich nur wenige davon als Antikriegs-Bilder erkennen. Es scheint vielmehr so, als gebe sich Dix – ganz im Sinne seines Vorhabens – mit offenen Sinnen dem Erleben als solches hin – ohne Vorbehalt und Vorurteil – aber voller Spannung und Erregung – und diese schlägt sich unmittelbar in all seinen Blättern aus der Zeit nieder.

Die Ereignisse des Krieges ließen Dix auch nach dessen Ende lange nicht los. Im Jahr 1924 veröffentlicht er eine Folge von Radierungen mit dem Titel Der Krieg, in der er seine Erlebnisse noch einmal ausführlich verarbeitet:

Otto Dix: Der Sturmtrupp geht unter Gas vor, aus der Grafikfolge der Krieg, 1924

Die Blätter unterscheiden sich thematisch und formal deutlich von seinen Zeichnungen aus den Kriegsjahren. Für die Zeichnungen wählt er eher allgemeine Titel, wie Soldat, Volltreffer, Handgemenge, und konzentriert sich auf exemplarische Momente des Phänomens Krieg als solchem – er sieht im Besonderen Moment das Allgemein Charakteristische – und dies hilft ihm offensichtlich angesichts des Geschehens innere Distanz zu wahren.

In den Radierblättern hingegen springt einen das Einzelne, das Faktische an – sie sind dem individuellen Grauen im Kriegsgemenge viel näher, hier finden sich zerfetzte Leichen oder wurmzerfressene Kadaver – es scheint, als habe dieses in Dix nachgewirkt und er dafür erst nach längerer Zeit eine Ausdrucksform gewonnen.

Mit der Wahl seiner Motive und Formensprache schafft Dix das zeitgenössische Pendant zu den Radierfolgen mit Schrecken des Krieges von Jacques Callot aus dem Dreißigjährigen Krieg und den einhundert Jahre zuvor geschaffenen Desastres de la Guerra von Francisco Goya – womit über die biographische Stellung des individuellen Werkes hinaus explizit die historische und die kunsthistorische Dimension in die Folge einbezogen wird. Dix weist im Rückblick auf seine entscheidende Erkenntnis hin:

„Goya, Callot, noch früher Urs Graf, von ihnen habe ich mir Blätter in Basel zeigen lassen – das ist großartig… wie sich die Materie Mensch auf dämonische Weise verändert.“

Hans Kinkel: Vierzehn Berichte. Begegnungen mit Malern und Bildhauern, Stuttgart 1967, S. 75

Dix ist einer der wenigen Künstler, die auch noch Jahre später die elenden Folgen des Krieges für die kriegsversehrten Soldaten während der Weimarer Republik, am Anfang der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre drastisch thematisierte.

Links: Otto Dix: Prager Straße, 1920, Öl/Lwd., 101 x 81 cm, Kunstmuseum Stuttgart
Rechts: Otto Dix: Der Streichholzhändler, 1920, 141,5 x 166 cm, Staatsgalerie Stuttgart

Mit der Radierfolge Der Krieg und den versehrten Kriegsveteranen wird Dix zu dem Antikriegskünstler, als der er in der Folgezeit wahrgenommen wurde, der er aber in seinen Zeichnungen aus Kriegstagen noch längst nicht war.

Man muß den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen…

Interview mit Otto Dix, „Über Kunst, Religion und Krieg“, Dezember 1963

Dix gilt heute als bedeutendster Künstler zum Thema des Ersten Weltkriegs, was sowohl die Menge der Werke als auch ihre Themen und Ausdrucksmittel betrifft. Ein immenses Werk, unmittelbar, drastisch, erschreckend, grausam – ganz so wie der Krieg selbst für die Teilnehmer war.

Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Er schuf eine extreme Kunst für ein extremes Zeitalter. In beiden scheiterte die Humanität bzw. sie wurde zur Strecke gebracht. Dass er diesen Umstand so rücksichts- und schonungslos in immer neuen Variationen ausbreitet, sieht Dix selbst als sein besonderes Verdienst und gilt als herausragendes Charakteristikum seiner Kunst und macht daher in der Tat seinen historischen Rang aus.

Eine völlig andere Haltung in diesen Dingen nimmt der im selben Jahr 1891 wie Dix geborene Fritz Steisslinger mit seinem Denken und seinem Werk ein. (Ausführliche Informationen zu Leben und Werk finden sich auf www.fritz-steisslinger.de.)

