Kategorien
Allgemein

Von Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Form-Spirit Transformation
Giacomo Balla: Transformación forma-espíritu, 1918, Casa Museo Giacomo Balla, Rom
© Public Domain

Fortsetzung

– III –
Kunstvolle Verwandlungen

Zu den vorhergehenden Teilen geht es hier:
I – Was ist eine Dampflokomotive?
II – Was sind Wolken?

Technisch betrachtet ist eine Dampflok eine Dampfmaschine auf Rädern. Das heißt, die Energie, die von der brennenden Kohle erzeugt und zum Erhitzen von Wasser verwendet wird, dient nicht zum Antreiben von fixierten Gerätschaften, sondern wird zur gerichteten Fortbewegung dieser Maschine selbst genutzt. Der aufsteigende Dampf ist also Resultat, nicht aber – wie ich es als Kind sehen wollte – Zweck des Betriebs dieser Apparatur.

Wie dem im Einzelnen auch sei – am Beispiel und Bild der Dampflokomotive lässt sich vor allem ein Aspekt aufzeigen, der mir hier der wichtigste ist: Sowohl in der Bewegung der Maschine selbst, wie in der von dieser Maschine erzeugten Bewegung, als auch am Ende im Aufsteigen der Wolken wird das zentrale gemeinsame Charakteristikum von Wolken und Maschinen anschaulich: Das Wesen der Transformation!

Hierin liegt ihre wesentliche Gemeinsamkeit, die allerdings selten in den Blick gerät. Zunächst treten beim Vergleichen von Maschinen und Wolken ihre Unterschiede in den Vordergrund. Denn abgesehen vom hier herausgestellten Aspekt der Transformation als solchem verhalten sich Wolken und Maschinen gegensätzlich zueinander:

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Wolken sind Maschinen keine natürlichen Phänomene, sondern von Menschen konstruierte Apparaturen, die explizit zur Hervorbringung von Transformationen dienen. Und zwar in zweifacher Weise (worin sie sich im übrigen, soweit ich es sehe, vom einfachen Werkzeug unterscheiden):

Die erste Transformation besteht im Einsatz von Materialien und Prozessen zur Erzeugung von Energie (in Form von Hitze, Druck, Bewegung o.a.) und diese dient zur Erzeugung der angestrebten zweiten Transformation, z.B. das Pressen einer Form oder den Vorwärtstrieb der Lokomotive. Das heißt, es handelt sich um eine zweckhafte und zielgerichtete Transformation, die ein definiertes Ergebnis hervorbringen soll. Abweichungen im Funktionieren oder in der hervorgebrachten Gestalt gelten als Fehler.

Eine Maschine vollzieht also grundsätzlich beabsichtigte, gerichtete und kontrollierte (zumeist zumindest) und damit vorhersehbare Modifikationen in sämtlichen Bereichen. Aufgrund ihrer steten Verbesserung und der Erfindung immer neuer Maschinerien ist die Maschine als solche zum Sinnbild geworden für die Beherrschung der Welt durch den Menschen und den von ihm angetriebenen Fortschritt.

„MASCHINE […] jede Vorrichtung zur Erzeugung oder Übertragung von Kräften, die nutzbare Arbeit leistet (,Arbeits-M.‘) oder eine Energieart in eine andere umsetzt (,Kraft-M.‘)“

Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, 14. Band, Mag–Mod, Mannheim: F.A. Brockhaus 1991, S. 271

Wie aber steht das alles nun im Verhältnis zur Kunst, um die es hier letztlich im Wesentlichen geht?

In gewisser Weise hat die Kunst an beidem Anteil – sie bewegt sich im weiten Raum zwischen den Wolken und den Maschinen und begreift in ihrem Wesen beide mit ein.

Dass ihr etwas Wolkenhaftes eigen ist, braucht fast nicht eigens angeführt zu werden. Dies wird gegen sie von Seiten der Kunst gegenüber kritisch eingestellten Zeitgenossen ins Feld geführt. Von jenen wiederum, die sie schätzen und bewundern liegt gerade darin einer ihrer wesentlichen Reize, ein großer Teil des Zaubers und des Geheimnisses, mit dem die Kunst uns Menschen in den Bann ziehen kann.

Andererseits hat die Kunst aber auch etwas Maschinenhaftes: Ein Kunstwerk kann – in seiner funktionellen Eigenart beschrieben – definiert werden wie eine Maschine: eine von Menschen konstruierte zweckmäßige Ordnung zur Übertragung von Kräften bzw. Umsetzung von Energien – wobei diese hier nicht materieller Art sind. Am Beispiel der Malerei formuliert handelt es zunächst um die Überführung einer mobilen Ordnung – der Farben auf der Palette – in eine feste Ordnung – der Komposition auf der Leinwand, mit dem Ziel eine bildnerische Realität zu formulieren, die wiederum spezifisch ausgerichtete, für die betrachtenden Menschen gleichermaßen erkennbare Sinn-Effekte hervorbringen soll.

Tatsächlich hat man sich früher das Funktionieren der Bilder wie Maschinen durchaus im wörtlichen Sinn vorgestellt: Nicht zufällig hießen im 19. Jahrhundert die großen als Meisterwerke konzipierten Gemälde in der französischen Kunst „Grandes machines“.

Solche gemalten Bilder sollten die Bedeutungen, die von Künstlern oder Künstlerinnen bzw. die der Institutionen, die sie dazu beauftragten, möglichst deutlich abbilden und ebenso eindeutig wie möglich auf die Menschen, die das Werk zu Gesicht bekamen, wirken. Das aber hat, wie die Geschichte gezeigt hat, so nicht funktioniert. Tatsächlich verhalten sich gemalte Bilder im Hinblick auf die Absicht der Festlegung ihrer Bedeutungen eher wolkenhaft – so festgelegt die einmal auf der Fläche organisierte Ordnung sein mag, so fertig und vollendet das Bild mit all seinen materiellen Eigenschaften als Gegenstand, als Produkt sein mag. Im Hinblick auf den Prozess der Sinn- und Bedeutungsbildung bleibt es unabgeschlossen und offen, eine Projektionsfläche für Assoziationen und ständig in Bewegung – genau wie Wolken.

