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Kunstgeschichte

Zwischen Triumph und Desaster

Max Beckmann: Selbstbildnis mit Sektglas, 1919, Öl auf Leinwand, 1919, 65,2 x 55,2 cm, Städel Museum Frankfurt a.M.
© CC BY-SA 4.0

Max Beckmann
Zwei Selbstbildnisse
Zwei Museumserwerbungen
– II –

Zwei bedeutende Selbstbildnisse von Max Beckmann haben vor Wochen ihre endgültige Bleibe in zwei öffentlichen Museen gefunden. Darüber ist ausgiebig berichtet worden. In diesem Blog ist dazu auch schon ein Beitrag mit Überlegungen zu den musealen Rahmenbedingungen der beiden Erwerbungen erschienen. Er findet sich hier.

Bemerkenswerte Zusammenhänge finden sich allerdings nicht nur im Hinblick auf den musealen Aspekt der Erwerbungen. Sie sind auch thematisch aufs Engste verbunden. Es handelt sich bei diesen beiden Gemälden von Max Beckmann um zwei herausragende Selbstbildnisse. Herausragend sind sie – neben ihrer künstlerischen Qualität allein schon deshalb, weil Beckmann seiner jeweiligen Lebenssituation in ihnen exemplarisch bildlichen Ausdruck gegeben hat.

Diese könnten kaum gegensätzlicher sein. Gleitet in der vergleichenden Betrachtung der beiden Selbstbilder der Blick vom Selbstbildnis Florenz aus dem Jahr 1907 zum Selbstbildnis mit Sektglas von 1919, dann offenbart sich darin drastisch Beckmanns abrupter Wandel seiner Lebenswirklichkeit vom Triumph zum Desaster.

Das erste Selbstbildnis malte Max Beckmann während seines halbjährigen Aufenthaltes als Stipendiat in der Villa Romana in Florenz. Frontal ausgerichtet, den betrachtenden Blick mit dem eigenen – leicht herablassend – direkt erwidernd, im schwarzen Anzug ein Mann von Welt, selbstgewiss und lässig mit der Zigarette in der Hand.

Max Beckmann: Selbstbildnis Florenz, 1907, Öl auf Leinwand, 98 x 90 cm, Hamburger Kunsthalle
Foto: Hamburger Kunsthalle, Elke Walford

Wie in diesem Selbstbildnis spricht sich in seiner Malerei und seinen überlieferten Äußerungen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg das unerschütterliche Selbstbewusstseins einer Künstlerpersönlichkeit aus, die von sich selbst überzeugt ist und die angemessene Anerkennung gefunden hat. Dieser Beckmann begibt sich im Herbst 1914 als freiwilliger Sanitätssoldat in den Krieg.

„Ich hoffe noch viel zu erleben und bin froh.“

Max Beckmann in einem Brief aus dem Feld an seine Frau Minna Tube, 14.09.1914

In seinen ersten Wochen erlebt er diesen Krieg noch in einem pathetischen Überschwang, der ihn in Briefen schreiben lässt von „verzauberten und glühenden Dingen“, vom „wunderbar großartigen Geräusch der Schlacht“. An dieser selbst nahm er aber nicht teil, er war als Sanitärsoldat hinter der Front stationiert. Er hofft auf reiche künstlerische Beute, gleichwohl spürt er die Ambivalenz dieser gesteigerten Erregung: „Für mich ist der Krieg ein Wunder, wenn auch ein ziemlich unbequemes. Hier kriegt meine Kunst zu fressen.“ (Brief an Minna Tube, 18.05.1915)

Doch schon bald hatte der Krieg ihm derart viel zu Fressen gegeben, dass sein Maul gestopft war und er den Fraß nicht mehr verdauen konnte. Im Juli 1915 folgte der Nervenzusammenbruch. Erschüttert und gebrochen beginnt der Kriegsversehrte als Maler noch einmal ganz von vorne. Zuerst versucht er, sich das Grauen der Kriegshölle von Leib und Seele zu malen.