Steisslinger hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Er kehrte dazu eigens aus Venedig zurück, wo er bis dahin lebte und wirkte. Er diente als Artillerist, Beobachter, Melder und Batterieführer, 1915 an der Ostfront, ab 1916 Westfront und wurde mehrmals schwer verwundet – erfuhr nach anfänglichem Optimismus die Grauen des Krieges, dieser sei:

„schrecklich […], blutig, grausam“, aber: „Am meisten ist er doch erbärmlich. Und darum eben grausig, grausig […] ein einziger Friedhof, scheußliche Katakombe. Eine Wollust des Ekels.“

Fritz Steisslinger ist – soweit bekannt – der einzige Künstler, von dem nachweislich Ölbilder aus den Quartieren und Unterständen vor Ort erhalten sind. Es handelt sich um kleine Ölstudien und Skizzen.

Links: Fritz Steisslinger: Zwei Soldaten am Ausgang eines Unterstands, um 1916/17, Öl/Lwd., 26,5 x 14,5 cm
Mitte: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl /Lwd., 10,3 x 10,4 cm
und: Zwei Kameraden am Tisch, um 1916/17, Öl/Lwd., 15 x 12 cm
Rechts: Fritz Steisslinger malt im Unterstand umringt von Kameraden, 1916, Fotografie

Über das Malen im Krieg sinniert Steisslinger in seinem Tagebuch am 5. März 1916:

„Den Tag war’s ruhig. Ich habe eine Skizze vom Unterstand gemacht, Bausch und Möbius als dekorierende Kanoniere.“

Fritz Steisslinger: Kriegstagebuch, Nachlassverwaltung Fritz Steisslinger, Böblingen

und zwei Wochen später:

„Heut Früh ein Portrait des Hauptmanns angefangen. Untermalt in einer Stunde“ und kommentiert weiter: „Gemalt, wie das klingt! Wie mitten im Frieden. Ziemlich weit bin ich gekommen und morgen früh komme ich in die Feuerstellung und der Hauptmann.“

Ebenda

Als er einige Tage später fertig ist, schreibt er:

„Portrait fertiggemacht. Danach sind sie drum herumgetanzt. Grossartig – Tadellos!“

Ebenda

In solchen privaten Äußerungen dokumentiert sich der Irrsinn dieses Krieges – aber kaum in Steisslingers Bildern – denn: das Bemerkenswerte an seinen Ölskizzen ist, dass sie keine Kampfhandlungen zeigen und keine dramatischen Ereignisse. Er malt v. a. die Kameraden und ihren Alltag beim Harren im Unterstand. Allenfalls ein „Soldat auf der Lauer“ verweist unmittelbar auf Kriegsereignisse oder einige Skizzen mit Bränden und Zerstörungen in Dörfern als Folgen des Krieges:

Oben v.l.: Fritz Steisslinger: Ruinen, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12 x 9,2 cm – Brandherd zwischen Häusern, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 12,5 x 10,6 cm – Zerstörte Häuser im Dorf, um 1916/17, Öl/Lwd./Pappe, 10,4 x 15,4 cm
Unten: Zwei Soldaten am Unterstand, um 1916, Öl/Lwd./Pappe, 13 x 24,3 cm

Ansonsten gibt es noch eine Tusche-Zeichnung zum Neujahr 1918:

Fritz Steisslinger: Ich wünsche Dir nur im Neuen Jahr, es sei nicht schlimmer als das alte war, 1917, Tusche, 9,5 x 14,4 cm

Das ist alles, ansonsten nichts vom Schrecken und Sterben im Krieg – wie es uns drastisch Dix oder Beckmann vorführen. Diese gibt es auch bei ihm, aber nur in seinem privat gebliebenen Tagebuch! Solche Schilderungen sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt – warum, das begründet er in einem Brief an seinen Sohn Hans im Zweiten Weltkrieg, in dem der Vater und seine drei Söhne, von denen er zwei verlieren sollte, dienten:

„… Wir sind zwei Kriegsgenerationen schlechthin.
Wenn ich mir in Erinnerung zurückrufe meine eigenen Bedrängnisse während des letzten Krieges (1914–1918), so kommt es mir vor, als erlebte ich nach Deinem Bericht alles nochmals.