Francis Picabia: Machine tournez vite, 1916/1918, Washington, National Gallery of Art
© Rice University, Department of Art History, https://hdl.handle.net/1911/85870. Foto: William A. Camfield

Es ist wiederum genau diese Eigenart des Bildcharakters, die Fähigkeit zu permanenter Transformation, die in der Moderne zahlreiche avantgardistische Kunstbewegungen zum Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Konzepte gewählt haben.

Das Kunstwerk soll nicht das eindimensionale finale Produkt einer Maschine sein, sondern wird nun eher verstanden als das energetische Moment, das sich im im oben beschriebenen ersten Transformationsprozess vollzieht, also – noch einmal mit der Dampflok gesprochen – es wird aufgefasst wie die Flamme, die aus der Erhitzung der Kohle aufsteigt und den Dampfdruck erzeugt.

Womit wiederum die zweite Transformation ausgelöst wird, die nun aber zwei Wirkungen hervorbringt, einerseits die Erkennbarkeit der sinnhaft geordneten Darstellung – bei der Lokomotive die intendierte ausgerichtete Bewegung – andererseits den Nebeneffekt all der ungeplanten und unvorhersehbaren möglichen Assoziationen, Bedeutungen, Sinnschichten, die mit jeder neuen Betrachtung des Werkes aus diesem hervorgehen und seine Betrachtungsmöglichkeiten variieren und verwandeln und ihm ein quasi magisches Eigenleben verleihen – vergleichbar den aus dem Schornstein aufsteigenden und unaufhörlich bewegten Wolkenbildern, die den besonderen Zauber dieser fahrenden Maschinen ausmachten.

Was sich hier – beispielhaft am Feld der Malerei dargestellt – im Gebiet der Kunst vollzieht, das sind in gewisser Weise Umstülpungen und Umwertungen im Umgang und im Gebrauch der Kunst und ihrer jeweiligen Bedeutung.

Kunst sollte als Metamorphose betrachtet werden, als beständige Umwandlung.

Willi Baumeister: Das Unbekannte in der Kunst

Solche Umwertungen finden aber aber keineswegs nur in der Kunst oder Poesie statt. Sie sind nicht darauf beschränkt.

Auch die Wissenschaften, die Politik, das Wirtschaftsleben sind genauso davon betroffen, allerdings häufig, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch hier treten neben den angepeilten und kontrollierten Effekten von Entscheidungen und Maßnahmen zuhauf überraschende Wendungen und Neubewertungen auf – die wiederum erst kreative Räume im wissenschaftlichen und technischen, im politischen und wirtschaftlichen Raum öffnen. Als Beispiel sei hier eine neuere Umwertung genannt, von der wir alle unvermeidlich betroffen sind: die von den Wolken zur Cloud.

Wie dargestellt galten Wolken aufgrund ihrer Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit über Jahrhunderte Sinnbild der Unsicherheit, des Ungefähren, des Gefahrbringenden (etwa von Gewitter und Sturm) sowie des selbst Gefährdeten und vollkommen Unbeständigen.

Doch nun, mit der Ausweitung des neuen, von Menschen geschaffenen digitalen Raums hat sich mit dem Bild und der Bedeutung der Wolke eine bemerkenswerte Transformation vollzogen. Nun wird sie – auf Englisch, der globalen Universalsprache und in den generell umfassenden Konzepte bezeichnenden Kollektivsingular überführt – als „Cloud“ zum Sinnbild der Sicherheit, der Bewahrung, der Kontinuität, der Verfügbarkeit und des permanenten Zugriffs auf alles, was unter dem Begriff Daten zusammengefasst wird.

Das wiederum kann inzwischen wohl tatsächlich alles sein, was sich Menschen ersonnen haben. Sobald irgendeine Manifestation davon für die Speicherung auf digitalen Geräten erzeugt oder dort eingespeist wird, transformiert der Akt der digitalen Speicherung diese in das unendlich gleichmachende Rauschen von Nullen und Einsen, so einzigartig und unvergleichlich ein einzelner Mensch oder eine Sache, eine Idee oder ein Programm oder was auch immer sein mag.

Und immer mehr dieser für einzelne Menschen oder Gruppen oder die gesamte Menschheit bedeutenden und wertvollen Daten werden von ihnen nun dieser Cloud anvertraut. Was für eine Vorstellung bei genauerer Betrachtung – ausgerechnet die Wolke wird auserkoren als Inbegriff der Bewahrung, Sicherheit und Dauerhaftigkeit.  Ausgerechnet sie soll uns als stets verfügbarer, zuverlässiger Speicherraum unseres Wissens dienen, sie soll unsere persönlichen und gemeinsamen Schätze bewahren und Werte erhalten, sie soll zu unserem Gedächtnis werden und unser weiteres Funktionieren sichern sowie unserem Leben die Zukunft.

Damit wird sie zu einem Teil von uns, einem Teil unseres Denkens, unseres Gehirns. Und hier trifft sich wiederum dieser aktuelle Trend mit den ältesten mythologischen Vorstellungen des Menschen – denn einst, in der nordischen Mythologie, ging man davon aus, dass die Wolken gebildet würden aus den Gehirnen der Riesen.