Was diese aus ihm gemacht hat, offenbart ein Blick auf sein Selbstbildnis mit rotem Schal von 1917 und der Vergleich seiner Auferstehungsbilder. Die erste Auferstehung entstand davor, 1908–1909. Mit der zweiten Auferstehung, die er 1916 begonnen hat, ist er nie fertig geworden. (Alle drei Gemälde befinden sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart.)

Von dieser Katastrophe ist das Selbstbildnis mit Sektglas ebenfalls noch vollständig durchdrungen. Wieder der Mann von Welt, im Anzug und mit Zigarre. Doch jetzt klemmt – offensichtlich um Jahre gealtert – der Herr im Anzug sitzend zwischen Stuhl und Tisch, eingezwängt und zusammengefaltet, verspannt, verkrampft, die Gesichtszüge entgleist – und noch konterkariert vom Durchblick auf eine hämische Fratze dahinter.

„In a while will the smile on my face turn to plaster, Stick around while the clown who is sick does the trick of disaster.”

Neil Young: Mister Soul, 1966

Champagnerflasche und das gefüllte überschäumende Glas scheinen von einem Anlass zum Feiern zu erzählen, doch welcher könnte das sein, angesichts der zynischen Verbitterung, die aus dem Bild spricht, außer jenem, schlicht überlebt zu haben.

Im Zuge der Regeneration gewinnt er wieder Kraft und Zutrauen, was wiederum schnell in künstlerischen Ambitionen und realisierten Werken zum Ausdruck kommt. Er entwickelt einen dynamisch vitalen Individualstil, in dem er bevorzugt komplexe erzählerische und symbolische Kompositionen gestaltet – so wie mit Vorliebe schon in seinem Frühwerk.

Ein Aspekt seines Werkes wird von nun an allerdings eine völlig andere Grundlage und Dringlichkeit haben: Der katastrophische Zug, der in den frühen Werken seinen thematischen Neigungen und Interessen entspricht ohne selbst in irgendeiner Weise davon betroffen zu sein, wird nun – und im Erleiden der späteren Grausamkeiten Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg – zum unmittelbaren Zeugnis der eigenen bedrohten Existenz. Sein individuelles Schicksal wird zum exemplarischen Ausdruck der Lebenswirklichkeit im katastrophischen 20. Jahrhundert.

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Museum

Zwischen Triumph und Desaster

Pressekonferenz zur Neuerwerbung
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main, Norbert Miguletz

Max Beckmann
Zwei Selbstbildnisse
Zwei Museumserwerbungen
– I –

Gute Nachrichten aus der Museumswelt kann es allein angesichts der verordneten Schließungen im Zuge der Pandemie-Bekämpfung zur Zeit kaum geben. Von laufenden Ausstellungen und ihren Besuchszahlen, die normalerweise die mediale Berichterstattung bestimmen, gibt es nichts zu vermelden. Umso erfreulicher, dass im Abstand von nur wenigen Wochen das Städel Museum in Frankfurt und die Hamburger Kunsthalle jeweils einen bedeutenden Zuwachs für ihre Sammlungen verkündet haben.

Erfreulich schon deshalb, weil so deutlich wird, dass hinter den Kulissen in den Museen nicht weniger los ist als zu Öffnungszeiten und weil der Fokus auf die Museumssammlungen selbst, auf die zentralen musealen Aufgaben des Sammelns, Bewahrens und Erforschens der Kunstwerke gelegt wird – ohne die wiederum keine vernünftige Ausstellung zu denken ist.

Bemerkenswert an den aktuellen Meldungen sind die Gemeinsamkeiten und die Beziehungen zwischen den Werken und den Umständen, unter denen diese nun endgültig in die öffentlichen Museen aufgenommen werden konnten.