Dabei habe ich auch in diesem Krieg wieder etwas mitgetan und viel Kampf und Elend in jeder Form erlebt. Fast 8 Jahre war ich Front- oder Kriegssoldat. […]
Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten. Ich habe es ein ganzes Leben lang niemals in seiner ganzen Nacktheit von mir gegeben – – – selbst dann nicht, wenn damit ein gewisser Eindruck zu meinen Gunsten hätte erzielt werden können.
Wie in meiner Malerei […] habe ich in jeder Hinsicht und vor allem in der als Mann, möglichst immer das gesagt und getan, was für die von mir geschützte oder gar geliebte Umwelt gerade noch erträglich sein konnte. Was unter dem Strich lag, hat mich nie interessiert.“

Brief an den Sohn Hans, 19. September 1943

Steisslinger war zwar jederzeit kompromisslos in seiner künstlerischen Haltung gewesen, doch den Zynismus der Welt im Bild zu spiegeln, ihn gar zu überzeichnen und übersteigern, wie Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz es getan haben, und die Abgründe des menschlichen Seins vorzuführen, das war ihm fremd.

Das Wesentliche alles Schrecklichen habe ich damals jedenfalls für mich behalten.

Fritz Steisslinger

Für Dix ist so etwas eine spießbürgerliche Hemmung, für Steisslinger ein Gebot der Humanität. Ein größerer Gegensatz in den Haltungen lässt sich kaum denken. Die Kunstgeschichtsschreibung ist in ihrem Urteil Dix gefolgt und hat sich bis heute mit ihm auf die Seite der extremen Entblößung extremer Gewalt geschlagen – die Diskretion, wie sie Fritz Steisslinger mit seiner Haltung und seinen Werken verkörpert, steht auf verlorenem Posten. Ein Umstand, über den sich nachzudenken lohnt.

— Fortsetzung folgt —

Kategorien
Allgemein Kunstgeschichte Zeitgeschichte

Wissen was Weltkunst ist

– II –

Links: Gabriele Münter: Selbstbildnis, 1935
Rechts: Maria Caspar-Filser: Die Malerfamilie, 1939 (Ausschnitt)
Zum vorhergehenden Teil geht es hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 1: Expressionismus im Dritten Reich

Maria Caspar-Filser und Gabriele Münter

oder vom Glück das richtige Opfer zur rechten Zeit im richtigen Umfeld zu sein sowie vom Schaden offensichtlich bürgerlicher Verhältnisse und der falschen Religion für Künstler der Avantgarde

Zwischen den beiden Weltkriegen war Maria Caspar-Filser (1878–1968) die berühmteste lebende deutsche Malerin. Die in Riedlingen im Landkreis Biberach geborene und seit 1907 in München lebende Maria Caspar-Filser zählte 1913 als einzige Frau zu den Gründungs-Mitgliedern der Münchener Neuen Secession und wurde 1925 als erste deutsche Malerin überhaupt zur Professorin ernannt – damit stand sie neben Käthe Kollwitz, die bisher als einzige Bildhauerin den Titel erhalten hatte. Es folgte die Zeit ihrer höchsten Anerkennung, mit internationalen Ausstellungen, mehreren Beteiligungen an der Biennale in Venedig.

Dann kam der Bruch durch die nationalsozialistische Verfemung, die schon 1928 einsetzte und von der sich ihre Rezeption bis heute nicht befreit hat. Stattdessen wird heute immer, wenn von großen deutschen Malerinnen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, an erster Stelle Gabriele Münter (1877–1962) genannt – wie kam es dazu und ist das berechtigt?

Zwar war Gabriele Münter vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Beteiligung an den Ausstellungen des Blauem Reiters ebenfalls mitten im Geschehen und ihr malerisches Werk der Zeit teilt in der Reduktion gegenständlicher Formen sowie dem Einsatz summarischer Farbflächen wesentliche Aspekte der Kunst dieser avantgardistischen Bewegung, doch sowohl im Hinblick auf die künstlerische Eigenständigkeit als auch im Hinblick auf die Rezeption und die Position im zeitgenössischen Kunstleben nimmt sie keine zu Maria Caspar-Filser vergleichbare Position ein.

Zu den bemerkenswerten Besonderheiten von Caspar-Filsers Werk gehören ihre Schilderungen von Szenen aus dem Krieg schon kurz nach dessen Ausbruch.