„Der nordischen Mythologie zufolge wurden die Wolken bekanntlich gebildet aus des Riesen Hirn. Und wahrlich, es gibt kein besser´ Sinnbild für die Wolken denn Gedanken und kein bess’res für Gedanken denn Wolken – Wolken sind ja Hirngespinste und Gedanken, was sind sie anderes? Sieh, darum wird man alles andern müde, doch der Wolken nicht…“

Søren Kierkegaard: „Das Spätjahr ist der Wolken Zeit“

Und heute bildet die Cloud für uns ein Riesenhirn – und tatsächlich sind sich ja Hirn und Wolke in ihren gerundeten Formen morphologisch ähnlich – und das führt uns zum Schluss, der im Zitat eines berühmten Bonmots des dadaistischen Künstlers Francis Picabia bestehen soll, Dieser konstatierte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.“ – So bleibt mir hier zum Schluss also nur noch, allen beim weiteren Denken und Betrachten eine gute Kurvenlage zu wünschen.

Anmerkung: 
Dieser Essay geht zurück auf die Keynote zur Eröffnung der zweiten Ausstellung Kunst am Campus ebenfalls mit dem Titel „Von Wolken und Maschinen“ am Hochschulstandort Tuttlingen der Hochschule Furtwangen University am 22.03.2016, mit Werken aus Kursen der Jugendkunstschule Zebra in Tuttlingen – Eine großartige Initiative, die technische Ausbildung und freies kreatives Gestalten junger Menschen zusammenbringt.
Kategorien
Jahrestag Kunstgeschichte

Maria Caspar-Filser – Malerin

Sestri Levante, 1924, Städtische Galerie Fähre Privatbesitz Bad Saulgau, Leihgabe aus Privatbesitz, © Köster/VG Bild-Kunst

Aus Anlass des Weltfrauentages

Zu Lebzeiten war Maria Caspar-Filser (1878–1968) eine der angesehensten deutschen Künstlerinnen überhaupt. Ihre herausragende Stellung in der Kunstwelt belegen sowohl ihre Ausstellungsteilnahmen wie die Würdigungen, die sie für ihr Werk erhalten hat.

Sie wurde als Maria Filser am 7. August 1878 in Riedlingen an der Donau geboren. Schon früh widmete sie sich ernsthaft der Malerei. Zwischen 1896 und 1903 studierte sie an der Akademie Stuttgart bei Friedrich von Keller und Gustav Igler. Zwischenzeitlich besuchte sie die Klasse von Ludwig von Herterich an der Akademie in München, wo sie sich mit Karl Caspar, den sie 1907 geheiratet hatte, im Jahr 1909 niederließ.

Sie machte sich nach ihrem Studium einen Namen als Landschafts- und Stilllebenmalerin. In der Auseinandersetzung mit der Freilichtmalerei, mit Paul Cézanne und Vincent van Gogh entwickelte sie eine eigene Bildsprache, geprägt von reicher Farbkultur und malerischer Unmittelbarkeit. Ihre – wie Wilhelm Hausenstein sagt – „strömende Freiheit des Malerischen“ macht das sinnliche Erleben der sichtbaren Welt unvermittelt im Bild anschaulich.

Mit ihrer Malerei gewann sie höchste Anerkennung. Exemplarisch ist die Würdigung Caspar-Filsers zur Jahresausstellung 1909 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart:

„Das Beste, was die diesmalige Ausstellung des Kunstvereins enthält, stammt von Damenhand. Alles das, was Frau Maria Caspar-Filser, Balingen, in ihrem kleinen Sonderkabinett zeigt, sind Arbeiten, in denen sich ein eminenter Fleiß mit wirklich bedeutendem Können deckt. Sichtbar auf ernstem, intensiven Studium ruhend, hat sich das Talent dieser Künstlerin zu einer beachtenswerten Höhe entwickelt. Kein Mensch, der unbefangen diesen Arbeiten entgegentritt, wird als Autor eine Dame vermuten. Ein halbes hundert solcher Künstlerinnen im deutschen Malerland, und alle Vorurteile gegen die malende Frau sind zuschanden gemacht.“ (A. Dobsky, Schwäbische Tagwacht, 1909)

1912 war sie als eine von nur vier Frauen auf der berühmten Sonderbund-Ausstellung in Köln vertreten, die heute als ein Meilenstein in der Geschichte der Avantgarde-Kunst gilt. Sie gehörte, jeweils als einzige Frau, zu den Gründungsmitgliedern der SEMA im Jahr 1911 und der Münchener Neuen Secession 1913.

„Wenden wir uns nun der Kerntruppe der Neuen Secession zu, so ist zu allererst der starke Fortschritt zu rühmen, den man in den Werken der Frau Caspar-Filser beobachtet. Das ist eine frische Art von Malerei, ein Strahlen und Blühen der Farbe, eine Schlichtheit der Diktion, eine natürliche Vereinfachung aller Formen, die absolut zwingend wirkt.“

August L. Mayer: „Sommer-Ausstellung der Münchener Neuen Secession“ in:
Deutsche Kunst und Dekoration, 42, Nr. 21, 1918, S. 295.

Ab 1925 lehrte sie an der Akademie in München und erhielt als erste deutsche Malerin den Professorentitel. Sie war insgesamt vier Mal auf der Biennale in Venedig vertreten, 1924, 1926 und 1928 sowie 1948. Caspar-Filser war einhellig anerkannt als eine der wichtigsten Künstlerpersönlichkeiten der Zeit. Sie pflegte mit ihrem Mann einen großen künstlerischen und intellektuellen Freundeskreis, zu dem u.a. Paul Klee, Alfred Kubin, Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Hans Purrmann, Karl Schmidt-Rottluff oder Karl Hofer gehörten.

Doch Caspar-Filser und ihr Mann Karl Caspar wurden Opfer des vernichtenden Wirkens der nationalsozialistischen Diktatur, während der beide als „entartet“ geächtet und verfolgt wurden. Schon Ende der 1920er-Jahre hatten die Anfeindungen gegenüber der Malerei Caspar-Filsers in national und völkisch orientierten Medien begonnen.