Beide Gemälde sind von Max Beckmann. Der 1884 in Leipzig geborene und 1950 im Alter von 66 in New York gestorbene Maler, Zeichner und Grafiker gehört zu den großen singulären Gestalten der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die meisten seiner wichtigen Werke haben Eingang in die großen Museen Europas und der USA gefunden. Nicht viele davon sind noch in Privatbesitz.

Bei den Erwerbungen beider Museen handelt es sich um Selbstbildnisse des Künstlers. In der Reihenfolge der Neuerwerbungen: Das Selbstbildnis mit Sektglas von 1919 für das Städel in Frankfurt und das Selbstbildnis Florenz von 1907 für die Hamburger Kunsthalle.

Beckmann gehört zu den Künstlerinnen und Künstlern, für die die Selbstbefragung im Medium der eigenen Malerei herausragende Bedeutung hat. Entsprechend wichtig und begehrt sind seine Selbstbildnisse. Entsprechend teuer sind sie am Kunstmarkt. (Zwei prominente Beispiele sind: Selbstbildnis mit Glaskugel von 1936, im Jahr 2005 für € 13 Mio. € ($ 16.8 Mio.) und Selbstbildnis mit Horn von 1938, im Jahr 2014 für € 25,3 Mio. ($ 22,6 Mio.) versteigert, jeweils bei Sotheby’s).

Entsprechend schwer ist es, eines für ein öffentliches Museum zu gewinnen. Wie schwer, das zeigen weitere Gemeinsamkeiten der Umstände, die diese Erwerbungen erst möglich gemacht haben:

Beide Museen verfügen über einen bedeutenden Bestand an Werken von Max Beckmann, in den sich diese Gemälde inhaltlich bestens einfügen. Beiden Häusern waren die Selbstbildnisse schon seit vielen Jahren als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt und so auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden – im Städel seit 2011, in der Hamburger Kunsthalle sogar seit 1991.

Dieser Umstand und die daraus erwachsene Verbindung sowohl der Werke als auch ihrer Eigentümer*innen zum jeweiligen Museum und seinen Verantwortlichen war eine der wesentlichen Voraussetzungen für den Erwerb. Denn die Museen verfügen nicht über die finanziellen Mittel, Werke dieser Art am Kunstmarkt zu erwerben.

Das wurde auch eigens thematisiert: Beide Häuser haben in Ihren Verlautbarungen betont, dass die Eigentümer*innen ihnen beim Verkaufspreis außerordentlich entgegengekommen sind. Am freien Markt würde der Preis für die Werke im zweistelligen Millionenbereich liegen. Im Städel, das sich nicht zum Ankaufspreis äußerte, hieß es nur, er liege „deutlich unter“ dem zu erwartenden Marktpreis, in Hamburg wurden € 4 Mio. als Ankaufspreis genannt.

Trotz des Entgegenkommens waren beide Museen darauf angewiesen, für den Ankauf von verschiedenen Seiten Förderung zu erhalten. Zum Frankfurter Ankauf trugen bei: die Bundesregierung, die Ernst von Siemens Kunststiftung, der Städelsche Museums-Verein e.V., die aufgrund ihrer Beteiligung am Ankauf zu Miteigentümern wurden, sowie die Kulturstiftung der Länder und fünf private Spender.

„Ich bin sehr dankbar für diesen großen Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten. Nur dieses – für Frankfurt so typische – gemeinschaftliche Engagement hat es möglich gemacht, dass dieses Meisterwerk nun für immer dort bleiben kann, wo es auch entstanden ist.“

Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums

In Hamburg beteiligten sich die Stiftung Hamburger Kunstsammlungen und ebenfalls die Ernst von Siemens Kunststiftung am Erwerb, sind hier ebenfalls Miteigentümer. Unterstützt wurden sie von der Campe’schen Historischen Kunststiftung, der Kulturstiftung der Länder und der Hermann Reemtsma Stiftung.