Links: Maria Caspar-Filser: Abfahrt der Freiwilligen, 1914
Rechts: Maria Caspar-Filser: Marsch durch ein brennendes Dorf, 1914

Maria Caspar-Filser beteiligte sich — einmal mehr als einzige Frau — an der Gestaltung von Mappenwerken zum Ersten Weltkrieg, deren Verkauf der Behandlung von verwundeten Soldaten und Kriegsversehrten zugute kommen sollten. Sie sind zum einen aufgrund ihrer weiblichen Autorschaft von besonderem Interesse, zum anderen aber allein wegen ihrer Motivwahl und künstlerischen Ausführung. Caspar-Filser stellt hier anonyme Menschenmassen in eine sie dominierende Umwelt – in Motiv und Gestaltung wirken diese Darstellungen aktuell und modern.

Von besonderer Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft ist das Gemälde:

Maria Caspar-Filser: Das Schlachtfeld, 1914, Öl/Lwd., 34 x 48 cm

In Duktus und Dramatik erinnert es an Ludwig Meidners Apokalyptische Visionen von 1913. Mit seiner expressiven Steigerung des Geschehens ist es ein herausragendes Bild einer Künstlerin der Zeit. Nach dem Schlachten bleibt die geschundene und getötete Kreatur in der Natur zurück. Dieses Gemälde steht in gewisser Weise in ihrem Werk wie auch in ihrem künstlerischen Umfeld absolut singulär da. Es fängt die Unmittelbarkeit der Ereignisse ein – ohne dass sie selbst vor Ort war und das Kriegserlebnis geteilt hätte.

In den hier von Caspar-Filser gezeigten Werken manifestiert sich jener Dreischritt der Kriegserfahrung, der die dramatische Entwicklung der öffentlichen Stimmung charakterisiert:
1. Umjubelter Aufbruch
2. Konfrontation mit der unerwarteten Realität
3. Desillusionierung und Schrecken

Bei Münter findet sich praktisch nichts zum Thema, allenfalls können solche Darstellungen wie die hier eingefügte Klage als Reflex dieses dramatischen und epochalen Ereignisses gesehen werden.

Gabriele Münter: Klage, 1915, Öl/Lwd., 69,4 x 48,7 cm, Privatbesitz

Vergleicht man die Landschaftsgemälde der folgenden Jahrzehnte lässt sich die malerische Überlegenheit und tiefgehendere Reife in der Gestaltung Caspar-Filsers allenthalben erkennen.

Das gilt für die Zwanziger Jahre ebenso…

Links: Maria Caspar-Filser: Sestriere, 1925 / Rechts: Gabriele Münter: Blauer See, 1925

…wie in den Jahren der Unterdrückung:

Links: Maria Caspar-Filser: Septembermond, 1935
Rechts: Gabriele Münter: Olympiastraße, 1936

…oder die Nachkriegszeit, in der sich beide nicht mehr wesentlich verändern. Für die Stillleben beider ließen sich die Vergleiche fortsetzen. Wer nicht mit dem Vorurteil, dass Naivität und Kindlichkeit grundlegende Qualitäten avantgardistischer Malerei die Werke betrachtet, wird klar erkennen, wer hier die bessere Malerin ist.

Warum aber nun hat Caspar-Filser nach dem Krieg nicht mehr die gleiche Würdigung erfahren wie Münter und die anderen Expressionisten? Dazu lassen sich mindestens folgende Gründe anführen:

Erstens wegen ihrer ästhetischen Individualität, die sich keiner Richtung oder Gruppentendenz einordnen lässt.

Mit den historischen Bewegungen des Expressionismus in Deutschland hat ihre Malerei nur wenig gemein. Sie teilt weder den absoluten diesseitigen Subjektivismus des nördlichen Expressionismus, insbesondere der Brücke-Maler, noch die transzendental-esoterische Vergeistigung einiger Expressionisten des Blauen Reiters wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc. Bei ihr findet sich weder etwas vom Pathos des Menschlichen der einen, noch vom Pathos des Geistigen der anderen.

Ihre Kunst ist überhaupt vollkommen frei von jedem Pathos (worin sie sich von der ihres Mannes unterscheidet). Alles ist verankert im sinnlichen Erlebnis der sichtbaren, gegebenen und als solcher wahrgenommenen Gegenstandswelt. Ideologie sowie jegliche Parteinahme ästhetischer oder kunstpolitischer Art sind ihr vollkommen fremd.