Von Anfang an richteten sich die Angriffe der nationalsozialistischen Journalisten und Funktionäre sowohl gegen die künstlerische Formensprache als auch gegen die Unabhängigkeit und individuelle Freiheit der Malerin und ihres Mannes, die im Werk wie im persönlichen Auftreten ihren Ausdruck fand.

Beide wurden als einzige in München lebende Künstlerpersönlichkeiten in der Femeschau „Entartete Kunst“ diffamiert. Caspar-Filser war eine von nur vier weiblichen Künstlern in der Ausstellung. Die anderen waren Jacoba van Heemskerck, Margarete Moll und Emy Röder.

Das Paar zog sich in der Folge in die innere Emigration nach Brannenburg am Inn zurück (wo Maria Caspar-Filser bis zu ihrem Tod am 12. Februar 1968 lebte). Ihre Werke wurden aus sämtlichen Museen entfernt und teilweise zerstört. Als entartete Künstler sind sie auf die Versorgung mit künstlerischen Materialien durch Schüler von Karl Caspar und Freunde angewiesen. Menschlich berührend ist der freiwillige Verzicht von Karl Caspar auf die Malerei in Zeiten materieller Engpässe. Er überlässt seiner Frau die Ölfarben, „weil sie ohne Pinsel und Farben todunglücklich ist“.

Maria Caspar-Filser: Septembermond im Inntal, 1935, Privatbesitz
© Köster/VG Bild-Kunst

Nach dem Krieg setzte sie ihr künstlerisches Wirken fort und sie wird zu zahlreichen Ausstellungen eingeladen. Beispielsweise zeigt 1951 die Staatsgalerie Stuttgart Maria Caspar-Filser und Karl Caspar und 1958 ist sie auf den beiden wichtigen Überblickschauen Deutsche Kunst von 1905 bis heute in Mailand und Aufbruch zur modernen Kunst in München vertreten. Außerdem erfuhr sie wieder höchste Ehrungen. 1947 wird sie mit dem Förderpreis für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München geehrt und 1950 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Im Jahr 1952 erhält sie mit Karl Caspar gemeinsam als erste den neu geschaffenen Oberschwäbischen Kunstpreis. 1959 wird sie als erste Malerin mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Desweiteren wird ihr 1961 während einer Ausstellung im Musée National d’Art Moderne die Medaille der Stadt Paris verliehen.

Dennoch ist ihrem herausragenden Werk bis heute jene – zuvor erworbene und eigentlich zustehende – überregionale Wirkung versagt geblieben, wie sie anderen verfemten Künstlern, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bekannten Avantgarde-Gruppen des 20. Jahrhunderts und deren umfassender kunsthistorischer Würdigung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zuteil wurde.

So bedeutet die Ächtung im Nationalsozialismus für sie (neben persönlichem Leid) einen bis heute wirksamen Einschnitt der kunsthistorischen Wertschätzung, die seitdem in keinem Verhältnis zu ihrem künstlerischen Rang steht.

Kategorien
Jahrestag Kunstgeschichte

Logenplatz Weltuntergang

Max Beckmann: Die Loge, 1928, Öl auf Leinwand, 121,2 x 84,8 cm, Staatsgalerie Stuttgart.
© CC BY-SA 4.0

Zum Geburtstag von
Max Beckmann
(12. Februar 1884)

Das Datum des heutigen Tages, 12.02.2021, weist eine Eigentümlichkeit auf, die besonders geeignet ist, sich dem Werk von Max Beckmann zuzuwenden, der an diesem Tag vor 137 Jahren in Leipzig geboren wurde: Von vorne wie von hinten gelesen ergeben die Ziffern dieselbe Folge und mithin dasselbe Datum. Es ist – bildlich gesprochen – ein Spiegeldatum (in Bezug auf die schriftliche Zahlenfolge bezogen wird dies als Palindrom bezeichnet).

Max Beckmann hat sich in seinem Werk einen eigenen Kosmos aus Mythologie und Geschichtserfahrung geschaffen, in dem Spiegelungen jeglicher Art, als Vorstellung oder Idee, als Thema und Motiv, eine herausragende Rolle spielen, wie jetzt leicht im Werkverzeichnis zu sehen ist. Wie wohl kein anderer und keine andere unter den großen künstlerischen Individuen des 20. Jahrhunderts versteht er das gemalte Bild als eine Bühne, als ein imaginiertes Theater, auf dem von den großen Gefühlen und Dramen des Menschen, seinen Leidenschaften und Katastrophen erzählt wird.

Die Abstraktion im Sinne ungegenständlicher Kunst blieb ihm fremd, da für ihn der Mensch und sein Schicksal im Zentrum alles Strebens und Wirkens stand – dazu gehörte für ihn unverzichtbar auch der Raum, in der sich alles Menschliche ereignet – und der für ihn ein großes Mysterium darstellte. Diesen Raum im Medium der Malerei erst zu schaffen, ihn als Lebenswelt im Bild zur Wirkung zu bringen, darin sah Beckmann die eigentliche Aufgabe und Fähigkeit künstlerischen Abstraktionsvermögens.

„Es handelt sich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen, und diese Realität in Malerei zu übersetzen. – Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. – Das mag vielleicht paradox klingen, – es ist aber wirklich die Realität – die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!“

Max Beckmann: „Über meine Malerei“, Rede gehalten in der Ausstellung Twentieth Century German Art in den New Burlington Galleries, London, 21.07.1938

Seine Karriere begann Beckmann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Berlin, wo er kraftstrotzend und voller Selbstbewusstsein als junger Maler mit höchsten Ambitionen die Bühne der Öffentlichkeit betrat. Die schnell wachsende Anerkennung bestärkte ihn zusätzlich. Das Selbstbildnis mit Zigarette, das er 1907 als Stipendiat der Villa Romana in Florenz gemalt hat, zeugt ebenso davon wie die Themen und Dimensionen seiner Werke.