Schließlich ist dieser Ankauf für beide Museen die jeweils teuerste Erwerbung, die sie überhaupt gemacht haben. Was noch einmal die bescheidenen Möglichkeiten der öffentlichen Museen in Deutschland verdeutlicht. Trotz ihres für deutsche Verhältnisse enormen Preises sind die Werke von Max Beckmann im internationalen Vergleich und im Verhältnis zu seiner kunsthistorischen Bedeutung geradezu günstig (man schaue sich zum Vergleich eines der aktuellen Rankings der teuersten Werke der Welt an).

Max Beckmann: Selbstbildnis Florenz, 1907, im Teppenhaus der Hamburger Kunsthalle
Foto: Hamburger Kunsthalle, Sinje Hasheider

Die Parallelität der Umstände, Ereignisse und Wege zum Erwerb dieser beiden Kunstwerke für öffentliche Museen steht also ebenso exemplarisch für deren finanzielle Situation und ihre völlig unzureichenden Ankaufsetats wie für die daraus erwachsene Förderkultur, in der die verschiedenen politischen Ebenen (Bund und Länder, Kommunen, öffentliche Körperschaften) mit öffentlichen und privaten Stiftungen (die sich entweder allgemein die Kulturförderung zur Aufgabe gesetzt haben oder sogar spezifisch die Förderung bestimmter Museen), mit den Fördervereinen der einzelnen Museen,  und schließlich engagierten Privatpersonen zusammenfinden, um es überhaupt möglich zu machen, wertvolle Kulturgüter für die Öffentlichkeit zu erhalten oder zu gewinnen.

„Das ist eine der bedeutendsten Anschaffungen für die Sammlung und ein spektakulärer Coup für die Hansestadt.“

Alexander Klar, Direktor der Hamburger Kunsthalle

Dass es häufig so gut funktioniert wie hier, ist wichtig und von großer Bedeutung für die Museen und für die gesamte Gesellschaft. Allerdings birgt gerade der Erfolg die Gefahr, dass an der strukturell ungenügende Situation der öffentlichen Kulturinstitutionen in Deutschland nichts geändert wird.

Beide Museen würdigen nun das Werk von Max Beckmann und diese Neuerwerbungen in gewichtigen Ausstellungen. Das Städel Museum zeigt mit Städels Beckmann – Beckmanns Städel. Die Frankfurter Jahre die enge Verbindung zwischen Beckmann und Frankfurt auf, wo er lange Jahre lebte, lehrte und bedeutende Werke wie das Selbstbildnis mit Sektglas schuf. (Bis 6. Juni 2021 – verlängert!)

Die Hamburger Kunsthalle widmet ihre Ausstellung Max Beckmann. weiblich – männlich den Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die in seinem Bildkosmos zum Ausdruck kommen. Es handelt sich in der Tat um ein zentrales Thema in seinem Gesamtwerk. (Bis 14. März 2021)

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Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Fortsetzung
– II –
Was sind Wolken?

Zum  vorhergehenden Teil geht es hier: 
Was ist eine Dampflokomotive?

So vielfältig, wie sie in Erscheinung treten, so unterschiedlich lassen sich Wolken beschreiben oder definieren. In ihrer Eigenschaft als Naturereignisse betrachtet, können sie zunächst beschrieben werden als Phänomene natürlicher Transformationen, für deren Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsbild physikalische Gegebenheiten wie verschiedene Gemengelagen von Luft, Wasser, Temperatur, Höhenlage etc. eine Rolle spielen.

Diese natürlichen Verwandlungsphänomene vollziehen sich kontinuierlich in wechselnden Geschwindigkeiten und Intensitäten, aber stets – sofern man nicht eine höhere steuernde Macht voraussetzt – ohne eigentlichen Zweck und jegliches Ziel.

Aufgrund dieser nicht zielgerichteten und unvorhersehbaren Transformationen standen Wolken seit jeher für das Ungefähre, das Ungreifbare, das Geheimnisvolle. Von daher bildeten sie stets Projektionsflächen und Assoziationspunkte für die menschliche Vorstellungskraft.