Damit ist der zweite der Faktoren berührt, die der Rezeption des Werkes von Caspar-Filser nach dem Zweiten Weltkrieg in der Breite entgegenstanden, wie sie anderen Vertretern ihrer Generation zuteil wurde. Denn nach dem Krieg wurden zunächst und mit besonderer Vehemenz die programmatisch enger definierten Gruppierungen und Tendenzen der Moderne und Avantgarde sowie die einzelnen Künstler, die diesen angehörten, rehabilitiert und gewürdigt. Das waren die Künstlervereinigung Brücke, die Künstler aus dem Kreis des Blauen Reiters oder die Vertreter des Bauhauses.

Künstler, die solchen Gruppierungen angehörten, erfuhren allein aufgrund dieser Zugehörigkeit höhere Aufmerksamkeit und Würdigung als Künstler derselben Generation, die keiner dieser Gruppierungen angehörten. Für die Münchner Kunstgeschichte scheint dieses Rezeptionsverhalten besonders ausgeprägt, da sich sowohl im universitären wie auch im Museumsbetrieb eine extreme Fokussierung auf das Wirken Kandinskys und des Blauen Reiters als quasi eigentlicher und einziger legitimer Vertretung einer progressiven Münchner Moderne durchgesetzt hat, obwohl sich gerade hier allerlei unterschiedliche Künstlergruppen und -vereinigungen gründeten, die sich auch in einer lebendigen und durchauskomplexen Auseinandersetzung miteinander befanden.

Drittens ist im Zusammenhang mit den Avantgarde-Bewegungen richtig festzustellen: Maria Caspar-Filser war auf den ersten Blick sicher keine Revolutionärin der Malerei. Ihr Werk entwickelte sich vielmehr in organischer Weise, was von zeitgenössischen Kritikern seit ihren Anfängen immer wieder betont wurde.

Doch ist dies im Rückblick allerdings ein Moment, das ihrer Rezeption als bedeutender Künstlerin des 20. Jahrhunderts schadet, da der kunsthistorische Blick weitgehend auf das unmittelbar offensichtliche bzw. behauptete Neue und Revolutionäre, auf die Risse und Brüche in den Werken der Künstler oder auf die Konflikte und Kämpfe der Künstler und Kunstrichtungen mit dem etablierten Kunstbetrieb, mit der Geschichte, der Politik und ihren Institutionen gerichtet ist. Davon lässt sich tatsächlich so wenig bei Caspar-Filser finden, dass sie durch das Raster dieses Blickes hindurchfällt.

Viertens widersetzt sich auch ihre Werkgestalt den noch heute gültigen ästhetischen Ideologien der wesentlichen Avantgardegruppen. Dazu sei zuerst im Vergleich mit den Künstlern des Expressionismus – hier geschehen mit Gabriele Münter – auf ihren Umgang mit Farbe verwiesen:

Exemplarisch für das gängige kunsthistorische Verständnis ist die Feststellung im Vorwort zur großen Retrospektive des Werks von Gabriele Münter 1992 in München, in dem es heißt: „…die Intensität des Blicks, die Fähigkeit zur Vereinfachung des real Gesehenen, die Arbeit allein aus Umrisslinien und flächenhafter Farbe bildeten entscheidende Elemente [ihres] Neubeginns.“

Ersteres ist eine Unterstellung, die besser zu Caspar-Filser passen würde, der Rest der Aussage gilt für einen Großteil der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, denn Vereinfachung, Umriss, flächenhafte Farbe – diese Eigenschaften finden sich in der Tat bei den Expressionisten der Brücke, des Blauen Reiters, im Bauhaus und bei de Stijl. Zu ergänzen wäre nur, dass flächenhafte Farbe zumeist auch die Tendenz zur reinen Farbe meint, zur Bevorzugung der Primär- und Sekundärfarben in der Theorie und ihrer systematischen Anwendung in der Praxis.

Allen genannten Tendenzen widersetzt sich die Malerei Caspar-Filsers. Genauer: Sie strebt kontradiktorisch in die entgegengesetzte Richtung: Zwar mag sie im Einzelnen auch Gegenstände vereinfachen, doch es ist gerade die Komplexität ihrer sinnlich-realen Erscheinung, der sich die Malerei Caspar-Filsers zuwendet.