Figurenreiche Großformate, die sich ebenso klassischen Geschichten der Historienmalerei widmen – etwa Sintflut, 1908, oder Amazonenschlacht, 1911 – wie aktuellen Ereignissen – so Szene aus dem Untergang von Messina, 1909 (durch ein Erdbeben – siehe dazu: Drama am Ätna), oder Untergang der Titanic, 1912.

Anlass von großen Dramen und Katastrophen zu erzählen, sollte er zeitlebens genug finden – und wie ungeheuerlich manche sein würden, davon hatte der kühne Kunstjüngling genauso wenig eine Vorstellung wie alle anderen. Noch ahnte er nicht, dass er zu jener Generation in Deutschland gehören wird, in deren Lebenszeit die drei größten Katastrophen des Jahrhunderts sich ereigneten – die beiden Weltkriege und die Nazi-Diktatur,  die ihn wie so viele andere Menschen zwang, das Land zu verlassen, weil sie aufgrund ihrer Herkunft, ihres jüdischen Glaubens, ihrer politischen Haltung oder ihres Wirkens bedroht oder verfolgt wurden.

„Das Leben ist immerhin schwierig, ich glaube diese Neuigkeit dürfte nun doch schon allgemein bekannt sein.“

Max Beckmann: „Über meine Malerei“

Als er dies im Jahr 1938 sagte, stand das Schlimmste für ihn und die meisten anderen noch bevor. Genau ein Jahr zuvor war er mit seiner Frau Mathilde, genannt „Quappi“, gleich nachdem sie Adolf Hitlers Rede zur Eröffnung der Femeschau „Entartete Kunst“ gehört hatten, aus Berlin nach Amsterdam geflohen, wo sie beide bis Kriegsende im Exil leben sollten.

Max und Quappi Beckmann überlebten Exil und Krieg, hatten stets Freunde und Unterstützer, die ihnen in kritischen Situationen während dieser Zeit halfen und auch in der Zeit danach, als es galt, noch einmal neu anzufangen. Sie unternahmen diesen Neuanfang in den Vereinigten Staaten. Dort organisierten Freunde Ausstellungen mit seinen Werken und sie verhalfen ihm zu Lehraufträgen an amerikanischen Kunsthochschulen.

In kaum mehr als zwei Jahren lehrte er – einmal quer durch die USA – an der Washington University Art School in St. Louis, der Kunstschule der Universität in Boulder, Colorado, dem Mills College in Oakland, California, sowie der American Art School und Brooklyn Museum Art School in New York.

Der kunsthistorische Rang seiner Malerei war inzwischen international unbestritten. Seine wichtigsten Werke haben bald den Weg in die großen Museen Europas und der USA gefunden.

Beckmann hatte seit Kriegsende mehrere Berufungen von deutschen Kunsthochschulen erhalten, die er sämtlich ablehnte. Er lebte zuletzt in New York und sollte Deutschland bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1950, im Alter von 66 Jahren, nicht mehr betreten.

„Die neue Idee, die der Künstler und mit ihm zu gleicher Zeit die Menschheit zu formen hat, ist Selbstverantwortung.“

Max Beckmann: „Der Künstler im Staat“, in: Europäische Revue, Nr. 3, 1927, S. 288
Kategorien
Buchvorstellung

Drama am Ätna

Das antike Theater von Taormina mit Blick auf den Ätna, 2016
© CC, Foto: Guy Rey-Bellet

Was für eine Aussicht, welch ein grandioser Blick vom Hang über die Ruine des antiken Theaters in Taormina nach Süden hinauf zum schneebedeckten Gipfel des Ätna. Dieses Panorama führt exemplarisch die ganze Schönheit der Insel Sizilien vor Augen – und es ist daher zu der „Postkartenikone“ der Insel schlechthin geworden. Und nicht nur das:

Die Zusammenschau dieser beiden Motive erzählt ebenso von der Gestaltungsmacht des Menschen wie von den Gewalten der Natur, denen der Mensch letztlich wieder ausgeliefert ist. Der Mensch greift in die Natur ein, formt sie nach seinen Bedürfnissen um und baut sich nach seinen Vorstellungen seine eigene Welt, sowohl im übertragenen Sinn als auch wörtlich in Bezug auf die Architektur. Doch wie massiv auch immer seine Eingriffe in die Natur sind, so solide seine Bauten konstruiert sein mögen, sie sind sämtlich der Vergänglichkeit geweiht – wovon die Relikte des Theaters im Vordergrund sprechen.

Im Hintergrund ruht reglos still im Sonnenlicht der Ätna – ein ungewöhnliches Bild, denn – wie sonst an seiner Rauchfahne zu sehen ist – im Vulkan rumort es nach wie vor. (Hier der aktuelle Blick auf den Ätna und hier der Blick auf den Kraterrand.) Er hat mit seinen Ausbrüchen weit mehr als der Zahn der Zeit den Menschen im Osten Siziliens zugesetzt – und mit und neben ihm die zahlreichen Erdbeben, die die Insel immer wieder erschüttern, wie erst vor einigen Wochen (hier Genaueres). Dieses ging glimpflich ab – wieviele Naturkatastrophen zerstörten Menschenleben und ganze Ortschaften.

Eine davon ist die Ortschaft Gibellina am westlichen Ende der Insel. Sie wurde am 15. Januar 1968, heute vor 53 Jahren, von einem Erdbeben dem Boden gleich gemacht. Die Menschen verließen den Ort und bauten sich einige Kilometer entfernt als Gibellina Nuova einen neuen – einen ganz ungewöhnlichen, indem hier der zeitgenössischen Architektur und Kunst eine tragende Funktion für die Neugestaltung des Gemeinwesen eingerichtet wurde. Dazu gehört auch die Aufführung der Orestie des Aischylos auf der Piazza des alten, zerstörten Gibellina.

Auf Sizilien kommen seit jeher nicht nur die von Menschen erfundenen Dramen in den von ihnen gebauten Theatern zur Aufführung. Die Naturgewalten bescheren ihm wieder und wieder ihre eigenen existenzbedrohenden und verheerenden Tragödien.