So wie der Nachthimmel mit zahllosen Figuren bevölkert wurde, indem sinnhafte Beziehungen zwischen den Sternen gestiftet worden sind, so regen auch die permanent neu entstehenden Formationen von Wolken immer wieder aufs Neue dazu an, Figuren und Bilder darin zu sehen. Wie aus den Sternbildern glaubten Menschen auch in Wolkenbildern Bedeutungen und Zeichen erkennen zu können. Etwa das Wetter vorhersehen oder gar Vorsehungen ableiten zu können.

„Die menschliche Phantasie hat den Himmel lebendig gemacht, hat ihn mit Gestalten und Figuren bevölkert…“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 25

Wobei der wesentliche Unterschied zwischen den Sternbildern und Wolkenbildern nicht aus den Augen verloren werden darf. Sterne sind für die menschliche Wahrnehmung statisch und dauerhaft, es sind für sie Fixpunkte, weshalb sie sich zur Orientierung eignen und Sternbilder unveränderlich erscheinen. So sind sie Sinnbilder für die stabile und sinnhafte Ordnung des Kosmos geworden.

Ganz anders die Wechselhaftigkeit der Wolken. Sie bringen unablässig wechselnde Bilder hervor, die sich in kürzester Zeit wieder verflüchtigen, um andere aufscheinen zu lassen. Sie steigen auf und sinken herab wie phantastische Welten. Wolken eignen sich daher in besonderer Weise als Metapher für die permanente – damit aber auch unterschwellig beunruhigende – Veränderlichkeit der Natur an sich.

Weil sie sich jeglicher Fixierung entziehen, schienen Wolken einer wissenschaftlichen Beschreibung lange Zeit nicht zugänglich – doch wie so oft in der Menschheitsgeschichte half eines Tages ganz schlicht die genaue Beobachtung der für jeden sichtbaren Phänomene durch ein einziges aufmerksames Individuum der Menschheit auf die Sprünge:

Im Dezember 1802 stellte der junge und damals noch vollkommen unbekannte britische Meteorologe Luke Howard seine Klassifikation der Wolkenformen vor. Mit dem von ihm vorgeschlagenen Beschreibungssystem von Wolken fand er höchste Beachtung, und es hatte durchschlagende Wirkung.

Noch heute bildet seine Klassifikation die Grundlage zur Bezeichnung und wissenschaftlichen Beschreibung von Wolken – natürlich modifiziert und weiter ausdifferenziert. Die von ihm gewählten Begriffe für die Wolken sind bald Gemeingut geworden. Stratus, Cumulus oder Cirrus oder Nimbus sagen nicht nur Meteorologen etwas.

Diese Bezeichnungen allerdings beschreiben bei Howard keine festgelegten Einheiten, sie definieren nicht eine spezifische Seinsweise seines Untersuchungsgegenstandes. Es sind Begriffe, die dazu verhelfen sollen, mit Worten die Erscheinungsformen dieser Phänomene in Bewegung zu fassen! Deshalb nennt er seinen Aufsatz auch: „On the modification of clouds“ – damit verweist er schon im Titel auf das zentrale Moment der Transformation.

Howard „gestand den Wolken ihre Mobilität zu, statt zu erwarten, dass sie der Wissenschaft zu Gefallen still hielten“, schreibt dazu der Wissenschaftshistoriker Richard Hamblyn in seinem erhellenden Buch Die Erfindung der Wolken. Wie ein unbekannter Meteorologe die Sprache des Himmesl erforschte, Insel Verlag 2001 (S. 141). Indem Luke Howard anerkannte, dass Auflösung und Entstehung eines sind, konnte er das Phänomen neu definieren, als „eine Serie von sich selbst auflösenden Vergänglichkeiten“ (S. 142).