Dazu gehört auch, dass sie den Umriss vermeidet. Er vereinheitlicht die Erscheinung der unterschiedlichsten Gegenstände formal und weist ihnen eindeutige Begrenzungen zu. Dieses Vorgehen ist Caspar-Filser vollkommen fremd. Nicht allein, dass solche Konturen einer beobachtenden Weltwahrnehmung und aus ihr entspringenden Darstellung widersprechen, sie unterwerfen die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und überbordenden Fülle einem ihr fremden Regulativ und berauben sie so ihrer Freiheit. Gleiches gilt für die Anwendung farbiger Flächen und die Theorie reiner Farben.

Mit den Farbtheorien der Avantgarde – insbesondere Kandinskys und Ittens – setzt sich eine Hierarchisierung der Farben durch, in der gemischte Farben, Nuancierungen, Schattierungen, Brechungen usw. gegenüber den reinen Farben abgewertet werden. Für Caspar-Filser existieren solche Hierarchien nicht. Sie setzt auf den Reichtum des gesamten Spektrums farbiger Gestaltung, inklusive aller gebrochenen und schmutzigen Farben.

Fünftens fehlte ihr nicht nur die richtige Künstlergruppe, sie hatte auch den falschen Partner und führte mit ihm ein für die künstlerische Reputation offensichtlich ungeeignetes Leben: Sie war mit Karl Caspar, den sie seit ihrer Kindheit kannte und zur Malerei brachte, früh verheiratet und blieb es das gemeinsame Leben lang – und sie führten ein geregeltes Leben, das bürgerlichen Vorstellungen entsprach. Ganz schlecht im Hinblick auf die Bildung attraktivitässteigernder künstlerischer Legendenbildung…

– dagegen Münter: optimal! Sie kommt mit ihrem Kunstlehrer Kandinsky zusammen, lebt mit ihm in wilder Ehe ein richtiges Künstlerleben à la Bohème, wird dann schnöde von ihm verlassen und kommt über den Verlust lange nicht hinweg. In ihrem Leid widmet sie sich ihrem Werk für das sie einige Anerkennung erhält. Am Ende zeigt sie sich großzügig und stiftet ihre und seine Werke dem städtischen Museum Lenbachhaus, das so mit einem Schlag zum Zentrum der Kunst des Blauen Reiters wird – und darauf folgt

sechstens: dass mit ihrer Stiftung an das Lenbachhaus seit den fünfziger Jahren für dieses ein vitales Interesse an ihrem Werk bestand, dessen Bedeutung es in der Folgezeit mit Ausstellungen und Publikationen massiv propagierte. So ist denn zu beobachten, dass ihr Name ungefähr ab den Neunziger Jahren in die großen Überblickskunstgeschichten Einzug hält. Ihr heutiger Ruf verdankt sich vor allem diesem Umstand.

Auf der anderen Seite lässt sich resümieren, dass der künstlerische Rang und die kunsthistorische Rezeption Caspar-Filsers in keinem Verhältnis zu ihrem derzeitigen Bekanntheitsgrad unter deutschen Kunsthistorikern und der kunstinteressierten Öffentlichkeit stehen. Seit dem Krieg ist die Kenntnis ihrer Werke auf den süddeutschen Raum beschränkt geblieben.

Hier, insbesondere in den heimischen Regionen Oberschwabens und der schwäbischen Alb, erfährt sie kontinuierliche Würdigung – aber nun als schwäbische, als eine für die Region bedeutende Künstlerin. Dass sie dies ist, steht außer Frage. Doch es bleibt die Frage, ob ihr künstlerischer und kunsthistorischer Rang darauf beschränkt bleiben darf und kann.

Die Antwort auf diese Frage kann in Anbetracht ihrer bedeutenden Rolle in der deutschen Malerei vor der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer spezifischen malerischen und ästhetischen Qualitäten nur eine sein, nämlich ein klares und vernehmliches: Nein.

Fortsetzung hier: 
Wissen was Weltkunst ist, Teil 3: Von Künstlern im Krieg

Bildnachweise:
© VG Bild Kunst, Bonn, und Archiv Haus Caspar-Filser, Brannenburg für die Werke von Maria Caspar-Filser, 2023
© VG Bild Kunst, Bonn, und Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung, München, 2023