„Il teatro pervade la Sicilia e la Sicilia stessa … è teatro!
Das Theater prägt Sizilien und Sizilien selbst … ist Theater!“

Marina D’Angelo, Vorsitzende des Vereins der Freunde des Italienischen Kulturinstituts Stuttgart, Theater in Sizilien, Vorwort, S. 6

Dieser besondere Zusammenhang zwischen den dramatischen Werken der Menschen und dem dramatischen Wirken der Natur, das dem Leben auf Sizilien einen spezifisch theatralischen Charakter verleiht, offenbart sich im Zuge der Lektüre des Buches Theater in Sizilien, das im letzten Jahr im Jonas-Verlag erschienen ist. Es wurde verfasst von Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht, einem Trio, das damit zum wiederholten Mal seine anhaltende Leidenschaft und Expertise in Sachen Italien und Theater in eine gemeinsame Publikation münden lässt. Im selben Verlag haben sie schon Teatro: eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, veröffentlicht.

In ihrem neuen Buch entfalten sie in fünf großen Kapiteln das Panorama des sizilianischen Theaters in all seinen Facetten über einen Zeitraum von 2500 Jahren, von der Antike bis zur Gegenwart. Sie beschreiben die Architektur und ihre Baugeschichte, fügen sie in die kultur- und kunsthistorischen Kontexte ein, erläutern die Funktionen der Theaterkultur in ihrem jeweiligen kultischen, religiösen oder politischen Kontext.

Dazu gehört auch, dass sie neben dem Schauspiel im gebauten Theaterraum das ganze Spektrum theatralischer Aufführungspraxis vorstellen – Festinszenierungen, Wegetheater – teilweise mit ephemeren Theaterbauten an Straßen und Plätzen – oder dauerhaft eingerichtete Privattheater in Palästen und Villen des Adels, die großen Opernhäuser sowie Volksbühnen und schließlich das Genre des Puppentheaters, das als „Inbegriff der populären Kunst und Kultur der Insel“ gilt und in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen worden ist (hier der Eintrag).

Das Buch bietet eine Fülle an erhellenden Beobachtungen, Erkenntnissen und Einsichten. So soll nach Platon und Aristoteles die Komödie in Sizilien erfunden worden sein. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass das Theater schon früh mehr war als ein Ort fiktiver Bühnenwerke. Schon in der Antike war „das Theater zu einer eigenen durch und durch politischen Kunstform geworden. Mit der Darstellung von Stoffen des Mythos wurden gesellschaftliche Prozesse und Konflikte auf der Bühne verhandelt.“ (S. 14)

Die Theaterbühne war zugleich ein Ort politischen Handelns, ein Forum für Gesetzgebung und Rechtsprechung und Schauplatz für die Ausübung politischer Gewalt – und dies auch im wörtlichen Sinn. In römischer Zeit wurden in Theatern Folterungen und Hinrichtungen einzelner oder von Menschenmengen zur Schau gestellt.

Doch nach den Römern war für lange Zeit Schluss mit Lustspiel wie Tragödie: „Schließlich bedeutete das Ende des Römischen Reiches auch das Ende des antiken Theaters, das als Sakralbau immer mit den antiken Kulten verbunden war. Vandalen, Goten, Christen und Muslime wollten kein Theater.“ (S. 24)

„Für 1000 Jahre war die Komödie zu Ende, und das homerische Lachen der olympischen Götter verhallte vor den humorlosen monotheistischen Göttern, die kein Lachen kannten.“

Theater in Sizilien, S. 24

Erst die Jesuiten erkannten das enorme Potenzial von Imagination, Inszenierung und Illusionismus als überwältigende Mittel zur Formung menschlichen Bewusstseins und setzten diese in ihrem Feldzug gegen die reformatorische Sinnenfeindlichkeit programmatisch ein als Instrumente zur Festigung und Vertiefung des katholischen Glaubens. In den Ausführungen darüber wird einmal mehr die immense medienhistorische Bedeutung des Jesuitenordens deutlich.

Im Barock blühte die Theaterkultur in all ihren Ausdrucksformen. In engem Zusammenhang mit der Herausbildung der Oper als neuem, zeitgenössischem Musikdrama entwickelte sich mit dem „Teatro all’Italiana“ ein spezifischer Bautyp, der maßgeblich für den gesamten europäischen Theaterbau werden sollte – bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts.

Es setzte ein über zwei Jahrhunderte anhaltender Boom ein. Neue Theater und Opern wurden gegründet und zahlreiche Bauten dafür errichtet. Damit wurde der nötige Resonanzraum geschaffen zwischen der Darbietung innigster Leidenschaften auf der Bühne und dem gesteigerten Enthusiasmus, der allerorten für sie entbrannt war. Das Musiktheater gewann zudem besondere Bedeutung als Ausdrucksform politischer Selbstbestimmung Siziliens und seines Strebens nach Freiheit und Unabhängigkeit.

„Hämmere Dir mit diamantenen Lettern in Deinen Kopf: Das Musikdrama muss durch den Gesang zum Weinen, Schaudern, Sterben bringen.“

Vincenzo Bellini zu seinem Librettisten Carlo Graf Pepoli, zitiert in Theater in Sizilien, S. 129

Bei der Lektüre wird deutlich: In den Schicksalen der einzelnen Theater und ihrer Bauten spielten sich ganz eigene Dramen ab, die manche Beteiligte aus ganz anderen Gründen zum Schaudern gebracht haben dürften.