Was heute als naheliegende Schlussfolgerung aus den Beobachtungen erscheinen mag, markiert historisch einen epochalen Schritt. Denn genau darin – in der Betonung des Ereignishaften und der permanenten Transformation – liegt das Besondere an Howards Vorgehen und Ergebnis. Dies war es, was ihm die Bewunderung einer ganzen Epoche einbrachte.

„Die Modifikation der Wolken war ein bedeutender neuer Gedanke, der die Zuhörer regelrecht überwältigte“

Richard Hamblyn, Die Erfindung der Wolken, S. 48

Howard formulierte seine Thesen in einer Zeit, in der Wolken auch in der Dichtung und Malerei allgemein ein herausragendes Thema waren. Dieser Zusammenhang gehört zu den häufig zu beobachtenden Konjunkturen in der Geschichte menschlicher Entdeckungen und Erfindungen, Fantasien und Fiktionen. Wolken hatten Eigenschaften, die in dieser Zeit sowohl das wissenschaftliche Interesse auf sich zogen als auch die schöpferische Imagination befeuerten:

Der Dichter Samuel Taylor Coleridge wohnte Howards Vortrag bei, um, wie er sagte, „seinen Vorrat an Metaphern zu erweitern.“ Nicht zuletzt hat Johann Wolfgang Goethe ihm mit „Howards Ehrengedächtnis“ einen ganzen Gedichtzyklus gewidmet, der dessen Wolkennamen Cirrus, Stratus, Cumulus, Nimbus aufnimmt.

Zahlreiche Maler wie John Constable und Alexander Cozens suchten nach adäquaten malerischen Formen zur Darstellung der Wandelbarkeit der Wolken – und hier trat zum ersten Mal in der Kunstgeschichte der frei schwebende, hingeworfene Fleck in den Fokus einer systematischen bildnerischen Ästhetik, der es nicht mehr um die Fixierung von Formen ging, sondern um die Verbildlichung der dynamischen Prozesse in Natur und Kunst als solcher. Ein einziger Blick auf das Gemälde Rain, Steam and Speed von William Turner offenbart die explosive Wucht dieses Prozesses.

Joseph Mallord Wiliam Turner: Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, 1844, Öl auf Leinwand, 91 x 121,8 cm. National Gallery, London

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Luke Howard wie die unterschiedlichen poetischen und malerischen Werke führen vor Augen, wozu eine genaue Beobachtung fähig ist, wie sie Ordnungsprinzipien und Wandlungsprozesse scheinbar chaotischer Erscheinungsformen aufdecken und anschaulich machen kann.

Gleichzeitig wird deutlich wie das Zusammenspiel von forschender Naturbeobachtung, schöpferischer Phantasie und menschlicher Kreativität wissenschaftliche Erkenntnis befördert, neue ästhetische Prinzipien und Formen ermöglicht und technische Erfindungen hervorbringt. Aus dieser Perspektive ist es kein Zufall, dass zu Beginn eben des Jahres 1802, in dem Howard die Erkenntnisse seiner Naturbeobachtungen präsentierte, der englische Ingenieur Richard Trevithick die erste Lokomotive der Welt zum Patent anmeldete und zum Laufen brachte.

Das allgemein um sich greifende Interesse für die Beobachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen, das sich in all diesen Entwicklungen manifestiert, ist selbst wiederum exemplarischer Ausdruck des fundamentalen Epochenwandels von der Neuzeit zur Moderne – einer neuen Zeit, für die nicht mehr die statische Ordnung der Sternbilder als Sinnbild taugt, sondern die rasante Wandelbarkeit der Wolken.

Fortsetzung folgt hier:  III – Kunstvolle Verwandlungen

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Kultur im politischen Raum

Wynton Marsalis: Dedication to the Cause of Democracy, Filmstill

Nach einigen Tagen des Zählens und langen Wartens ist am letzten Freitag das Ergebnis der Wahl zum nächsten Präsidenten der USA verkündet worden. Die Wahl ging zugunsten des demokratischen Präsidentschaftskandidaten aus, der damit dem derzeitigen Amtsinhaber im Januar folgen wird.

Kaum eine andere amerikanische Präsidentschaftswahl hat sowohl in den USA als auch in vielen anderen Staaten, insbesondere zahlreichen europäischen, die Gemüter derart erhitzt. Sie hat hier und dort die Menschen in höchsten Maße mobilisiert, was die enorme Wahlbeteiligung im Land ebenso zeigt wie die immense Teilhabe der Menschen und Medien im Rest der Welt.

Die ihr schon im Vorfeld zugeschriebene symbolhafte Wirkung und historische Dimension ist im aufgeheizten Klima während des Wahlgangs und der Auszählungstage mit steigender Intensität und Nervosität beschworen worden.

Diese symbolische Kraft bezieht diese Wahl daraus, dass im mächtigsten Land der Welt nicht nur zwei Kandidaten mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung zur Wahl standen, sondern entschieden wurde über den Fortbestand der amerikanischen Demokratie und der Geltung der Verfassung, der Gesetze und der Institutionen. Diese standen selbst auf dem Spiel.

So die allgemeine Wahrnehmung von all jenen, die darin die Grundlagen und Werte der amerikanischen Gesellschaft sehen – und diese Wahrnehmung fand ihre Bestätigung in eigentlich jeder der Regungen und Äußerungen sowie des gesamten Verhaltens des amtierenden Präsidenten.

In seiner Person, seinem Verhalten und seiner Amtsführung verkörperte sich und kulminierte das unheilvolle Potenzial dessen, was im Politischen als Populismus bezeichnet wird – eine politische Bewegung, die sich auf das demokratische Prinzip der Mehrheit beruft, aber darüber hinaus für die Regeln und Werte der demokratisch organisierter Gesellschaften keinerlei Anerkennung und Respekt zeigt. Im Gegenteil, diese sogar offen angreift.

In all den Jahren, in denen diese politische Tendenz ihre Wirkung entfaltet hat, ist auch die Frage akut geworden, wie sich die Kultur dazu verhält. Welche Rolle Kultur und Künste sowie die darin agierenden Menschen spielen sollen.

„The question that confronts us right now as a nation is: Do we wanna find a better way?“

Wynton Marsalis

Dazu ist es zunächst wichtig zu betonen, dass es „die“ Kultur so nicht gibt. So vielfältig wie die Menschen und ihr schöpferischer Ausdruck, so vielfältig die Haltungen und Meinungen all jener, deren Profession und Leidenschaft Kunst und Kultur sind – viele teilen Ansichten der Populisten und unterstützen deren Politik.

Auf der Suche nach substanziellen Beiträgen Kulturschaffender zum politischen Prozess lässt sich eines feststellen: Dort, wo sie sich außerhalb ihrer künstlerischen Medien äußern, mögen sie zwar mehr Resonanz bekommen als viele andere, doch haben ihre Beiträge nicht notwendig mehr Substanz und Relevanz.

Dort aber, wo sie sich auf ihr eigenes Medium besinnen – das künstlerische Bild, den literarischen Text, die Musik etc. – wo sie mit Wucht die Wirkung von Kultur und Kunst selbst entfalten können, leisten sie einen substanziellen Beitrag zur politischen Kultur einer Gesellschaft und für das Zusammenleben als Gemeinschaft.

In großartiger Weise gelungen ist dies Wynton Marsalis, seit Jahrzehnten weltweit einer der herausragenden Trompeter, mit dem Video Dedication to the Cause of Democracy, das er im Vorfeld der Wahl in den USA veröffentlichte und das auf Youtube zu sehen und zu hören ist.

„Jazz music is the perfect metaphor for democracy.“

Wynton Marsalis

Die Wahl des Ortes, seine Worte, die Musik und das eingeblendete Bildpanorama fügen sich zu einem künstlerischen Ausdruck, in dem sich alles, was auf dem Spiel stand, zu einem bezwingenden und berührenden Moment verdichtet.