Kaum ein Theater, das finanziell nicht auf höchst brüchigem Fundament errichtet wurde. Bei vielen Theatern sollte es mehrere Jahrzehnte dauern bis zur Fertigstellung oder zumindest Einweihung und ersten Aufführung. Kaum eines, das während seines Betriebs wirtschaftlich nicht ins Schlingern kam oder gar Schiffbruch erlitt – auch angesichts der Konkurrenz. Erst die der anderen Theater, dann der des Kinos, dessen Ausbreitung der herausragenden gesellschaftliche Stellung der Theaterkultur und damit ihrer Blütezeit das Ende bereitete. Zahlreiche Theater wurden zu Kinos umgebaut.

Das Kino war nicht nur als Darstellungsmedium Ausdruck einer neuen Epoche, sondern auch sozial. Daran wird deutlich, dass das „Teatro all’Italiana“ obsolet geworden war. Denn seine Architektur und innere Infrastruktur – etwa die Wegführung, die die herrschende Klasse von den anderen Besuchern trennte, und die Ränge – teilte die Menschen nach Zugehörigkeiten zu sozialen Schichten auf. Es war nicht wirklich ein Ort gesellschaftlicher Zusammenkunft, sondern ein Ort sozialer Trennung.

Generell spiegelt die Geschichte der Theaterbauten auch das historische Schicksal Siziliens. So geht in Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Einstellung des Spielbetriebs vieler Theater und der Verfall der Bauten mit dem Niedergang Siziliens einher. Im selben Maß zeugen die zahlreichen Restaurierungen und Wiederbelebungen seit den 1990er Jahren vom neuen politischen und gesellschaftlichen Aufbruch, der in dieser Zeit die Insel ergriffen hatte und verstärkt auch zeitgenössischen Theaterformen die Bühne bereitete.

Mit diesen endet die beeindruckende Vorstellung des Theaters in Sizilien in diesem Buch, das aufgrund der Auflistungen der zugehörigen Theaterbauten in den einzelnen Kapiteln und des abschließenden, thematisch gegliederten Literaturverzeichnisses handbuchartigen Charakter erhält. Schließlich bereitet es auch mit der Bebilderung – darunter besonders die extra für den Band angefertigten von Roberto Sigismondi und Christian Stein – beim Blättern und Lesen ästhetisches Vergnügen.

Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: Theater in Sizilien, Marburg: Jonas 2020, 240 Seiten, mit 333 Abbildungen, ISBN 9783894455781, 28,00 €

Susanne Grötz, Ursula Quecke und Siegfried Albrecht: Teatro: eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, Marburg: Jonas 1991, erw. und akt. Aufl. 2001, 240 Seiten, mit 330 Abbildungen, ISBN 978-3-89445-288-9, 25 €

Kategorien
Allgemein

Den Atem anhalten

Nicolas Poussin: Die Pest von Ashdod, um 1630, Öl auf Leinwand, 148 x 198 cm, Detail, Musée du Louvre, Paris

Den Atem anhalten – was zunächst sachlich verstanden, nichts anderes bedeutet, als die physische Atemtätigkeit für einige Sekunden einzustellen, wird als etablierte Redewendung meist im übertragenen Sinne verwendet: als Aufforderung an eine andere Person, sich nicht derart über etwas erregen. Gerne auch alternativ formuliert mit den Worten: „Halt’ die Luft an!“

Seit dem letzten Frühjahr hat diese Wendung unvermutet eine weitere Bedeutung erhalten: Um die Ausbreitung von Covid-19, zu vermeiden, der Krankheit, die von einem neuen Corona-Virus ausgelöst wird, werden Menschen dazu verpflichtet, Mund und Nase mit Masken zu bedecken. Damit soll der freie Fluss der Atemluft blockiert werden, im wörtlichen Sinn, der Atem angehalten werden. Masken für den Atemschutz gibt es schon länger. Bisher dienten sie durchgehend dazu, den Menschen beim Einatmen zu schützen. Jetzt wird die Barriere insbesondere gegen die ausgeatmete Luft aufgerichtet.

Die ausgestoßene Atemluft in dieser Weise anzuhalten, ist ein für die Gemeinschaft vitaler sozialer Akt. Gleichzeitig aber hat diese Maßnahme erhebliche Auswirkungen auf unser Sozialleben und die Kommunikation – vor allem die nonverbale, die aufgrund der Masken massiv behindert wird.

Auf einer anderen Ebene vollzieht sich damit zugleich eine menschheitsgeschichtlich gravierende Umkehrung in unserem Verhältnis zum Atem. Bisher galt: Atem spendet und erhält Leben, das macht ihn aus. Was atmet lebt und es lebt nur solange es atmet. Die verbreitete Sorge, dass der Atem Krankheiten übertrage, ist von der modernen Medizin der Welt des Aberglaubens zugeschlagen worden. Nun aber bestätigt sie sich. Denn die Atemluft gilt als größter Risikofaktor für die Übertragung der neuen Krankheit. Der lebensspendende und lebenserhaltende Odem kann tatsächlich krank machen, er mutiert zur Todesgefahr.

Atemluft-Schutzhüllen für das Spielen der Querflöte vom US-amerikanischen Hersteller McCormick, vorgestellt in der Zeitschrift Sonic. Sax and Brass, 6, 2020, S. 12

Damit wird der Atem selbst als Thema höchst akut.

Es ist immer wieder erstaunlich, in welcher Weise manchmal Ideen und Themen, die einem über längere Zeiträume so interessant, bedenkenswert und wichtig erscheinen, dass man Material dazu sammelt und Projekte darüber konzipiert, mit der Zeit wachsende Aufmerksamkeit gewinnen oder plötzlich unvermutete und bedrängende Aktualität bekommen. Die künstlerische Beschäftigung mit dem Atem ist für mich seit langem eines dieser Themen – eines, für das ich dementsprechend die Realisierung als Ausstellungs- und Publikationsprojekt ins Auge gefasst habe und weiter verfolge.