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Wolken und Maschinen. Über die Betrachtung und Konstruktion mobiler Ordnungen

Gustav Kampmann: Eisenbahn am Abend, um 1895, Lithographie

– I –

Was ist eine Dampflokomotive?

Meine Kindheitserfahrungen unterscheiden sich – was niemanden wundern wird – wie die aller älteren und mit mir Gleichaltrigen in einigen Dingen von der jungen Generation, die jetzt aus der Schule kommt und in die Ausbildung geht, ein Studium beginnt, direkt in das Berufsleben einsteigt oder auch einen völlig anderen Lebensplan verfolgt.

In meiner Kindheit und Jugend gab es nur drei Fernsehprogramme. Deren Sendezeit begann ab etwa 17 Uhr und sie endete mit dem Sendeschluss nach Mitternacht. In den vielen Stunden dazwischen konnten wir uns ausführlich der Betrachtung des Testbilds hingeben, allerdings nur solange wie der dazugehörige Testton auszuhalten war (für all jene, die noch keine Gelegenheit dazu hatten, hier ein exemplarisches Testbild).

Es gab zwar die ersten Personal-Computer, doch kaum jemand in unserem Umfeld hatte davon genauere Kenntnis oder besaß gar einen. Die ersten Geräte dieser Art, die ich persönlich zu sehen bekam, waren ein ZX 81 und ein Commodore 64, die in der Oberstufe von Schulkameraden in den Physik-Unterricht mitgebracht wurden. Erst im Studium lernte ich den Umgang damit und erwarb meinen ersten eigenen Computer (auf Empfehlung meines besten Freundes einen, auf dem ein buntes Äpfelchen als Logo angebracht war).

Schließlich fand sich auch, gegen Ende meines Studiums, das Internet ein. Es gäbe noch einiges mehr aufzuzählen, ich möchte hier aber nur noch von einer Sache sprechen: Durch meine Kindheit fuhren alltäglich noch Dampflokomotiven.

Das war damals etwas sehr Aufregendes für uns Kinder. Ganze Nachmittage verbrachten wir damit, im Gras am Bahndamm sitzend auf den nächsten Zug zu warten, damit dieser dann wie all die anderen zuvor mit großem Lärm und dem charakteristischen rhythmischen Stampfen über uns hinweg stob.

Wir legten uns so nah wie möglich an die Gleise, und fest ins Gras gepresst, den Kopf hochgestreckt konnten wir so, da bei der Dampflok die Maschinerie außen sichtbar liegt, genau das Zusammenspiel des heftig und präzise treibenden Gestänges mit den gleichmäßig rollenden Rädern sehen. Drüber der dunkelschwarze Leib aus dem sich wiederum ein zumeist weißes und zunächst schmales, dann sich mit der Höhe ausbreitendes und farblich reicher schimmerndes Gewölk erhob.

Manchmal ging es steil, fast stehend nach oben, manchmal schien es schräg hinterhergezogen und einige Male sank es, dunstig und grau, aschenartig auf uns herab – dann rannten wir schnell raus aus der dunklen Wolke, weil das nicht ganz geheuer war.

Unter all dem, was mich damals faszinierte, ist mir immer besonders der immense Kontrast zwischen dem, was sich da ganz unten abspielte und dem, was sich da oben ereignete, in lebhafter Erinnerung geblieben.

Dass die Lokomotive einen Zug hinter sich zog und mit ihm Menschen von einem Ort an einen anderen – was schließlich der Zweck ihrer ingeniösen Konstruktion und das Ziel ihres Einsatzes war – kam mir kaum in den Sinn.

Hätte mich jemand gefragt, was eine Dampflokomotive ist, ich hätte geantwortet:
Eine Maschine zur Herstellung von Wolken.

– Fortsetzung folgt hier: Was sind Wolken?