Was den Atem – neben seinen existenziellen und daher auch symbolischen Bedeutungen wie seinem funktionellen Gebrauch, etwa in der Musik (Blasinstrumente) – für die Bildende Kunst besonders interessant macht, ist der Umstand, dass er üblicherweise unsichtbar ist. Allein schon ihn sichtbar zu machen, ist also eine künstlerische Herausforderung. Das gilt insbesondere für das statische Bild in Zeichnung und Malerei.

Im Zeitbild der Film- und Videokünste gilt zwar dieselbe Herausforderung für den Atem als solchen. Doch unmittelbar veranschaulichen lässt sich der Akt des Atmens, in dem das unablässige und mal mehr, mal weniger stetige Einholen und Herauslassen der Luft den atmenden Organismus bewegt. Im Tonfilm (wie in den akustischen Künsten) kommt die Aufnahme der Atemlaute hinzu.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), um 1570/72, Öl auf Leinwand, 60,5 x 50,5 cm, Museo e Real Bosco di Capodimonte, Collezione Farnese, Neapel,
Foto: Lucio Romano

Das Museo di Capodimonte in Neapel beherbergt ein kleines Gemälde, in dem es offensichtlich genau darum geht: Den unsichtbaren Atem anschaulich zu machen und zugleich sein lebensspendendes Wesen mit den Mitteln der Malerei vor Augen zu führen. Es stammt von El Greco (1541–1614) und zeigt einen Jungen, der in der einen Hand einen glühenden Holzscheit hält und in der anderen eine Kerze. Er ist dabei diese anzuzünden, indem er Kerzendocht und Glut aneinanderhält und gleichzeitig seine Atemluft darauf bläst.

Sowohl motivisch als auch kompositorisch handelt es sich um ein Bild von höchster Konzentration und Genauigkeit. Der Blick des Jungen ist auf den glühenden Holzscheit gerichtet. Seine Pupillen sind unter den gesenkten Lidern bei genauem Hinsehen erkennbar. In dieselbe Richtung zielt er mit dem Strom des Atems, den er durch die schmale Öffnung seiner Lippen schickt. Um der Luft genug Tempo und Druck mitzugeben, hat er die Lippenmuskeln angespannt und zugespitzt, so dass sie sich zu einem roten Rund formen.

Die konzentrierte Spannung, mit der er dies tut, drückt sich auch in der Kontraktion der Nasenflügel und den leicht angehobenen Augenbrauen aus. Sie zielt darauf, das rechte Maß zu finden, damit die Glut ausreichend angefacht, das entstehende Feuer aber nicht gleich wieder ausgeblasen wird. All diese Details, in denen unmittelbar spürbar wird, wie der Junge seinen Atem kontrolliert, sind mit großer Genauigkeit wiedergegeben.

Leicht oberhalb der Bildmitte in die Mittelachse gesetzt, bildet der Mund des Jungen kompositorisch den Mittelpunkt des Bildes. Der Rotton der Lippen korrespondiert mit der Röte der Glut. Dort tritt der Luftstrom hervor, hier trifft er auf sein Ziel. Alles fokussiert sich auf diesen Punkt, in dem der Blick, der Atem, die Spitze vom Docht der Kerze und die brennende Glut des Holscheits in den haltenden Händen zusammentreffen.

El Greco: Junge, der eine Kerze anzündet (El Soplón), Detail

Hier liegt der Brennpunkt der innerbildlichen Dramaturgie, der Punkt, an dem sich alles weitere entzündet, was dieses Bild ausmacht. An dieser Stelle kulminiert der – mit Lessing gesprochen – fruchtbare Augenblick der Darstellung, in dem sich Weltschöpfung und Verwandlung ereignen.

Unsichtbares wird sichtbar gemacht – neben dem Atem, der hier veranschaulicht wird, gilt dies auch für die dargestellte Szene selbst. Der Atemstrom bringt die glimmende Glut zum Leuchten und so erst das Licht ins Dunkel, in dem sonst nichts zu sehen wäre. Mit dem Licht entsteht die Wärme – anschaulich im reichen Schimmern der warmen Gelb-Orange-Rosa-Rottöne. Es ist keine Frage, dass damit in einem christlichen oder zumindest mit der christlichen Offenbarung vertrauten Umfeld, die Assoziation mit der göttlichen Weltschöpfung evoziert wird: Es werde Licht.

Zugleich findet in der Szene eine Verwandlung des Lichtes statt – vom vorübergehenden Aufflackern der Glut, die nur bei kraftvollem Luftstrom aufscheint, in das dauerhaftere Leuchten der Kerzenflamme, für das ein starker Luftstrom eine Gefahr darstellt, die es zum Erlöschen bringen kann.

Die Verwandlung von etwas Momentanem in etwas Beständiges bildet überhaupt ein zentrales Motiv dieses Werkes. Es ist ein Augenblicksbild, das lauter flüchtigen Elementen – der Kontraktion der Gesichtsmuskeln, dem dadurch bewirkten Atemstrom, der Geste der Hände, der Berührung von Scheit und Docht, dem Lichtschein der Glut, dem fließenden Wachs – Beständigkeit verleiht.

Dies geschieht mit den Mitteln der Malerei.

Im Medium der Malerei werden sie alle transformiert, indem sie – im wörtlichen Sinn – materialisiert werden. Besonders anschaulich gelingt dies dem Maler in der Erfassung des an sich körperlosen Lichts. Je lichter die Stellen im Bild, desto deckender und pastoser der Farbauftrag. Dieser ist für sich selbst ein bemerkenswertes Ereignis in diesem Gemälde. Es ist geradezu verblüffend, mit welch lockerem Pinselstrich all die präzisen Details – wie z. B. die gespitzten Lippen – gemalt sind.

Mit diesem Gemälde demonstriert El Greco die Macht der Malerei (und mithin des Malers, der sie beherrscht und zum Ausdruck bringt), Licht werden zu lassen, Dinge lebendig erscheinen zu lassen sowie dem Augenblick Dauer zu verleihen. Er zeigt, sie kann – in bezwingender Weise – den Atem anhalten.